Jenna Jonsen

Das tränende Herz


Скачать книгу

Tonlage.

      »Hätte, hätte Fahrradkette…«

      »Alles klar. Und hätte, hätte spielt gerade Klarinette«, entgegnete Abery gleich zynisch. »Jegliche Vorwürfe verbessern ihren derzeitigen Zustand natürlich wesentlich!«, musste ich seine zuvor getroffene Aussage abrunden. Vorerst gab es keine genaueren Untersuchungsergebnisse…

      Schwester Erika, aktiver Nachtdienst der Station 1, brachte Oma Abery, in ihrem Bett auf Rädern, mit dem Personenaufzug auf Zimmer 101, erster Stock. Hier sollte sie vorerst für unbestimmte Zeit einquartiert werden. Links auf der Fensterseite des Dreibettzimmers abgestellt, die bunten, der Länge nach linierten, Vorhänge zugezogen, noch eine Flasche stilles Wasser hingestellt und schon setzte Erika pfeifend, ohne Weiterbeachtung, den Trott ihrer Nachtschicht fort. »Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich…

      …so ausgesprochen fröhlich?«, hörte ich sie unmusikalisch, ihre Crocks quiekend, den langen Gang hinunter, vor sich hin piepen.

      »Ihr Ernst?«

      Abery lauschte damals meinem ersten Schrei, wir pflegten eine besonders eminente Bindung zueinander. Gerne betonte sie ihre Druckmethoden an meinem Geburtstag, denn ich sollte um jeden Preis vor der Sonntagsmesse geboren werden, die Abery nie versäumte. Am 31.01.1988, um 11.05 Uhr, erblickte ich sodann, verschrumpelt und erschöpft, mit einem lauten Schrei, das Licht der Welt. Geboren unter 86-prozentigem Mondeinfluss, im Aszendenten Stier, vom Sternzeichen Wassermann, gehörte ich, Jenna Nicola Jonsen, laut Terlusollogie, zur Gruppe der lunaren Einatmer. Was das für mich und meine Lebensweise bedeuten sollte, stellte sich erst viele Jahre später heraus, als lästige Hautekzeme, die von zahlreichen Ärzten, nach ellenlangem Rätselraten und Rumgedoktore, mit »psychosomatischer Ursache« abgestempelt worden waren, meine Lebensqualität einschränkten…

      Bereits beim Betreten des Flurs im ersten Stock rannte mir kalter Schweiß über den Nacken in den Rücken, zwischen meinen beiden knochigen Schulterblättern hindurch, hinab durch die vielen kleinen Brustwirbel, bis in den letzten Lendenwirbel. Haar für Haar sträubten sich meine Nackenhaare und stellten sich einzeln senkrecht gegeneinander auf. Mit einem Schlag wurden meine Hände pitschnass. »An der Hose abwischen«, dachte ich nur. Doch sobald ich sie abgestreift hatte, waren sie sofort wieder mit vielen winzigen, eiskalten Schweißperlen durchtränkt. »So kann ich die Türklinke unmöglich anfassen«, wusste ich. »Päh!, Bakterienschleuder. Nichts Schlimmeres als Krankenhauskeime!«, warf ich geekelte Blicke auf meine beiden Pratzen. Vor jeder Eingangstür befanden sich Spender mit hellblauer Flüssigkeit, Desinfektionsmittel. Ich desinfizierte mir gründlich, Finger für Finger, angefangen mit dem linken Daumen, beide Hände. Der goldene Ring mit weißer Diamanteinfassung, ein Geschenk meiner Mutter, musste dafür ab.

      »Bloß keine Viren oder Bakterien in Aberys Zimmer, auch wenn dieses Zeug abartig grausig müffelt!«

      Das übernahmen meiner Meinung nach schon die Ärzte, Schwestern und Besucher der zwei halbtoten Bettnachbarn, Frankensteins Kinder persönlich, denen jeweils nur die Korken links und rechts der Halsschlagader fehlten, makaber aber wahr. Diesen sterilen Geruch, der sich rasend schnell über den gesamten Flur ausbreitete, nahm ich unmittelbar nach Betreten der Eingangstür wahr. Er bohrte sich in meine beiden schlanken, dennoch aufnahmefähigen, Nasenlöcher. Dieser, fast schon penetrante, Gestank befahl meinen Nasenflügeln sich mit dem nächsten Wimpernschlag zu Rümpfen und den Ekel unter keinen Umständen unbemerkt vorbeiziehen zu lassen!

      Krankenhäuser mochte ich generell noch nie, aus Prinzip. Als sich mein Vater, Sigi, damals dann, nach seiner Knie-Operation am Meniskus, die ohnehin eher miss- als gelungen verlief, mit einem merkwürdigen Krankenhauskeim infizierte, leuchtete mir recht schnell ein, dass auch Ärzte nur Menschen waren, die hin und wieder Fehler begingen. Irren bleibt schließlich menschlich. Und bei dieser Anzahl an Arbeitsstunden, die zweifelsohne an abartige Akkordarbeit grenzte, konnte die Konzentration niemals dauerhaft auf Hochtouren bleiben, bei Robotern vielleicht, ja. Abery aber war eine alte Frau von 78 Jahren. An ihr konnte man nicht einfach so, mir nichts dir nichts, herumexperimentieren…

