Jenna Jonsen

Das tränende Herz


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vor mich hin. Mein hellblaues Baumwoll-Schlafshirt war pitschnass, fast zum Auswinden bereit, die oliv-gestreifte Bettdecke aus weichem Satin ebenso. Das Kopfkissen lag zerknittert am Boden. Ich konnte nur die Umrisse im Dunkeln erkennen. Wieder durchlebte ich eine dieser scheinbar endlosen Nächte, die sich in letzter Zeit mehr als genug häuften. Es war eine dieser Nächte, in der mich der seltsame, zermürbende Traum verfolgte. Ich fühlte mich zerstreut. Mein Kopf schien wie von einem D-Zug überrollt. Seitdem ich klein war, ungefähr sieben Jahre alt, träumte ich beinahe jede Nacht denselben Traum…

      …von einem düsteren schwarzen Ritter auf seinem stolzen, braunen Hengst, wie er mit lautem Hufschlag auf mich zugeritten kam. Sein Gesicht erkannte ich nie, der schwere, eiserne Helm wusste es gut zu verbergen. Sein schneller Atem und das laute Pferde-Gewieher übertönten kurzzeitig wiederholend die angespannte Situation. Er trug einen laut klimpernden Sack glänzender Goldstücke bei sich, der an seinem schwarzen Gürtel, aus geflochtenem Rindsleder, hing. Ich griff nicht nach seiner mächtigen, in eiserne Klumpen gepackte, Pranke, die nach der Meinigen zu greifen versuchte, ich streckte meine Rechte nach dem Sack voll Gold aus. Mit Müh und Not erreichte er meine Hand und zog mich hurtig auf sein Pferd. Affenartig klammerte ich mich um seine Lenden, so furchtbar fest, dass sich das Muster seiner schweren, eisernen Rüstung deutlich in der Haut meiner beiden dünnen Unterarme abzeichnete. Gemeinsam ritten wir entlang der Festung, an dessen weiß-rote Fensterläden aus Holz ich mich gut erinnerte. Wieder und wieder spiegelte meine Traumwelt die gleichen Szenen, an ein- und demselben Ort. Und dann endete die Träumerei, immer schlagartig an gleicher Stelle…

      …und das seit Jahren, nein, seit über einem ganzen Jahrzehnt.

      Wie fanatisch versuchte ich, in einem eigenen Ritual, jeden Abend vorm zu Bett gehen, meine Träume auf Biegen und Brechen zu beeinflussen. Dass das keineswegs funktionierte, begriff ich aber recht zügig. Zu wissbegierig schien ich über dessen Bedeutung inklusive Fortsetzung. »Es muss doch irgendetwas aussagen, nicht umsonst wiederholen sich diese Szenarien in meinem Unterbewusstsein, Nacht für Nacht, seit Jahren!«, war ich demnach felsenfest überzeugt. Doch jedes Buch, das mir über Traumdeutung oder ähnliche Thematiken durch die Finger rutschte, führte zu einem anderen Entschluss. Ich hätte also genauso gut einen Glückskeks kaufen und mich auf den Spruch in seinem Innenleben verankern können, so vielfältig und unsicher waren die jeweiligen Bedeutungen gewesen.

      Eine Weile in meinem Leben verfolgte er mich nicht, dieser eiserne Kerl, sogar eine ganze Zeit lang. Ob er mir nach einem gewissen Prinzip, auf beruhendem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung bestimmter Ereignisse, wie in einer Art Kausalzusammenhang, den Schlaf raubte? Anfangs fühlte ich mich, als wäre ein immens bedeutender Teil von mir verloren gegangen, später war ich dennoch heilfroh, dass den nächtlichen Träumereien, samt unkontrollierbaren Schweißausbrüchen und ekelhaftem Zahngeknirsche, ein Ende gesetzt war. Und plötzlich war er wieder da…

      …der Traum…

      …dieser Ritter aus meiner Kindheit…

      …der mir mit den Jahren und zunehmendem Alter vertrauter geworden war. Früher versetzte er mich, mit seinem dominanten, düsteren Auftritt, in Angst und Schrecken. In meinen Träumen schuf ich mir einen »Flucht-Button« für Notsituationen, in denen es brenzlig wurde oder ich starke Angst verspürte. Das klappte in der Regel ganz gut, meist zumindest.

      Bis jetzt…

      Wieder war ich klitschnass. Mein Körper zitterte von der ersten Haarwurzel meines Oberkopfes angefangen, bis in die letzte Nervenzelle des kleinen Zehs. Ich hörte mich im Schlaf wirres, zusammenhangloses Zeug nuscheln, dann öffnete ich blitzschnell erschrocken, mit fest zusammengebissenem Ober- und Unterkiefer, meine Augenlider…

      Mein Hals war pfurztrocken, ich konnte kaum mehr schlucken. Mein Gaumenzäpfchen fühlte sich an, als hätte es den Aufräum-Flash der durchbrausenden Wüstenkolonne, die mir dieses staubige Dürregefühl im Mund bescherte, nicht annähernd überstanden. Ich fühlte mich, als müsse ich bald ersticken.

