Hazel McNellis

Der Schatten Deiner Seele


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Luftstrom wehte ihnen entgegen. Sie trug den Atem kühlen Gesteins, abgestandener Feuchte und etwas anderes mit sich. Kieran konnte den Geruch nicht eindeutig zuordnen. Er legte sich jedoch schwer auf die Schleimhäute.

      »Bereit?«

      Kieran nickte.

      Schon nach wenigen Schritten verengte sich der Tunnel und zwang sie, hintereinander zu laufen. An dieser Stelle tauchten endlich ein paar Fackeln auf. Sie brannten schwach, warfen aber genügend Licht an die schwarzen Wände, um dem Weg zu kennzeichnen. Anders als im Elfenreich verströmten sie nicht den charakteristischen Geruch von Feuer und verbranntem Trolldung. Kieran sah sie genauer an und erkannte eine Art geruchlos leuchtenden Stein in den Aussparungen der Felsen. Stirnrunzelnd folgte er seinem Führer tiefer in den Berg hinein. Der Tunnel verengte sich weiter. Sie krümmten sich, um hindurch zu gelangen. Kieran schnaufte.

      »Wer hat sich diese Konstruktion erdacht?!«, brummte er. Sein Begleiter lachte.

      »Das wissen die Götter.«

      Der Luftstrom verstärkte sich und strich ihnen über ihre verschwitzten Hälse und Gesichter. Die bleierne Schwere löste sich und machte einer frischeren Kühle Platz.

      Der unterirdische Gang wurde breiter und höher. Schließlich mündete er in eine Art Halle. Sie ähnelte jener der Hüter in seiner Welt. Hier aber sah er kein dickes Bündel roter Fäden. Der Saal lag vollkommen verlassen vor ihnen. Sand bedeckte den Boden. Wandhalter enthielten vereinzelt leuchtende Steine. Ein spärlicher, orange wirkender Lichtschein erhellte die Umgebung. Trotz des Schimmers auf Wänden und Boden herrschte eine bedrückende Atmosphäre im Raum.

      »Wo sind die Wächter?«, fragte Kieran. Sein Begleiter antwortete nicht. Er trat bereits den Rückzug an und war drauf und dran, ihn in dieser sandigen Höhle allein zu lassen. Ihm blieb keine Zeit, um sich mit dem flüchtenden Wanderer zu befassen. Ein Geräusch drang an sein Gehör. Kieran neigte den Kopf und runzelte angestrengt die Stirn, um den Ursprung besser ausmachen zu können. Da sah er es schon.

      Ein dünnes Rinnsal feinsten Sandes rieselte von der in Schatten verborgenen Decke herab und in die Mitte der Halle. Dort oben herrschte absolute Finsternis. Das hatten dieser Ort und die heilige Stätte in seiner Welt gemeinsam.

      Korn für Korn türmte sich der Sand auf. Der Nomade hinter ihm war kaum noch im Tunnelgang auszumachen.

      Am liebsten wäre er ebenfalls geflüchtet. Bevor alles einstürzte und er unter Sand begraben wurde. Stattdessen verharrte er an Ort und Stelle, die Hand am Griff des einzigen Dolches, den ihm die Wüstenwanderer überlassen hatten.

      Das Rieseln veränderte sich, wurde lauter, summte und brummte, wie in einem Bienenstock. Eine kräftige Vibration durchzog die Halle und fuhr ihm durch sämtliche Glieder.

      Schließlich fiel das letzte Sandkorn herab. Es glitzerte, als würde es von einer eigenen Lichtquelle angestrahlt. Trotz der Ungewissheit wuchsen die Faszination und das Interesse in ihm und er trat einen Schritt vor. Kieran starrte auf den unförmigen Haufen vor sich. Er hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen.

      Der Sand bewegte sich, bildete Wölbungen und Erhebungen, wo vorher keine waren. Plötzlich stürzte es in sich zusammen wie bei einem Ballon, aus dem die Luft entwich. Ein dumpfer Ton folgte der Bewegung. Er dröhnte grollend durch Kierans Adern. Hilflos sank er auf die Knie und presste sich die Hände auf die Ohren. Jedes einzelne Sandkorn strahlte lichterloh, sodass er kaum noch hinsehen konnte.

      Er hielt sich einen Arm vor das Gesicht, um den grellen Lichtschein zu mildern. Gleichzeitig versuchte er, den Sand im Blick zu behalten. Die Sandkörner rollten wie winzige Murmeln in seine Richtung. Das Grollen verstummte.

