Matthias Jenke

Fragmente


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anderen vorgeworfen, dass Bullen in seiner Nähe waren, als er das Maul aufgerissen hat. Einem solchen Bengel kann ich nicht vertrauen!“

      Er ging um den Tisch herum und ließ sich mit einem Seufzer in seinen Stuhl sinken. Er nahm den Hörer vom Telefon, wählte eine Nummer und wartete kurz. „Schickt jemanden, um den Müll abzuholen.“ sagte er dann und legte wieder auf.

      „Vielleicht hätte der Junge es mit der Zeit begriffen.“ sagte Marco. Er betrachtete Vinnie mit leisem Bedauern. Der Bengel war nicht der Hellste gewesen, aber ein guter Fahrer... Vielleicht hätte er noch ein paar ordentliche Dinger drehen können.

      „Wie soll ich einem solchen Kerl glauben?“ fragte Tony gereizt. „Ein solcher Typ wird immer versuchen, sich rauszureden. Nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Hat sein Leben lang versucht, den leichten Weg zu gehen, und wenn es hart kommt, lässt er andere den Kopf hinhalten. So einer ändert sich nicht!“

      „Man kann nie wissen…“ warf Marco ein.

      „Was willst du?“ rief Tony aufgebracht.

      „Dein Onkel.“ sagte Marco. „Salvatore.“

      Salvatores Weg war eine Familienlegende: In jungen Jahren unbedacht und nie um eine Ausrede verlegen, wenn es darum ging, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber er hatte sich gefangen. Und zwei Jahrzehnte war er ein respektiertes und gefürchtetes Oberhaupt der Familie gewesen.

      „Oh.“ sagte Tony und kratzte sich nachdenklich über die Bartstoppeln.

      Natascha

      Als er die Tür öffnete war es längst zu spät. In wenigen Minuten würden sie kommen, um den „Boss“ zu warnen, aber dann hatte er getan, weswegen er gekommen war.

      Der Mann hinter dem großen Schreibtisch sah auf, als er das dunkle Büro betrat und die Tür sanft hinter sich schloss. Ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Bauch, mit einem groben, pockennarbigen Gesicht in dem eine breite Nase über den wulstigen Lippen thronte, überschattet von buschigen, durch und durch ergrauten Augenbrauen. Die kleinen, dunklen Augen erinnerten an Schweineaugen. Ihr Blick war durchdringend und stechend. Ein hässlicher, grausamer Mann, den er nur als „Boss“ kannte.

      Der „Boss“ erhob sich aus seinem Stuhl,.

      „Der Bomber.“ sagte er mit tiefer, brummiger Stimme. Voll aufgerichtet war er massiv wie ein Bär, und trotz seiner mehr als 60 Jahre war er kräftig und beweglich. Er schüchterte andere durch seine bloße Anwesenheit ein. „Hans, der Bomber. Was machst du hier, Junge?“

      Hans reagierte nicht auf den gereizten Ton. Er baute sich stumm auf der anderen Seite des Schreibtisches auf und fixierte den alten Mann. Mit 1,96 m und 115 kg trainierten Muskeln war er selbst eine beeindruckende Erscheinung.

      „Du siehst schlimm aus, Junge.“ brummte der „Boss“ und betrachtete ihn aufmerksam. Die Schrammen und Blutergüsse, die noch von dem Unfall herrührten; das blaue, fast schwarze, Auge; der Verband um seinen Kopf. Sein Blick wanderte weiter über die Blutspritzer auf seiner Brust, hinab zu der Pistole mit Perlmuttgriff in seiner rechten Hand.

      „Das ist doch die Knarre von Emil.“ sagte er. Sein Blick war wachsam, aber noch war keine Angst darin zu erkennen. „Hat er sie dir freiwillig gegeben?“ Ätzender Spott in der Stimme.

      „Er braucht sie nicht mehr.“ antwortete Hans. Seine Stimme war rau. Er hatte Schwierigkeiten, die Worte zu formen. Schmerzen benebelten sein Gehirn, und er wurde schwächer. Er verlor Blut durch die Wunde in seinem rechten Bein.

      „Was willst du damit?“

      „Dich umlegen!“ Hans hob den Arm und richtete die Waffe auf den Kopf des alten Mannes.

      „Du kommst hier nicht mehr raus, Bomber.“ sagte der leise, bedrohlich. „Wenn du jetzt abdrückst, sind meine Leute hier, bevor du durchatmen kannst. Lass uns reden.“

      „Es gibt nichts zu reden.“ antwortete Hans dumpf.