      »Sofort aufstehen!«

      »Ein Glas Wasser, junge Lady...«

      Das Glas unter dem Hahn randvoll mit eiskaltem Leitungswasser gefüllt, und auf einen Satz durch die Kehle gegurgelt, holten mich, trotz Müdigkeit und Benommenheit, die Gedanken Stück für Stück wieder ein.

      »Bravo!«

      Wieder kreisten sie um ein und dieselbe Person: Miky Dut.

      Wie es ihm wohl gerade erging, ob er auch nicht schlafen konnte?

      Ein leerer Blick zur Decke, ein leises »Hhmmm«, gefolgt ein langer, tiefer Seufzer. Irgendwie fühlte ich mich ihm gegenüber immer ziemlich verbunden. Ich fühlte, wenn es ihm nicht gut ging oder sich Probleme anbahnten. Ich fühlte, wenn er bei einem gemeinsamen Ausflug mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein schien und ein mildes, bedeutungsloses »Ja, ja« am Satzende über seine Lippen glitt. Ich fühlte es, wenn er in der Klemme steckte und sofortige Hilfe brauchte. Und ich fühlte, wenn er mir Dinge unter die Nase reiben wollte, die nicht der Wahrheit entsprachen und am Ende womöglich noch probierte, mich für dumm zu verkaufen…

      Ich kannte jeden seiner Blicke. Blicke, die manchmal gerne hätten gemordet, manchmal gerne geliebt. Nach gewisser Zeit wusste ich, wie er in diversen Situationen reagierte. Ich fühlte, wenn ihm etwas wichtig oder egal war. Wenn ihn etwas verärgerte, drehte sich seine fröhliche Stimmung schnell um 180 Grad und er wanderte in Richtung Decke. Er kochte vor Wut, sobald seine Ohren feuerrot wurden, sich seine Stimmlage, aus einem eben noch angenehm weichen Ton, in ein schrilles, unerträgliches Gemecker hob und seine Blicke wie fanatisch den Brandpunkt fixierten, von dem sie keine Millisekunde mehr abwichen. Andersrum war er der großherzigste und liebste Mann den man sich vorzustellen vermochte. Ohne ein Wort las er mir beinahe jeden Wunsch von den Augen ab, und war er noch so winzig. Gerne besiegelte er seine Liebe immer wieder aufs Neue mit kleinen Aufmerksamkeiten. An seiner Seite fühlte ich mich wie eine stolze Gewinnerin des Jackpots der Liebe…

      Die Vergangenheit war abermals präsent und die Gedanken daran, dass mein Leben hätte gerade so schön verlaufen können, holten mich erneut ein. Wäre da nicht dieses verdammte »Hätte« gewesen. Und dabei war mein Plan zu anfangs eigentlich ganz simpel: »Glücklich und zufrieden mit meinen Liebsten alt werden…

      …ein Haus am See, mit großer knarzender, dunkler Holzterrasse, eigenem kleinen Garten samt mehrerer Gemüsebeete, und dazu ein Hausboot, kaufen, das ganze Pipapo eben«, so und nicht anders sollte sich das Netz meines Vorhabens um uns herum spinnen!

      Auch wenn Miky nicht der leibliche Vater von Lee, meiner Tochter, war, kannte er sie fast ihr gesamtes Leben lang. Als Lee sechs Monate alt wurde und noch nicht laufen oder sprechen konnte, lernten Miky und ich uns kennen. Zwar stand von Anfang an fest wer Lees leiblicher Daddy war, trotzdem betitelte sie ihn oft als »Papa«. Er schien manchmal etwas streng, doch dann griff ich sogleich ein und ging, wenn nötig, auf Vollkonfrontation. Miky hatte keine eigenen Kinder und somit wenig Erfahrung. Obwohl schlimmste Schmerzen die Geburt meiner Tochter begleiteten, genauer gesagt die ärgsten die ich je ertragen musste, ist die kleine Prinzessin aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Für Lee war Miky, neben mir, die wichtigste Bezugsperson. Und für mich war er…

      …mein Ein und Alles!

      Und jetzt sollte ich nicht mehr jeden Morgen neben ihm aufwachen…

      Ich sollte ihm beim Aufstehen keinen Kuss mehr auf seine glänzende, praktisch faltenfreie Stirn drücken und ihn dabei so herzhaft süß Grinsen sehen. Ich sollte seine funkelnden, fast schon in ein edles Smaragd-grün eintauchend, tiefgrünen Augen nicht mehr sehen, die ich so sehr an ihm liebte. Ich sollte seine Schmolllippen, wenn er ein zärtliches »Guten Morgen, Schnecke! Na, gut geschlafen?« über sie blies, nicht mehr aufeinandertreffen hören. Ich sollte ihn nicht mehr umarmen und den rosigen Duft seiner warmen, weichen Haut riechen, wenn er frühmorgens aus dem Bett kroch, um sich seinen Kaffee aus der Maschine aufzubrühen, die lauter als ein Baustellenfahrzeug war und einen automatisch senkrecht ins Bett stellte, bevor er sich montags bis freitags für die Arbeit schniegelte und striegelte. Ich sollte seinen süßen Apfelarsch nicht mehr sehen, wenn er fast nackt, halbverschlafen und noch derbe