      Kieran stolperte zwei Schritte zurück. Dabei griff er hastig nach dem Dolch in seinem Hosenbund und stieß gegen eine der Sandmauern. Erschrocken blickte er um sich. Die Wände rückten näher. Eine andere Erklärung hatte er nicht. Überall schossen rote Fäden aus den sandigen Mauern. Aus jeder Ritze kamen sie hervor, wickelten sich blitzschnell um seine Gliedmaße. Sie umklammerten ihn, fixierten ihn an Ort und Stelle. Der Druck, den sie auf ihn ausübten, nahm zu. Sie umwickelten die Handgelenke wie bösartige Schlangen. Er zischte vor Schmerz. Die Fäden rissen seinen Arm zurück. Er prallte hart gegen die Mauer und die einzige Waffe entglitt seinen Fingern.

      »Was passiert hier?«, rief er.

      Sein Begleiter war längst auf und davon. Nur das leise Echo der eiligen Schritte war noch hörbar, ehe es einen Moment später verklang und Stille sich breitmachte.

      »Was soll das?«, ertönte eine Stimme, deren Lautstärke ihm in den Ohren schmerzte. »Was willst du?«

      Kieran zerrte an den Fesseln, aber sie gaben nicht nach.

      »Ich suche die Hüter«, keuchte er.

      Die Fäden drückten stärker gegen seine Gelenke.

      »Warum bist du hier?«, ertönte die Stimme um ihn herum.

      »Ich brauche Antworten!«

      Der Sand veränderte sich. Die Körner erhoben sich vom Erdboden wie Insekten, schwirrten durch die Luft und umkreisten einander wie ein aufgebrachter Bienenschwarm. Wind toste durch die Halle und erzeugte einen Sandsturm.

      Kieran kniff die Augenlider zusammen. Die Sandkörner fügten sich zu einer Gestalt. Ein funkelnder Wirbelsturm umhüllte sie für die Dauer eines Wimpernschlags. Dann wurde es erneut still in der Halle.

      Der Wächter unterschied sich von jenen Auserwählten, die im Reich der Elfen das Vermächtnis der Fäden hüteten. Dieser hier hatte nicht das Aussehen eines Mönchs oder geflügelten Dunkelelfen. Der Mann näherte sich ihm mit gemächlichen Schritten. Er trug einen Umhang, der über den Boden glitt und eine Spur im Sand hinterließ. Perlen zierten den Stoff und ließen ihn bei jedem auftreffenden Lichtstrahl funkeln wie die Sandkörner vorher. Der Saum war mit roten Fäden durchsetzt.

      Der Hüter betrachtete ihn mit sandig-gelben Augen.

      »Welche Fragen führen dich zu mir, Elfenkönig?«

      Das ohrenbetäubende Dröhnen blieb aus. Nun klang dieses Wesen nahezu menschlich. Einzig ein leises Knirschen, als hätte er Sand zwischen den Zähnen, begleitete die Silben.

      »Du weißt, wer ich bin?«

      Ein überhebliches Grinsen verzog die dünnen Lippen des Hüters. »Ich bin der Wächter in dieser Welt. Ich weiß, dass du nicht hierhin gehörst, Kieran Maktùr.«

      »Dann kannst du mir vielleicht-«

      »Zeit und Raum sind keine Spielzeuge. Wir schicken nicht wahllos Leute von einer Welt in die nächste.«

      »Der Tod schreckt nicht davor zurück.«

      Der Hüter lachte. Es klang wie das Schleifen von Metall. Kieran fröstelte.

      »Der Tod ist ein Narr, ein trotziges Kind, das sich weigert, der Natur zu folgen.«

      »Aber er bedroht meine Welt!«

      »Drohgebärden, lächerlich.« Der Wächter seufzte und die Fäden um Kierans Gelenke lösten sich etwas. »Nichts anderes ist von dem alten Knochenmann zu erwarten.«

      »Was meinst du damit?«

      Die Sandaugen musterten ihn. Er trat näher und streckte die Hand aus. Die Finger des Sandmanns waren lang und schmal mit spitz zulaufenden Nägeln. Eine Fingerspitze fuhr über Kierans Umhang. Auf Brusthöhe hielt er inne. Ein dunkles Grollen hallte bebend durch die Halle.

      »Woher hast du das?«, knirschte er. In seinen Augen glitzerte Sand wie Hunderte Dolchspitzen.

      »Weißt ausgerechnet du das nicht?«, spottete Kieran in Elfenmanier, ehe er sich hindern konnte.

      Prompt zogen sich die Fesseln wieder zu. Sie schnürten ihm die Gliedmaße ab, die ohnehin kribbelten oder völlig taub waren. Der Hüter brachte sein Gesicht so nahe an ihn heran, dass er die sandigen Poren deutlich sehen konnte. Jede Einzelne mutierte zu einer Spitze, scharfkantig wie der Dolch zu seinen Füßen.

      »Vorsicht, minderwertige Kreatur«, grollte der Wächter. In seinen Augen tobte ein Sandsturm. »Du darfst den Zwirn nicht besitzen.«

      »Aber