      Jenseits der Tür wurden Stimmen laut. Aufruhr im Haus. Also hatten sie Ludwig gefunden. Ihm blieben nur noch Sekunden.

      „Du hast keine Zeit mehr, Junge. Sie sind gleich hier. Nimm die Knarre runter und lass uns reden. Dann schauen wir, was ich für dich tun kann. Wir haben uns doch immer gut verstanden.“ Seine Stimme hatte einen kumpelhaften Ton angenommen.

      „Du hast keine Zeit mehr.“ entgegnete Hans.

      „Sie werden dich umlegen!“ drohte der „Boss“, als draußen Schritte laut wurden.

      „Ich bin schon tot!“ sagte Hans kalt. „Das ist für meine Frau!“

      „Deine Frau?“ fragte der „Boss“. Verwirrung erschien in seinem Blick; dann drückte Hans den Abzug und das Geschoss durchschlug den Kopf des alten Mannes. Verwirrung mischte sich mit Unglauben – dann brach sein Blick und er sackte in sich zusammen.

      Noch bevor der leblose Körper zu Boden gefallen war, wurde die Tür aufgerissen.

      Hans drehte sich um. Drei Männer standen ihm gegenüber, Pistolen im Anschlag.

      „Boss!“ rief einer von ihnen.

      Die anderen schossen.

      Hans spürte Kugeln, die seinen Körper durchschlugen und brach zusammen. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Es war in Ordnung. Seine Augen wurden schwer. Die drei Männer waren nur noch undeutliche Schemen.

      Dann war es vorbei.

      Heftiger Schmerz holte ihn zurück. Er schrie laut auf. Sein Körper brannte wie Feuer. Er wollte sich winden und konnte nicht, also schrie er noch einmal. Schmerzen, Panik! Er riss die Augen auf, presste die Lider aber sofort wieder zusammen, als helles Licht seinen Kopf durchstieß wie glühender Stahl.

      „Wer hat dich geschickt?“ Die Stimme kam aus weiter Ferne, wie durch Watte.

      Dann wieder unbeschreiblicher Schmerz, der seinen ganzen Körper mit heißem Licht anfüllte, und wieder schrie er laut auf. Er wollte ohnmächtig werden, wollte den Schmerz vergessen, aber es ging nicht. Er blieb in seinem Körper gefangen.

      „Wer hat dich geschickt?“ wiederholte die Stimme. Näher. Ganz nah. Sie zischte ihm ins Ohr.

      Wieder öffnete Hans die Augen, und diesmal gelang es ihm, sie offen zu halten. Er sah undeutliche Schemen. Nach und nach wurden diese Schemen fester und gewannen Konturen. Formen bildeten sich, Unterschiede zwischen hell und dunkel wurden deutlicher, bis er sah, wo er sich befand.

      Ein kahler Raum mit Betonwänden; vielleicht ein Kellerraum, damit niemand seine Schreie hörte. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und erfüllte den Raum mit unerbärmlicher Helligkeit. Neben ihm, auf einem kleinen Tisch, ein Kasten mit mehreren Reglern, von dem Kabel abgingen und an seinen Armen, seinen Beinen, seiner Brust endeten.

      „Warum hast du den Boss umgelegt?“

      Ein sehniger Kerl stand vor ihm, die Hände auf seinen Unterarmen abgestützt, das hässliche Rattengesicht vor ihm. Er schnaubte ihm seinen stinkenden Atem ins Gesicht. Das war die Stimme, die ihn aus der Dunkelheit zurückgeholt hatte.

      „Und Ludwig?“

      „Nicht nur die beiden.“ knurrte Hans. Sein Hals brannte und seine Lippen brachen auf, als sie die leisen Worte formten. Er schmeckte den metallischen Geschmack seines eigenen Blutes. Aber er genoss den kurzen Ausdruck des Erschreckens auf dem Rattengesicht.

      „Du willst spielen? Kannst du haben.“ Der Kerl griff zur Seite und drehte an einem der Regler.

      Das Licht an der Decke flackerte.

      Hans wurde wieder von einer gleißenden Explosion von innen heraus in Stücke gerissen, und er schrie und schrie…

      Richie hatte er als erstes erwischt. Im Dunkeln hatte Hans vor seinem Haus gewartet. Die Adresse hatte er aus Emil herausgeprügelt.

      Als er die schmächtige Gestalt aus einem