Hubert Mergili

Das Tor nach Andoran


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sich zu lassen, und nach vorne zu schauen. Mit einem leisen Ächzen erhob sich der alte Mann, mit seinem langen bis auf die Brust herabfallenden weißen Bart.

      Seine schneeweißen Haare, die langsam dünner wurden, reichten ihm bis auf die Schultern herab. Auf seinem am oberen Ende gebogenen Stab gestützt ging Julian in das Haus zurück.

      Vor der langen Truhe, die unter dem Fenster neben dem Eingang in einer Ecke stand, blieb er stehen. Mit dem Stab angelte er sich einen der Hocker und ließ sich darauf nieder. Es bereitete ihm einige Mühe den schweren Deckel der Kiste anzuheben, doch als er den Inhalt erblickte, fingen seine Augen zu glänzen an.

      Mit einem Seufzer rückte er den Hocker näher an die Kiste, damit er besser deren Inhalt betrachten konnte. Nachdenklich strich Julian mit den vom Alter runzligen und fleckigen Händen über den oben liegenden verblichenen ausgewaschenen braunen Umhang.

      Seine Rückenmuskeln strafften sich und mit einem Ruck setzte sich Julian gerade hin. Sein Blick wanderte zu dem Rechteck des Fensters, in dem man schon ganz deutlich die Abenddämmerung erkennen konnte. Der Inhalt der Truhe mahnte Julian, seine vermutlich letzte große Aufgabe in seinem Leben in Angriff zu nehmen.

      „Die Suche nach einem Nachfolger“

      Viel zu lange schon schob er diese Pflicht vor sich her, obwohl ihn die mahnende Stimme in seinem Inneren dazu drängte. Aber es war keine leichte Aufgabe, die auf die Schnelle erledigt werden konnte, denn sein Nachfolger musste einige Eigenschaften mitbringen, die er unbedingt vorweisen sollte.

      Er musste eine gehörige Portion Mut, den Glauben an das Übernatürliche und absolute Verschwiegenheit mitbringen. Zudem benötigte sein Nachfolger einen wachen Verstand und körperliche Kraft, um die Aufgaben, die auf ihn warteten zu bewältigen.

      Julian nahm den alten Umhang aus der Truhe und legte ihn auf den aufgeklappten Deckel. Unter ihm kamen ein Jagdbogen aus Eschenholz und ein Jagdmesser zum Vorschein. Beides legte er behutsam neben die Truhe auf die Bretter des Fußbodens. Mit seinen Fingern tastete er weiter suchend zwischen der Kleidung und anderen Gegenständen nach dem dicken Buch.

      Seine Hände spürten unvermittelt weiches Leder, über das Julians Finger liebevoll und ehrfürchtig glitten. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, bei denen auch nach so vielen Jahren eine oberflächlich verheilte Wunde aufgerissen wurde.

      Der Jagdanzug aus feinem Hirschleder fing bei der Berührung in seinen Händen zu vibrieren an. Er schien nach all den Jahren noch Reste der Magie zu beherbergen, mit denen er einst in Berührung kam.

      Doch Julian wusste, dass es nur die Erinnerungen waren, die seine Hände zitternd machten. Rasch schob er den Anzug beiseite und setzte seine Suche nach dem Buch fort. Julian fand es zuunterst in der Truhe zwischen Hosen und Hemden. Er nahm es heraus und legte es auf seine Oberschenkel. Dieses Buch erhielt Julian vor langer Zeit von seinem Lehrer, obgleich es ihm erschien, als wäre es erst gestern gewesen. Dieser weihte ihn in die Geheimnisse des Buches ein und bestimmte Julian zu seinem Nachfolger. Seine Augen schweiften zu dem Rechteck des Fensters und seine Gedanken glitten in weite Ferne.

      Er musste an den Tag denken, als Gandulf sein Lehrer in sein Leben trat. Gandulf und der Troll Granak hatten sein Dasein mit einem Schlag verändert. Und nicht zuletzt das Einhorn, das mit einem gewaltigen Knall in sein Leben trat. Dieses Ereignis gab seinem bisherigen Leben eine Richtung, an die er zu dieser Zeit nicht in seinen kühnsten Träumen gedachte hätte.

      Seufzend packt Julian die Sachen, bis auf den Umhang wieder in die Kiste zurück. Dann schreckte ihn ein Klopfen an der Türe auf.

      »Meister Julian es wird Zeit. Die Sonne ist schon untergegangen und die Leute warten ungeduldig auf Euch. Sie wollen Eure Geschichten hören.«

      Julian klappte den Deckel zu und rief zur Tür hin. »Komm rein Junge, ich bin gleich so weit.«

      In der Tür erschien ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren mit einer Laterne in der Hand. Er hielt die Lampe hoch über den Kopf, um die Dunkelheit im Haus besser ausleuchten zu können. Als er den Raum betrat, sah er sich nach Julian um.

