Jenna Jonsen

Das tränende Herz


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ich das halbe Waschbecken mit Zahnpasta verschmiert vorfand, oder der Kaffeefleck auf dem schwarz glänzenden Glastisch in der Küche, der zusammen mit den verteilten Zuckerstreuseln seine halbe Sitzseite verklebte, fehlten mir nun. All diese und viele andere Kleinigkeiten…

      Zuvor war meine Aufmerksamkeit nie bewusst auf Derartiges gerichtet. Mit dem Lauf der Zeit flossen diverse Handlungen automatisch in den Alltag mit ein. So verlor beispielsweise ein gemeinsames Abendessen an Bedeutung und die Abende vor dem Fernseher verliefen zunehmend schweigsam, weil sie sich in die Kategorie »Selbstverständlichkeit« einordnen ließen. Das alles gab es jetzt nicht mehr. Und das war mitunter mein eigen praktiziertes Werk.

      »Herzlichen Glückwunsch, mit vollem Körpereinsatz die Zonk-Karte gezogen«, wusste ich ganz klar!

       Und das, das blieb selbst nach dieser Zeit unverarbeitet. Zu sehr glich mein Kopf einem undurchdringlichen, tiefen Dschungelgestrüpp, Desorganisation lässt grüßen…

      Kapitel 1 – Früher Vogel

      Nicht grundlegend rosig, erlebte ich im Großen und Ganzen eine schöne Kindheit. Zu meiner Zeit, als Google & Co noch nicht existierten und die ersten Mobiltelefone, mit ausziehbarer Zahnstocher-Antenne, überwiegend als Schlagknüppel zu nutzen waren, in der das versehentliche Drücken des Internet-Buttons eine wahre Nerven- und Kostenkatastrophe auslöste, gab es für jegliche Blödsinns-Attacken keinerlei Beweise, es sei denn man ließ sich auf frischer Tat ertappen und konnte so direkt zur Rechenschaft gezogen werden. Heute bleibt, dank fortschreitender Entwicklung, nichts mehr dem Zufall überlassen geschweige denn unentdeckt. Und wer konnte schon bisher jemals behaupten, dass er mit einer Handyhalterung am Rollator, womöglich inklusive höchstsensibler Freisprecheinrichtung, sein Haus verlässt?

      Bis zum Alter von zwölf Jahren wuchs ich auf einem Bauernhof, in einem kleinen Dorf mit sieben alten Häusern, auf, wie in Schlumpf-hausen, Tür an Tür mit den Anrainern. Ein Geschäft oder Ähnliches gab es nicht. Selbstversorgung stand, neben dem täglichen Schul-Wahnsinn, auf dem Programm. Die nächste Einkaufsmöglichkeit erreichte man nach drei Kilometern, die umliegende Schule nach rund zwanzigminütigem Fußmarsch. Dass mein Schulweg in der kalten Jahreszeit kein Pappenstiel war begriff ich erstmals, als ich die winterlichen Schneemassen mit meinem gelben 5-Gang-Drahtesel zu bekämpfen versuchte und dabei vom Schneepflug ausversehen über den Haufen geräumt wurde. Durch Zufall, auf seinem täglichen Arbeitsweg, entdeckte Onkel Fidy, der Bruder meiner Mutter Regine, mit dem ich zu Kindeszeiten unter einem Dach lebte, mich unter dem großen, eisigen Schneehaufen, vom Pflug zusammengeschert, aus dem ich nicht mächtig war mich eigenständig zu befreien. Zum Glück ragte der Hinterreifen meines Fahrrads aus der Schneemasse heraus, sonst hätte mich wohl niemand so rasch gefunden. Dennoch mochte ich mein zu Hause. Hier durfte ich unbeschwert Kind sein und meine Freizeit, nach den Hausaufgaben, in der Natur oder bei Freunden genießen. Langeweile, ein Fremdwort!

      Oma Rosalie, auf deren Hof ich aufwuchs, war Bäuerin und stand jeden Morgen um 3.30 Uhr auf der Matte, wenn der uralte, zerrupfte Nachbarsgockel den ersten grässlichen Schrei von sich stieß, der sich eher dem lauten Gejammer eines brünftigen Hirsches unterordnen ließ. Sämtliches Ungeziefer seines dreckigen Federkleides dürfte auf diese Weise freiwillig das Weite ersucht haben. Rosalie bereitete mir täglich mein Frühstück zu, nachdem sie vom Kühe melken aus dem Stall, mit frisch gezapfter Milch, zurückkehrte. Bei Oma Rosalie und Opa Raimund standen 18 Milchkühe im Stall, die täglich zwei Mal gemelkt werden wollten. So erarbeiteten sich die beiden, neben dem Verkauf von eigen angebautem Obst und Gemüse aus dem Garten, ihr tägliches Brot…

      Meine Mutter bekam ich überwiegend an den Wochenenden zu Gesicht, da sie Vollzeit berufstätig war. Schon als Winzling lebte ich somit erstmals bei meinen Großeltern, väterlicherseits, Abery und Hugo. Später pendelte ich wöchentlich zwischen beiden Paaren hin und her. Mein Vater, Sigi, holte mich freitags nach Schulschluss in Obsor, dem kleinen Bauerndorf, ab und fuhr mich zu Abery, wo ich jedes Wochen-ende verbrachte. Meiner Mum nahm ich die seltenen Treffen mit zunehmendem Alter definitiv übel. Als Teenie blieb mir unverständlich, dass Geld nicht auf Bäumen wächst und von irgendwoher kommen musste. Jeden Sonntag kutschierte mich Regine zurück nach Obsor, da ich schulpflichtig war und zuerst die Grundschule, später die fünfte und sechste Klasse der Gesamtschule, besuchte…

