Matthias Jenke

Fragmente


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in einer heruntergekommenen Gegend. Eine ganze Batterie von Müllcontainern bot ausgezeichnetes Versteck.

      Pfeifend ging Richie zu einer Haustür und schloss auf.

      Hans spürte Hass in sich aufsteigen und begrüßte ihn wie einen guten Bekannten. Ein Gefühl in der Wüste seines Inneren.

      Bevor die Tür ins Schloss gefallen war, hatte Hans sie mit leisen Schritten erreicht und hielt sie offen. Er lauschte den Schritten des anderen, die sich pfeifend über die Treppe nach oben entfernten. Er schlüpfte durch den offenen Spalt und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Ein vernehmliches Klicken hallte durch das Treppenhaus.

      Das Pfeifen verstummte für einen kurzen Augenblick, setzte aber wieder ein.

      Auf leisen Sohlen lief Hans zur Treppe und stieg sie angespannt empor.

      Richie wohnte im dritten Stock, und er hörte, wie ein Schlüssel in ein Schloss geschoben wurde. Richie schloss auf, betrat die Wohnung und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Das Pfeifen war verstummt.

      Hans lief die Treppe hinauf. Emils Pistole steckte in seinem Gürtel, das Metall drückte kalt gegen seinen Bauch. Er hatte noch keinen Schuss daraus abgefeuert.

      Dann stand er vor Richies Tür. Hinter dem dünnen Holz konnte er hören, dass der Mann noch immer pfiff.

      Er klopfte.

      Das Pfeifen verstummte; Schritte näherten sich, und der Lichtschimmer im Türspion verdunkelte sich. Hans wartete mit pochendem Herzen.

      Auf der anderen Seite wurde die Kette vorgelegt, die Tür öffnete sich einen Spalt, und Richies junges Gesicht tauchte vor ihm auf. Die blonden Haare standen unordentlich in alle Richtungen, die blauen Augen schauten misstrauisch.

      „Bomber?“

      „Überrascht?“ fragte Hans knurrend, nahm einen Schritt Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Mit der Fußsohle traf er sie direkt unterhalb des Türknaufs. Die Kette wurde mit einem lauten Krach aus der Wand gerissen und die Tür schlug Richie gegen die Brust. Der schmächtige Mann wurde nach hinten geschleudert, die Tür knallte gegen die Wand des Flurs.

      Mit zwei Schritten stand Hans über dem erschrockenen Mann, packte ihn am Kragen und drückte ihm die Pistolenmündung aufs linke Auge.

      „Bomber…“ keuchte Richie erschrocken. „Was…“

      „Das ist für Natascha!“ knurrte Hans und drückte den Abzug. Der Knall war ohrenbetäubend. Im Lichtblitz des Mündungsfeuers leuchtete Richies Kopf von innen her auf, bevor der Schädel barst und Blut, Knochen und Gehirn herausspritzten.

      Benommen blieb Hans einen Moment über den Leichnam gebeugt. Dann raffte er sich auf, streckte sich, wischte sich Blut und anderes aus dem Gesicht und verließ die Wohnung.

      Er lief durch das Treppenhaus hinunter.

      Im ersten Stock öffnete sich eine Tür, als er gerade an ihr vorbeilaufen wollte, und eine alte Frau streckte den Kopf heraus. Die anderen Nachbarn waren klug genug gewesen, sich nicht zu rühren, aber die Alte sah ihm direkt ins Gesicht und wurde bleich. Sie würde ihn identifizieren können!

      Hans hob die Waffe und zielte auf ihr Gesicht.

      Die Frau schien unfähig, sich zu bewegen.

      Hans rang mit sich, sein Finger krümmte sich… und entspannte sich wieder. Er senkte die Pistole. Er war kein Killer; er tat nur, was getan werden musste.

      „Verschwinden sie!“ zischte er. „Vergessen sie, was sie gesehen haben!“

      Die Alte nickte benommen und schloss die Tür.

      Hans sprang die letzten Stufen hinab und rannte aus dem Haus.

      Es hatte zu regnen begonnen. Zuerst hatte es nur ein bisschen getröpfelt, aber dann war der Regen stärker geworden und hatte sich schließlich zu einem regelrechten Wolkenbruch entwickelt. In wenigen Sekunden war Hans vollkommen durchnässt. Die Luft war kalt, und er zitterte.

