Hazel McNellis

Der Schatten Deiner Seele


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Sie sind fest mit der natürlichen Ordnung verbunden. Du kannst ihn nicht behalten. Gleichgültig, was der Grund sein mag.«

      »In meiner Welt gab es einen Verräter unter den Hütern. Der Tod raubte den Faden von ihm, um seine eigenen Ziele zu verfolgen und sein Schattenreich auszudehnen«, platzte es aus Kieran heraus. »Wenn ich diesen Faden verliere, verliere ich jede Verbindung zu meinem Reich!«

      Der Sandmann musterte ihn. Dann schüttelte er den Kopf. »Es gibt keine Ausnahmen.«

      Kierans Blick glitt an dem Wächter vorbei. Entlang der Wände tauchten weitere Hüter auf. Allein die Schlichtheit ihrer Umhänge unterschied sie vom Sandmann vor ihm.

      »Schön!«, knurrte Kieran. »Aber was ist mit dem Tod, hm? Er will nicht nur mich umbringen. Er will die Schleier heben und das Schattenreich über jede Welt bringen. Er hat kein Interesse daran, einzelne Leben zu nehmen. Er fordert mehr.«

      »Das ist unmöglich. Der Tod ist nicht in der Lage, sein Reich derart auszubreiten. Wir Hüter tragen die Verantwortung für die Schleier zwischen den Sphären. Wir wachen über die Fäden, die die Welten wie Adern durchziehen. WIR schützen die natürliche Ordnung im Universum, nicht der Knochenmann.«

      »Ihr seid Narren, wenn ihr das denkt.« Erneut zerrte er an den Fesseln, die rot wie Blut schimmerten. Er durfte nicht zulassen, dass der Hüter den magischen Zwirn und alle Macht bei sich behielt. Wie sonst sollte er je wieder zu Ariana durchdringen? Er brauchte den Faden. Es war seine einzige Chance.

      Der Sandmann packte Kierans Umhang und griff zielsicher in die Tasche und beförderte den Faden in einer fließenden Bewegung hinaus. Selbstgefällig hielt er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

      »Dieser Faden gehört zurück in die heilige Ordnung. Geh und finde deine Bestimmung, Elfenkönig. Deine Fragen sind beantwortet.«

      Die Fäden lösten sich von ihm und krochen wie Schlangen in die Mauern zurück. Kieran stolperte von der Wand weg, auf den Hüter zu, und stürzte mit einem rauen Schmerzenslaut auf die Knie. Seine Füße waren taub. Er hatte kein Gefühl mehr in den Fingern, deren Kuppen sich bereits hellblau färbten. Sein Atem wirbelte Sand auf. Das intensive Kribbeln, das seine Glieder befiel, ließ ihn stöhnen. Es fühlte sich an, als steckte er Hände und Füße in einen Ameisenhaufen. Mehrmals schüttelte er sie aus und drückte sie gegen seine Brust.

      Dann zwang er sich auf die Knie und auf die Füße zurück. Er biss die Zähne zusammen und stolperte zum Hüter herum. Der stand bloß da und musterte ihn. Natürlich war der Versuch Wahnsinn. Schließlich war er ein Wächter, seit Jahrhunderten dazu auserkoren, in diesen heiligen Hallen zu wandeln.

      Aber er brauchte den Faden zurück.

      Kieran stolperte vorwärts. Er umklammerte das Handgelenk des Sandmanns und griff mit der anderen Hand nach der Faser. Sie schimmerte immer noch zwischen den Sandfingern. Fast konnte er sie zwischen seinen eigenen Fingern spüren.

      Da rieselte es und das Gelenk des Wächters zerfiel zu Sand. Fassungslos starrte er ihn an. Sein Blick glitt zum Gesicht des Sandmannes, der den Faden seelenruhig im Umhang verstaute.

      »Wenn ich ihn nicht bekomme, sind alle verloren«, sagte Kieran. »Mein Reich, mein Bruder ...«

      »Die Sklavin?«

      Er zuckte zusammen.

      »Wir Hüter wissen um den Lauf der Zeit. Uns ist wohlbekannt, dass du dich zu einer Menschenfrau aus einer anderen Welt – einer Minderen in deinem Reich – hingezogen fühlst. Dass du dich entgegen der Natur in sie verliebt hast.«

      Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Alle Erfahrungen der letzten Jahrhunderte mahnten ihn zur Vorsicht. Doch der Herzschlag in seiner Brust, die qualvoll pochende Erinnerung an Ariana trieben ihn hitzköpfig vorwärts.

      Der Hüter wich rieselnd zur Seite hin aus.

