Matthias Jenke

Fragmente


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aus. Ihre Haltung war unnatürlich. Ihr Kopf lag auf dem Airbag. Überall war Blut.

      Hans’ Augen schlossen sich wie von selbst wieder.

      ‚Natascha?’ dachte er. Er wollte es aussprechen, konnte aber nicht. ‚Natascha? Bist du da?’

      Dann Schwärze.

      „Wie fühlen sie sich?“

      Hans öffnete die Augen. Sein Kopf schmerzte und sein Körper fühlte sich müde und schwer an, wie am Morgen nach einem Kampf. Benommen sah er sich um. Kahle Wände, Metallgestänge an seinem Bett, eine fremde Umgebung. Er war zu müde, um überrascht zu sein, obwohl er das Gefühl hatte, überrascht sein zu müssen. Vielleicht später.

      „Sie waren ziemlich lange weg.“

      Der Mann trat neben sein Bett, um ihn anzuschauen. Mittelgroß, sportlich. Er trug einen einfachen, grauen Anzug; das Jackett war aufgeknöpft, das hellblaue Hemd und die rote Krawatte ein wenig zerknautscht.

      „Wo…“ krächzte Hans. Sein Mund war trocken; sein Hals schmerzte. Er konnte die Frage nicht zu Ende stellen.

      „Wo sie sind?“ stellte der Mann die Frage für ihn, während er ein Glas nahm und aus einer Flasche etwas Wasser einschenkte. „Im Krankenhaus, Herr Reimers.“

      Er half Hans, sich aufzusetzen und gab ihm dann das Wasserglas.

      „Langsam trinken.“ sagte er. „Sie waren drei Tage ohne Bewusstsein. Sie müssen sich fühlen wie ausgekotzt.“

      Hans nahm vorsichtig ein paar Schlucke. Das Wasser wirkte Wunder. Sein Mund und sein Hals entspannten sich, und er konnte schlucken.

      „Drei Tage?“ fragte er dann heiser. „Wieso?“

      „Erinnern sie sich nicht?“ fragte der Mann. Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete Hans aufmerksam. „An gar nichts mehr?“

      „Erinnern?“ murmelte Hans verwirrt. Sein Kopf pochte stärker und die Benommenheit schien zuzunehmen. Nataschas Gesicht tauchte kurz vor ihm auf. Natascha… blutüberströmt und mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an, verschwand dann aber wieder. „Natascha.“ flüsterte er fassungslos. Dann sah er zu dem Fremden auf. „Was ist mit meiner Frau?“

      „Man wird ihnen erzählen, es sei ein Unfall gewesen, Herr Reimers.“ sagte der Mann vorsichtig.

      „Unfall? Was ist mit meiner Frau? Wer sind sie?“

      „Mein Name ist Krug.“ stellte der Mann sich vor. „Ich bin Kriminalkommissar. Mordkommission.“

      „Mord…? Was…?“

      „Erinnern sie sich wirklich an nichts, Herr Reimers?“

      „Was ist mit Natascha?“ fragte Hans heiser. Dann schrie er es heraus: „Was ist mit meiner Frau?“

      „Ihre Frau ist tot.“ sagte Krug mit leiser Stimme. Er schien sich auf einen Ausbruch vorzubereiten, aber Hans sackte in sich zusammen. Diese Worte hatten ihn mit ungeheurer Wucht getroffen. Nataschas blutüberströmtes Gesicht tauchte wieder vor ihm auf. Er sah sie auf dem Fahrersitz, eingeklemmt zwischen Rückenlehne und Airbag, sah ihre unnatürliche Haltung – und wusste, dass der Mann die Wahrheit sagte.

      „Tot.“ flüsterte er kraftlos.

      „Man wird ihnen erzählen, es sei ein Unfall gewesen. Hören sie?“ Krug legte ihm eine Hand auf den Arm und sprach eindringlich. „Aber das stimmt nicht! Es war kein Unfall!“

      „Was?“ Er blickte Krug ins Gesicht und zum ersten Mal, seit er die Augen aufgeschlagen hatte, schien sich der Schleier der Benommenheit ein wenig zu lüften.

      „Woran erinnern sie sich?“ fragte Krug erbarmungslos.

      „Ich… Wir saßen im Auto.“ Hans konzentrierte sich, aber er sah nur Bruchstücke vor sich. „An der Ampel. Sie wurde grün. Wir fuhren los… und dann… alles durcheinander… ein Unfall…“

      „Kein Unfall!“ unterbrach Krug ihn. „Auch wenn ihnen das alle erzählen werden. Ihre Frau wurde erschossen, Bomber!“

      „Was?“ fuhr Hans auf.