      Er lief so schnell er konnte, um seinen Körper warm zu halten, aber die Folgen des Unfalls machten ihm zu schaffen. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden; jeder Knochen, jedes Gelenk, jeder Muskel bereitete ihm Schmerzen; sein Kopf schien zerspringen zu wollen.

      Die Hände an die Schläfen gepresst, lief er weiter. Er wollte sich hinlegen und die Augen schließen. Er wollte sich lang ausstrecken, einschlafen und nie wieder aufwachen. Sein Körper wollte so tot sein wie sein Herz und seine Seele es schon waren. Nur der Gedanke an Natascha trieb ihn voran. Er konnte ihr nicht mehr helfen. Er konnte sie nur rächen.

      Er lief weiter, und der Regen spülte Richies Überreste von ihm ab.

      Wie lange er gelaufen war, wusste er nicht. Aber als er an der Villa angelangte, in der Ludwig und der „Boss“ ihre Büros hatten, als wären sie gewöhnliche Geschäftsleute, hatte es schon wieder aufgehört zu regnen. Er hatte fast die ganze Stadt durchquert. Es mussten Stunden vergangen sein, was bedeutete, dass die Polizei sie schon von Richies Tod unterrichtet hatte. Der „Boss“ hatte seine Finger überall drin.

      An allen Ecken des Gebäudes sah er Kameras, und mit Sicherheit gab es eine Alarmanlage. Heimlich einzudringen war nicht möglich; er musste den direkten Weg wählen.

      Er stellte sich vor die Haustür und klingelte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

      Die Tür öffnete sich und ein großer, grobschlächtiger Kerl in Anzughose und Hemd stand mit aufgekrempelten Ärmeln vor ihm. In einem Schulterholster trug er eine Waffe: einer der Leibwächter.

      „Bomber.“ sagte der Kerl überrascht, als er Hans erkannte.

      „Ist Ludwig da?“ fragte Hans heiser. Im hellen Lichtschein des Hausflurs war Richies Blut noch immer zu erkennen; aber der Leibwächter schien das nicht zu bemerken.

      „Sicher…“ antwortete der Kerl langsam. „Hör mal, das mit deiner Frau ist echt ’ne Schande. War ein nettes Mädel. Den Jungs und mir hat es wirklich leid getan, weißt du?“

      „Kann ich mit ihm sprechen?“ unterbrach Hans ihn. Er musste sich zusammenreißen, dem Kerl nicht an die Gurgel zu springen.

      „Du weißt, dass du hier nur rein darfst, wenn er dich herbestellt hat. Und das hat er nicht getan!“ Noch immer schwang eine Spur Mitgefühl in seiner Stimme mit. Aber die Worte klangen endgültig.

      „Es ist wichtig! Ich muss zu Ludwig!“

      Hans trat einen Schritt nach vorne.

      „Ich kann fragen.“ sagte der Leibwächter zögernd. Zum ersten Mal schien er zu bemerken, in welchem Zustand Hans vor ihm stand. „Mann, siehst du Scheiße aus. Ich… he, tut mir leid, war nicht so gemeint. Ich kann mal nachsehen, ob Ludwig ’nen Moment Zeit hat.“

      Unwillkürlich hatte er bei diesen Worten nach hinten geschaut. Das war die Gelegenheit, auf die Hans gewartet hatte: wie ein wütender Bulle stürmte er nach vorne. Der Leibwächter bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel und warf sich zur Seite, die rechte Hand schon am Griff der Pistole, um sie aus dem Holster zu ziehen. Seine Reflexe waren sehr gut, und er war schnell. Aber Hans war schneller. Seine rechte Faust traf den Mann wie ein Vorschlaghammer an der Schläfe, und der Kerl stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

      Hans schloss eilig die Tür hinter sich und schob den bewusstlosen Körper zur Seite. Es war ihm gleichgültig, ob er den Mann verletzt hatte oder nicht. Solange er nur ein paar Minuten ohne Bewusstsein blieb, reichte es aus. Er hatte nicht vor, das Haus wieder zu verlassen. Ohne Natascha gab es nichts, für das es sich zu leben lohnte.

      Mit dem Knauf der Pistole schlug er dem Mann noch einmal kräftig gegen die Schläfe. Dann schaltete er das Licht aus und lief gebückt und auf leisen Sohlen durch den Eingangsbereich. Er kannte den Weg, seit er voriges Jahr einmal zum „Boss“ eingeladen worden war. Ludwig hatte ihn zunächst in einem Büro empfangen und ihn dann