      »Die warten hier doch nur auf meine Organe. Gleich wenn der Arzt meinen Hirntot diagnostiziert hat, werden die anfangen mich aufzuschnipseln, wirst sehen!«, pfiff sie, mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen, über die Bettkante. »Hör bloß auf damit, du weißt genau, dass ich mir immer alles bildlich vorstellen muss«, erwiderte ich kopfschüttelnd und nicht gerade amüsiert über ihre Aussage. »Ist doch wahr. Da blitzen nur die Euro-Scheine in den Pupillen. Wusstest du eigentlich, dass die für jeden Toten einen Haufen Geld kassieren?«, folgte es weiter kühl aus ihrem Mund. Eine fast erdrückende Stille durchschwebte den kahlen, übersichtlichen Raum. Vorzugsweise hätte ich die Frau, die ihre eigene Angst gerne mit schlag-fertigen Kommentaren übertrumpfte, in den komischen Plumps-Rollstuhl gesetzt, den Schwester Erika neben ihrem Bett geparkt hatte, als Nacht- oder Rollstuhl nutzbar, und wäre mit ihr auf die »In-Ordnung-Wiese« gefahren. Als Kind gab es die für mich. Immer dann, wenn ich verzweifelt war, mich unwohl oder einsam fühlte, spazierte ich zu meiner Lieblingswiese und legte mich dort zu Boden, völlig egal ob es aus Kübeln schiffte, wie wild schneite oder die Erde von der Sonne mit warmen Strahlen geküsst wurde. Kurze Zeit später fühlte ich mich besser, frei, so bescheuert es klingen mag, geerdet. So gerne hätte ich auf diese Weise auch Abery geholfen, dass das aber nicht möglich war, wusste ich ebenso. »Zeit mit ihr verbringen, denn ich weiß nicht, wie lange ich sie noch bei mir habe und sie erzählt schließlich die schönsten Geschichten«, schoss es mir durch den Kopf, als ich ihr Krankenzimmer betrat. Oft war unmöglich zu unterscheiden, ob Aberys Erzählungen der Realität zuzuordnen oder frei erfunden waren, zu glaubhaft erzählte sie…

      Trotzdem ihr Körper durch den erlittenen Infarkt sehr schwach war, fing sie, als konnte sie meine Gedanken lesen, sofort nach der Begrüßung wie so oft, an: »Als kleines Mädchen, zwei Tage nach meinem achten Geburtstag, schlenderten meine Mutter und ich durch den Wald, um Pilze zu sammeln. Als wir mit vollen Körben den Heimweg antraten, stießen wir am Wegrand auf ein Reh, verfangen in einer Falle. Beim Versuch das Tier zu befreien, geriet meine Mutter selbst mit der Hand in die Schnappfalle. Ich war klein und wusste mir keinerlei Rat…

       Mutter, deren Hand bereits nach kürzester Zeit völlig blutdurchtränkt war, schickte mich durch den endlosen, düsteren Wald, um im Dorf Hilfe zu holen. Was blieb mir für eine Wahl, ich musste sie alleine lassen, sie wäre sonst jämmerlich verblutet…

       Also lief ich, durch die grünen Tannen, Eichen, Ahorn und Kastanien. Plötzlich kreuzte, wie es der Zufall wollte, ein Jäger meinen Weg. Aufgeregt erzählte ich, ohne Luft zu holen, was geschehen war, doch er schenkte mir keinen Glauben und wollte auf seinen Thron, hoch oben zwischen den Bäumen, versteckt im Geäst, zurücksteigen. Ich aber blieb hartnäckig und zerrte ihn am Arm…«

      Und dann wurde sie durch ein tiefes Räuspern der blonden Schwester Erika, die schon eine ganze Weile an ihrem Bett stand und aufmerksam der Geschichte lauschte, unterbrochen und aus der Welt der Fantasie entrissen. »Ihre Medikamente, Frau Fröhlich«, hörte ich die raue, rauchige Whiskey-Stimme sagen. »Noch mehr Medikamente? Wozu sollen die denn wieder gut sein?«, fragte ich entsetzt. »Ein regelrechtes Vollgepumpe ist das hier. Ernähren will ich mich von diesen gummiüberzogenen Smarties, die mein Gehirn verkalken, nicht!«, scherzte Abery. Sie sollte also noch mehr Tabletten schlucken. Und das, obwohl ihr Herz ohnehin schon schwach war!

      Der Oberarzt, Dr. med. Dieter Pfunzer, der kurze Zeit später, nach Schwester Erika, Zimmer 101, erster Stock, siebte Türe links neben dem Aufzug, betrat, verdeutlichte allen Anwesenden im Raum, ohne langes Gerede um den heißen Brei, dass über die Hälfte seiner Patienten in der Woche nach dem Infarkt an dessen Folgen stirbt. »Das Herz ist keine Maschine und übersteht bei Weitem nicht alles!«, sagte er nur in kalter, strenger Stimmlage, mit gerümpfter Nase und zusammengezogenen Augenbrauen, die sich kurz vor Beginn seiner hohen Denkerstirn in einen tiefen Knick verwandelten. »Und mit der Unsterblichkeit haben wir es noch nicht so!«, fügte er noch zwinkernd hinzu, dann war er auch schon wieder verschwunden.

      »Richtig professionell und rücksichtsvoll!«

      Seine Stirnfalten verrieten eine ersichtliche Langeweile