      „Ich werde ihnen erzählen, was geschehen ist. Ich will, dass sie bescheid wissen! Sie sind Hans Reimers, Boxer im Schwergewicht, Ringname ‚Der Bomber’. Sie haben Kontakte zu gewissen Leuten, die – sagen wir es mal so – das Gesetz auf ihre eigene Art auslegen. Sie wissen, von wem ich spreche?“

      „Der ‚Boss’.“ murmelte Hans.

      „Und sein Stellvertreter. Ein Mann, den sie als Ludwig kennen. Diesen beiden sind sie ein Dorn im Auge, Bomber. Man wollte sie loswerden.“

      „Loswerden?“ fragte Hans verständnislos. „Ich bin Boxer! Ich bin Sportler! Ich stehe doch niemandem im Weg…“

      „Der ‚Boss’ hat einen Neffen.“

      „Nico.“

      „Der boxt.“ stellte Krug fest und ließ Hans Zeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

      „Aber der Junge hat nichts auf dem Kasten!“ sagte Hans verständnislos.

      „Wie sie mehrfach öffentlich betont haben.“ nickte Krug. „Diplomatie ist nicht ihre Stärke, Bomber. Habe ich Recht? Mit dem Kopf durch die Wand. Immer den geraden, den direkten Weg. Der ‚Boss’ ist sauer, dass sie seinen Neffen durch den Kakao gezogen haben. Er will den Jungen aufbauen, will ihn groß raus bringen. Da kann er es nicht gebrauchen, wenn man in den eigenen Reihen quer schießt.“

      „Es hieß, er habe eine Überraschung für mich…“ fiel ihm wieder ein, was er Natascha erzählt hatte.

      „Ich würde sagen, die haben sie bekommen.“ Krugs Lächeln war kalt und zynisch.

      „Aber…“

      „Der ‚Boss’ und Ludwig haben entschieden, sie aus dem Weg zu räumen, Bomber. Das weiß ich aus sicherer Quelle. Und sie haben einen Typen namens Richie ausgesucht, die Sache zu erledigen. Kennen sie den Mann?“

      „Mal gesehen.“ murmelte Hans. Sein Gehirn weigerte sich, die Informationen zu verarbeiten. Wie konnte sein, was Krug ihm erzählte? Natascha hatte ihn gebeten, sich nicht zu sehr mit dem „Boss“ und seinen Leuten einzulassen, aber als Boxer war das gar nicht einfach…

      „Richie hat Mist gebaut.“ fuhr Krug unnachgiebig fort. „Sie sollten auf jeden Fall draufgehen. Ihre Frau war den Leuten gleichgültig. Aber er hat ihre Frau erschossen, und sie haben den Unfall mit ein paar Prellungen und blauen Flecken überlebt. Sie hatten einen tüchtigen Schutzengel, Bomber.“

      „Meine Frau…“ flüsterte Hans. Er konnte an nichts anderes denken als an Nataschas Gesicht. An die Freude, als sie über ihre neue Wohnung gesprochen hatte. An das Blut, als sie auf dem Airbag lag. „Meine Frau war schwanger.“ sagte er leise.

      Krug zögerte einen Augenblick. „Ich weiß.“ sagte er dann leise, die Stimme voller Mitgefühl. „Ist bei der Autopsie herausgekommen.“

      Ein oder zwei Minuten schwiegen sie.

      „Was werden sie unternehmen?“ fragte Hans schließlich.

      „Nichts.“ antwortete Krug zerknirscht.

      Hans war fassungslos. „Was?

      „Ich bin von dem Fall abgezogen worden. Man hat ihn mir weggenommen! Offiziell war es ein Unfall. Ein anderer Wagen – Fahrer betrunken, ohne Kontrolle über sein Fahrzeug – ist über Rot gerast und auf der Kreuzung von links in ihr Auto gekracht. Ihre Frau starb noch an der Unfallstelle, sie selbst hatten unbeschreibliches Glück. Der Fahrer des Unfallwagens wurde schwer verletzt und liegt derzeit in einem Koma, aus dem er möglicherweise nicht mehr erwacht. Das ist die offizielle Version, die man ihnen erzählen wird, Herr Reimers. Der Rest kann zwar bewiesen werden, wird aber unter den Teppich gekehrt!“

      „Ich verstehe nicht…“