      »Gleich bin ich so weit Gerwin,« sagte Julian von der Truhe her.

      Er verschloss die Truhe und erhob sich von seinem Hocker, streifte seinen alten löchrigen Umhang ab und warf sich den aus der Truhe über.

      »Gerwin mein Junge, das Fest hat gerade erst begonnen. Meine Zuhörer laufen sicher nicht weg, weil ich mich ein bisschen verspäte.«

      Ein Lächeln huschte über Gerwins Jungengesicht.

      Gerwin hatte den Mann sofort ins Herz geschlossen, als der ihn bei sich aufnahm. Er klopfte vor über einem halben Jahr völlig abgerissen und zerlumpt an Julians Tür. Halb verhungert, in schmutzige verschlissene Kleidung gehüllt, bettelte er um ein Stück Brot.

      Julian gab dem hohlwangigen, abgemagerten Jungen mit dem krausen blonden Kopfhaar zu essen. Während dieser sein Essen heißhungrig in sich hinein schaufelte, fragte ihn Julian über das woher und wohin aus.

      Wie sich herausstellte, kam Gerwin aus Baud, einer Stadt, die zehn Tagesreisen im Süden lag. Er war vor den Schlägen und Misshandlungen seines Stiefvaters geflohen.

      »Lieber sterbe ich, als noch einmal zu diesem Sadisten zurückzugehen,« hatte ihm Gerwin beteuert und so nahm Julian den Jungen in sein Haus auf. Überall erzählte er den Dorfbewohnern, die es hören wollten, dass Gerwin von einer weit entfernten Verwandten stamme. Da der Junge keinen anderen Verwandten habe, kümmere er sich jetzt um Gerwin.

      Seither sorgte sich Gerwin um das Haus, hielt es sauber und half Julian, wo er nur konnte.

      »Dann lassen wir sie nicht länger warten,« sagte Julian mit leiser Erregung in der Stimme. Er nahm seinen Stab auf und folgte Gerwin, der mit der Laterne vorausging. Inzwischen war es dunkle Nacht geworden. Der Lärm des Festes drang bis zu ihnen herauf, als sie die kleine Anhöhe hinab ins Dorf gingen.

      Begleitet von begeisterten und anfeuernden Zurufen, trafen Julian und Gerwin auf dem Dorfplatz ein. Zurufe wie, „Julian setze Dich zu uns“ oder „welche Geschichte wirst Du heute zum Besten geben“, begrüßten die Leute ihn.

      Levin der Dorfvorsteher kam auf sie zu und führte Julian zu seinem Platz am Tisch der Dorfältesten. Kaum hatte er an dem reichlich gedeckten Tisch Platz genommen, als sich die Dorfjugend vor dem Tisch versammelte. Mit Händeklatschen und aufmunternden Rufen forderten sie Julian auf, eine seiner zahlreichen Geschichten von sich zu geben.

      »Langsam Kinder,« rief ihnen Julian belustigt zu. »Gönnt einem alten Mann den Genuss eines saftigen Bratens und er wird euch mit einer unterhaltsamen Geschichte belohnen. Ich erzähle euch eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hat. In ihr spielen Einhörner Zwerge Trolle Mantikore und Harpyien mit, aber auch Menschen. Sie ist etwas traurig, ein bisschen lustig, und lehrreich zugleich.«

      Erwartungsvolle Spannung auf die kommende Erzählung legte sich über den Dorfplatz. Die jüngeren Kinder setzten sich in einem Halbkreis vor seinem Tisch. Geduldig warteten sie ab, bis Julian seinen Braten fertig gegessen hatte. Endlich war es dann so weit. Julian wischte sich den Mund mit einem Tuch ab, wobei sein Blick durch die Runde ging.

      »Seid Ihr nun bereit meine Geschichte zu hören,« fragte er laut, sodass es auch jeder verstand.

      Begeisterte Zustimmung schlug dem Alten entgegen und alle Bewohner forderten ihn durch den einstimmigen Zuruf, „Ja wir sind bereit“ auf, mit der Erzählung zu beginnen.

      Julian erhob sich und wanderte wie jedes Mal, wenn er eine Geschichte zum Besten gab, durch die Reihen seiner Zuhörer. So bemühte er sich, seinen Erzählungen, durch Gebärden und Bewegungen noch mehr Leben einzuhauchen.

      »Vor langer, langer Zeit nicht weit von Elveen entfernt ……,«

      begann Julian seine Geschichte mit klarer fester Stimme zu erzählen. Seine Hand machte eine ausladende Bewegung in Richtung der Hügel, ehe er weiter sprach, »trug sich Folgendes zu …………

      Gebannt hingen die Zuhörer an den Lippen des alten Mannes. Sie tauchten in ihrer Fantasie in die Geschichte