Hubert Mergili

Das Tor nach Andoran


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      Kapitel 2

       Riana

       Andoran

      Das donnernde Grollen der Hufe ließ die Erde erzittern und in einer Staubwolke tauchte eine Herde Einhörner auf, die im rasenden Galopp über den Hügel hinwegfegte. Die Herde hielt auf eine bewaldete Erhebung zu, die ihnen Schutz vor ihren Verfolgern versprach. Abgekämpft und erschöpft lief Riana, eine junge Stute neben ihrer Mutter Servina her.

      Servina machte sich Sorgen um ihre Tochter und die Gefährten der Herde, denn lange konnten sie dieses Tempo nicht mehr halten. Ihre Tochter und die anderen brauchten unbedingt eine Ruhepause, sonst würden sie alle vor Erschöpfung zusammenbrechen.

      Servinas Lungen brannten bei jedem Atemzug, den sie tat, und sie konnte sich vorstellen, was ihre Tochter durchmachte bei dem mörderischen Tempo, das sie seit fast zwei Tagen hielten. Servina geriet ins Straucheln, fing sich jedoch sofort wieder. Die Wunde, die ihr einer der Hunde bei dem Überfall beibrachte, schmerzte, beeinträchtigte und schwächte sie.

      An jenem Nachmittag vor zwei Tagen schlichen sich finstere Kreaturen unbemerkt von ihnen an die friedlich grasende Herde heran und fielen mit ihren furchterregenden Hunden über sie her. Nur mit Glück gelang es der Herde von Servina geführt, diesem Überfall zu entgehen.

      Die kleinen bärtigen, in schwarzes Leder gekleideten Kreaturen gaben aber nicht auf und verfolgten sie unerbittlich. Es grenzte an Magie, dass sie der Herde überhaupt folgen konnten. Ihre pockennarbigen Gesichter zu Fratzen verzerrt jagten sie die Herde, bis an den Rand der Erschöpfung. Einmal gelang es den Kreaturen nahe genug an die Herde heranzukommen, dass Servina ihren abstoßenden Gestank den sie verbreiteten wahrnehmen konnte. Sie rochen nach Verwesung, Leder und Fäulnis.

      Den meisten Schrecken unter der Herde verbreiteten die Hunde, welche die Kreaturen bei ihrer Jagd mit sich führten. Sie waren groß wie ein neugeborenes Fohlen und aus ihrem Maul, das mit einem furchterregenden Gebiss ausgestattet war, rann der Geifer über ihre Schnauzen.

      Das erstaunliche Tempo, welches die Hunde bei der Verfolgung der Herde halten konnten, hinderte die Jäger nicht im Geringsten. Spielend liefen sie mit ihren zu kurz geratenen Beinen hinter den Hunden her, ohne das geringste Zeichen der Erschöpfung zu zeigen.

      Die bewaldete Erhöhung tauchte vor ihnen auf und Servina verringerte ihre Geschwindigkeit, um ihre Herde vorbeizulassen. Mit argwöhnischen Blicken beobachtete sie die wellige Landschaft, um nach den Verfolgern Ausschau zu halten. Nur wenige Büsche und Bäume wuchsen in der weiten Savanne, die hinter ihr lag und so hatte sie einen freien Blick um die Verfolger rechtzeitig zu erspähen.

      Erst als Servina sich sicher war, dass keine der Kreaturen zu sehen war, tauchte sie in den lichten Wald ein und suchte nach ihrer Tochter.

      Servina lebte mit der Herde in einer parallelen Welt, die sie vor den Nachstellungen der anderen Bewohner Andorans schützte. Es gab nur einen der wusste, wie man das magische Tor in ihre Welt öffnete. „Kisho“

      *Machte er seine Drohung war?* Servina durchlief ein Zittern, das nicht von der Erschöpfung der tagelangen Flucht herrührte, sondern von dem eisigen Schauer hervorgerufen wurde, der ihr Herz zu lähmen drohte. Kisho einst selbst Mitglied der Herde wurde ausgeschlossen und vertrieben, nachdem er die abscheulichste Tat begangen hatte, die ein Einhorn tun konnte. Er tötete einen gleichaltrigen Hengst, der ihn wegen seines rabenschwarzen Fells gehänselt hatte. Daraufhin versammelte sich die Herde und beschloss einstimmig Kishos Verbannung.

      Vor seinem Abzug sprach Kisho jedoch eine Drohung aus, die sich nun zu erfüllen schien. »Das werdet ihr bereuen. Der Tag wird kommen, an dem ihr um euer Leben zittern müsst. Ich werde euch alle töten.«

      Kisho verließ die Welt der Einhörner durch das magische Tor und geriet in Vergessenheit, was Servina nachträglich für einen großen Fehler hielt.

      Die Bösartigkeit des Überfalls und die tagelange Verfolgung ließen nur diesen Schluss zu. Nur Kisho wusste, wie man einem Einhorn seine magische Kraft raubte, um es gefahrlos zu töten. Ihrer Verhaltungsweise nach wussten auch die kleinen Kreaturen, die sie jagten um diesen Umstand.