      Nach zwölf Jahren hatte ich die Nase vom Bauernhofdasein, trotz der Pendelei am Wochenende, gestrichen voll, es fehlte an Abwechslung. »Neue Pflaster beschreiten und eigene Wege gehen«, sollten sich meine Zukunftspläne, Masche für Masche, fest ineinander verstricken. Mein Leben schrie förmlich nach Veränderung. So zog ich zu Oma Abery ins rund 20 Kilometer entfernte Genimo. Die lebte in ihrer 84-Quadratmeter-Parterrewohnung, inmitten der kleinen »Ghetto-Siedlung«, unweit von Schulen und dem »Zentrum des Geschehens« entfernt, wenn es dieser Bezeichnung denn überhaupt würdig war. Beim Einzug in mein Reich, ein rund zwölf Quadratmeter großes, quadratisches Zimmer mit Norm-Fenster, half mir Nachbar Flo, gelernter Maler, nach einer Schnelleinführung in die Fertigkeiten der Wischtechnik, zwei Wände in Gelb zu bepinseln. Ansonsten lebte ich schlicht und einfach, wie es zu meiner Zeit eben so üblich war. Ein Bett, ein Tisch mit Nachttischlampe samt Stuhl, über den ich abends vorm zu Bett gehen die tagsüber getragene Kleidung hängte, und ein kleiner Schrank, in dem meine Klamotten Platz fanden, war so relativ alles was ich besaß. Markenklamotten oder Tablets und Handys spielten keine Rolle. Und das brauchte ich als Kind auch nicht. »Natur pur!« wurde mir zwar zugegeben mit zunehmendem Alter zu öde, doch hätte ich mir keine schönere, unbeschwertere Kindheit vorstellen können. Andererseits gab es für mich keinen schlimmeren Gedanken als Stillstand. Stillstand bedeutet automatisch Rückstand. Und ich wollte mich nicht zurückentwickeln, sondern fortbilden…

      Kein Kind von Traurigkeit bildete ich auch in der neuen Klasse der Mädchenrealschule, die Klosterschwestern betreuten, unter den Schülern als »Watschelpinguine« verschrien, rasch Kontakte zu anderen Mitschülerinnen.

      »Gesicherte Freizeitaktivitäten!«

      Zwar nicht die hellste Leuchte, aber immerhin nicht ganz auf der Brennsuppe daher geschwommen, fiel es mir nicht sonderlich schwer, mich an den übermäßigen Lernstoff, den ich so von der Gesamtschule bisher nicht kannte, zu gewöhnen…

      Alles lief rundum gut, dann landete Abery plötzlich im Krankenhaus. Dass sie schwer krank war, wusste ich ja schon als Kind. Aber als Teenie nahm ich nie richtig wahr, was mir meine Eltern da eigentlich erzählten, bis es mir selbst die Augen öffnete und das Leben mich, »Klatsch-Boom«, vor vollendete Tatsachen stellte. Eben wie bei Kleinkindern, nach dem Motto »learning by doing«, so bleibt es oft weiterhin im Erwachsenenalter.

      Und da lag sie…

      …mit einem Schlauch in der Nase und der Nadel mit 200 Milliliter Infusion im Arm, die ihr angeblich Flüssigkeit zuführen sollte. »Peeeeep…, Peeeeep…, Peeeeep…«, dröhnte es gleichmäßig neben ihr aus dem Puls- und Herzfrequenzmesser, an den sie mit dem linken Zeigefinger, über eine Art kleiner grauer Sensor, angeschlossen war. Das weiße Nachthemd, in das sie die Schwestern bei der Einlieferung gehüllt hatten, glich haargenau ihrer derzeitigen Gesichtsfarbe, käsebleich und weiß wie eine frisch gestrichene Wand. Dass Abery so mit ihrer Gesundheit kämpfte, begriff ich erstmals, als ich sie dort so hilflos liegen sah…

      Da sie trotz ihres schweren Herzinfarkts »die Tapfere« spielte und selbst im ärgsten Schmerz keine Mine verzog, wurde sie erst Stunden später in die umliegende Klinik eingeliefert. Zuvor verbrachte sie die halbe Nacht am sperrangelweit offenen Fenster, mit aufgeknöpftem Nachthemd und ihrer Lippenbremsen-Atmung, die sie sich über Dr. Kraus Jahre zuvor für den Ernstfall angeeignet hatte, immer wieder nach Luft ringend. Ich erwachte durch die entstandene Zugluft und nahm ein leises »Au…, Aua…« aus Aberys Schlafzimmer, schräg gegenüber, wahr. Sofort alarmierte ich den Notarzt, der die gebrechliche alte Dame rund 15 Minuten später, lauthals mit Sirene und Blaulicht, ins nächstgelegene Krankenhaus, die Untersberg-Klinik, verfrachtete. Das Nötigste in eine riesige braune Reisetasche aus Leder zusammengewürfelt, fetzte ich mit dem Fahrrad, so schnell meine Beine traten, hinterher in Richtung Notaufnahme, wo Abery zwischenzeitlich gründlich untersucht wurde. »Warum kommen Sie erst jetzt, Frau Fröhlich?«, testete der Kardiologe