      »Du willst zu dieser Menschenfrau. Um jeden Preis. Jede jämmerliche Zelle verlangt, dieser Minderen nahe zu sein. Du willst zu ihr, weil dein einfältiges Herz dir so gebietet. Weil du immer noch nicht erkannt hast, welche Rolle du in der Ordnung einnimmst. Du brennst für sie.«

      Er starrte den Wächter an, die Fäuste geballt und die Zähne angespannt zusammengebissen.

      Der Hüter fuhr fort: »Was ist mit deiner Heimatwelt, Kieran Maktùr? Was ist mit den Elfen dort? Mit all den Missständen? Der Sklaverei? Warst du nicht derjenige, dem dieser Zustand nicht behagte? Der nicht wagte, sich seinem eigenen Volk zu widersetzen, obwohl du ihr Gebieter warst? Willst du die Menschenfrau, an die du dein Herz so fest gehängt hast, wieder mitnehmen ins Elfenreich? Was soll aus dieser Prinzessin werden, die du liebst?«

      Kieran sah zu Boden. Widerstrebend gestand er sich ein, dass der Hüter in dem Punkt recht hatte. Er durfte den Emotionen nicht leichtfertig nachgeben, wenn so viel mehr auf dem Spiel stand. Er dachte an das schwarze Nichts, das seine Welt bedrohte. An all die Menschen, die für die Elfen arbeiteten. All die Brandmale, die Zeichen der Zugehörigkeit auf ihren Leibern ...

      »Ich muss sie wiedersehen.«

      »Das sollst du.«

      Sein Kopf fuhr hoch. »Wie?«

      Der Sandmann lächelte.

      Der Sand toste um Kieran herum und hüllte ihn ein.

      Er wollte schreien, dem Sandsturm trotzen und gleichzeitig entgehen. Der Sand wirbelte um ihn her, wirbelte ihn umher – und brachte den Wandel. Er bemerkte es tief in seinem Inneren. Sie entrissen ihm etwas Entscheidendes. Und er konnte nichts dagegen tun.

      Der Sturm legte sich. Die Hüter waren fort. Ebenso der Sand und die Halle. Es gab keine Fäden um ihn herum, keine Anzeichen für die Wüste. Stattdessen hockte er mitten auf einer belebten Straße mit groben Pflastersteinen, die vom Regen nass glänzten. Die Menschen um ihn herum starrten befremdet auf ihn herab. Einige flüsterten miteinander, andere schüttelten den Kopf. Wieder andere wandten hastig den Blick ab.

      Er setzte sich auf und bemerkte dabei seine bemitleidenswerte Erscheinung. Er trug einen fadenscheinigen groben Umhang in dreckigem Braun am Leib – mehr nicht. Entsetzen und Beschämung stellten sein Empfinden auf den Kopf. Hektisch raffte er den dünnen Stoff um sich. Er schwankte, ihm schwindelte kurz, und er taumelte zwei Schritte zur Seite. Dort prallte er mit einem Mann zusammen, der ihn murrend von sich stieß.

      Das Pflaster unter seinen nackten Sohlen war schmierig, kaltnass und finster wie die Nacht. In der Ferne hörte er Marktschreier Handelsware anpreisen. Die Häuser waren ihm fremd. Wo war er gelandet?

      Er hatte diesen Ort niemals zuvor gesehen.

      Woher kam er?

      Wie sah sein Leben aus?

      Wer war er?

      Verzweiflung wallte in ihm auf. Er runzelte aufgebracht die Stirn. Er zerbrach sich den Kopf, hielt ihn fest umklammert, als könne er seine Erinnerung auf diese Weise zurechtrücken.

      Und doch fand er keine Antworten.

      Wie war sein Name?

      Er hatte keine Ahnung.

      All seine Erinnerungen waren zu einem dunklen Loch mutiert, das alles verschluckte und im Geheimen hielt. Es gab sie noch, das fühlte er. Sie existierten. Gleichzeitig fiel ihm überhaupt nichts ein. Diese Erkenntnis führte ihn unumstößlich zu den beiden nächstliegenden Fragen: Was war mit ihm passiert und was sollte er jetzt tun?

      03 – Wissen

      Die Dunkelheit wich zurück, um dem neuen Tag Platz zu schaffen. Vor dem Fenster prasselten die Regentropfen auf das Gestein des Palastes. Ariana lauschte einem Augenblick dem steten Klopfen und Rauschen. Am Horizont lockerte die Wolkendecke bereits auf. Sobald die Sonne sich zeigte, würden sie und Fionn umziehen. Der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie waren seit zwei Wochen verheiratet, aber all die Zeit mit dem breiten Ring am Finger änderte ihre Gefühle nicht.

      Sie liebte ihren Ehemann nicht, würde es nie.

      Er war ihr bester Freund.

      Ihr Vertrauter.

      Immer wieder