      Ein erschöpftes Einhorn verlor seine magischen Kräfte und Servina musste nicht ihre Fantasie bemühen, um zu wissen, dass ihnen nur eine kurze Atempause vergönnt war. Servinas Ziel lag in den Bergen, wo die Herde in der Grotte der tausend Lichter in Sicherheit vor den Kreaturen war. Diesen Ort kannte nur sie. Hier gab es Magie, die es ihr ermöglichte die Verfolger zu täuschen und in die Irre zu führen.

      Auf der Suche nach Riana sah Servina die anderen Mitglieder der Herde ausgepumpt und apathisch im Gras liegen. Servinas Herz krampfte sich zusammen und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. *Wir werden alle sterben. Was wir dringend nötig haben, ist eine längere Rast, damit wir wieder zu Kräften kommen. Aber diese Gelegenheit werden wir nicht bekommen.*

      So sehr es Servina auch schmerzte, aber es gab nur eine Möglichkeit, um wenigstens Riana vor dem unabwendbaren Schicksal zu bewahren.

      *Ich muss meine Tochter vor Kisho schützen und in Sicherheit bringen.*

      Servina fand Riana in einer kleinen Senke abseits der anderen erschöpft im Gras liegen. Rianas Atem ging keuchend und stoßartig und sie hatte ihre Augen geschlossen.

      »Du musst trinken meine Tochter,« gebot Servina und deutete auf das durch die Senke fließende Bächlein, aber Riana bewegte sich nicht.

      Servina stieß Riana mit ihren Nüstern aufmunternd an, doch Riana hatte nicht die Kraft aufzustehen. Servina legte sich neben Riana ins Gras. Sie wusste, sie musste sich schnell entscheiden, denn wenn die Kreaturen mit den Hunden sie erst fanden, blieb keine Zeit mehr zu überlegen. Noch zögerte sie, aber es musste sein.

      »Höre mir gut zu Tochter, was ich dir zu sagen habe. Bald reichen meine Kräfte nicht mehr und ich will, dass du dir jedes meiner Worte einprägst,« hörte Riana die eindringliche Stimme ihre Mutter sagen.

      »Sie werden uns alle töten,« vernahm Riana die leise Stimme Servinas,« doch ich werde es nicht zulassen, dass die Kreaturen des Barons auch dich töten.« Servina schnaubte verhalten, als sie der gehetzte Blick ihre Tochter streifte, die sie ängstlich fragte. »Wer sind diese Männer warum tun sie das? Weshalb wollen sie uns alle töten, wir haben ihnen doch nichts getan.« Leise, fast unverständlich antwortete Servina. »Diese Kreaturen sind die Helfer des schwarzen Barons, welcher sich der uns innewohnenden Magie bemächtigen will. Er wird nicht eher ruhen, bis er auch das Letzte von uns getötet hat, oder was noch schlimmer ist, in seiner Festung gefangen gehalten wird. Warum glaubst du lässt er uns von seinen Leuten so hetzen? Ein erschöpftes Einhorn kann seine Magie nicht mehr einsetzen, weil es sie sonst umbringen würde.«

      Riana bebte am ganzen Körper bei der Vorstellung an das Schicksal, das ihrer Herde drohte. Währenddessen sprach Servina weiter, um Riana vom schwarzen Baron zu berichten.

      »Der Baron ist eine grausame machtbesessene Kreatur. Vor langer Zeit war er einer von uns, daher kennt er jede unserer Stärken, aber leider auch unsere Schwächen. Doch ich werde nicht zulassen, dass er dich in seine Fänge bekommt.«

      Servinas Stimme vibrierte, als sie fortfuhr.

      »Kisho wurde in unserer Herde geboren, doch sein pechschwarzes Fell machte ihn zu einem Außenseiter. Selbst sein Vater Alron brachte ihm keine Liebe entgegen, weil Welina seine Mutter bei seiner Geburt ins jenseitige Reich einging. Sein schwarzes Fell gab immer wieder Anlass zu Reibereien unter den Jungtieren, die ihn ständig deswegen hänselten. Eines Tages geriet Kisho so in Wut, dass er ein Mitglied der Herde tötete. Nach langer Beratung mit den Ältesten sprach der Anführer das Urteil über Kisho, der wegen seiner abscheulichen Tat aus der Herde ausgestoßen wurde. Bevor Kisho jedoch die Herde verließ, sprach er eine tödliche Drohung aus in der er ankündigte, alle Einhörner zu vernichten.« Servina machte eine kurze Pause um ihre Worte auf Riana wirken zu lassen, dann beschrieb sie die vergangenen Ereignisse weiter.

      »Kisho ging in die Welt der Menschen hinaus und nahm deren Gestalt an. Einhörner können für einen bestimmten Zeitraum jede beliebige Gestalt