Reiner Kotulla

Michelle


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Vierzehn

       Epilog

       Impressum

       Prolog

      Es war Sonntag, der 9. Februar 1979, einer dieser typischen Februartage, Schneeregen, alles grau in grau. Tagsüber wurde es nicht richtig hell. Abends lief ein Krimi im DDR-Fernsehen, „Polizeiruf 110“. Auf einen solchen Tag hatte Walter Wagner lange gewartet. Bei diesem Wetter wird draußen kaum jemand unterwegs sein, dachte er. Genau der richtige Tag, um die Bombe zu zünden. Gegen 21.00 Uhr verabschiedete sich Walter Wagner von seiner Frau Christa. „Also, ich geh dann jetzt.“ Sie lebten in einem Haus, in einer kleinen Stadt, in der Nähe von Karl-Marx-Stadt.

      Er holte die Bombe aus dem Versteck im Pumpenschacht, befestigte die selbst gebastelten Nummernschilder an seinem grauen Trabant und packte die Bombe in den Kofferraum. Zwei Handgranaten und einen Revolver steckte er in die großen Seitentaschen seiner alten Armeejacke. Dann fuhr er los, acht Kilometer bis in die Stadt. Sein Ziel war das sowjetische Ehrenmal, Ecke Dresdner und Frankenberger Straße. Ein T-34 Panzer der Roten Armee auf einem Betonsockel mit der Inschrift: 8. Mai 1945.

      Später, im Gefängnis, sah er den Film „Der unbekannte Krieg“, eine sowjetisch-US-amerikanische Gemeinschaftsproduktion. Der Film stellte dar, wie die Sowjets nach dem Überfall der Wehrmacht ganze Panzerproduktionsstätten aus dem europäischen Teil der UdSSR hinter den Ural verlagert hatten. Dort wurden Drehbänke und andere Werkzeugmaschinen unter freiem Himmel im Boden verankert, indem dieser kurz mithilfe eines Schweißbrenners aufgetaut wurde. Anschließend ließ man ihn wieder zufrieren, und die Maschinen standen fest. Bei hohen Minustemperaturen wurde dann die Massenproduktion des legendären T-34 aufgenommen, der gleichzeitig Kampf- und Schützenpanzer war, mit dessen Hilfe man die deutschen Soldaten das Fürchten lehrte. Später, nach dem Krieg, wurde der Panzer an vielen Orten der DDR zum Denkmal für den Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus umfunktioniert.

      Niemand beobachtete den Mann, der sich jetzt dem Panzerdenkmal näherte. Er schleppte die in dunkles Tuch gehüllte Bombe zum Denkmal. Dann holte er aus dem Auto eine Klappleiter und lehnte sie an den Betonsockel. Er kletterte mit der Bombe unter dem Arm hoch und schob den Sprengsatz zwischen Panzerkette und Führungsrad. Die Bombe bestand aus einer stählernen Gasflasche, gefüllt mit elfeinhalb Kilo einer Mischung aus Unkraut-Ex, Puderzucker und anderen Zutaten, dazu drei Glühbirnen, ein Wecker und zehn Batterien. Er stellte den Zünder, weil er kaum etwas sehen konnte unter dem düsteren Panzer, auf eine geschätzte kurze Zeit. Ohne Hast stieg er die Leiter herunter, klappte sie zusammen, trug sie zu seinem Auto und verstaute sie auf der Beifahrerseite. Dann stieg er ein. Die Entfernung zum Denkmal betrug jetzt etwa zweihundert Meter. Vorsichtig, um keinen Krach zu machen, zog er die Autotür ins Schloss.

      Im selben Moment zündete die Bombe. Ein Lichtblitz zerriss die Nacht, ein dumpfer Knall rollte durch die feuchtkalte Luft.

      Später erfuhr er, dass abgesprengte Panzerteile bis zu fünfzig Meter weit durch die Luft geschleudert worden waren, und dass ein Mann, der mit seinem Hund unterwegs gewesen war, von einem Stück der Panzerkette erschlagen wurde.

      25 Jahre nach dem Attentat lebte Walter Wagner in Wetzlar-Nieder-girmes, inzwischen 63 Jahre alt. Ein alter Mann, der sich gerne beim Lesen der Bildzeitung unterbrechen ließ, wenn man ihn heute nach den Ereignissen von damals befragte. Dann erzählte er die Geschichte und stellte sich als einen Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus dar. Sein Vater, so sagte er, hatte ihn schon früh über das unmenschliche System der DDR aufgeklärt. Nach der Schule hatte er zuerst eine Fleischerlehre begonnen, dann aber eine Ausbildung zum Dreher absolviert. Er war stets darauf bedacht gewesen, anderen gegenüber seine Einstellung zu verbergen. Zur Tarnung war er „Freiwilliger Helfer der Volkspolizei“ geworden. Heimlich aber hatte er selbst gefertigte Plakate mit Aufschriften, die zum bewaffneten Kampf gegen den Kommunismus aufriefen, geklebt. Ständig aber hatte er mit der Angst gelebt, entdeckt zu werden, hatte er doch gewusst, dass ihm staatliche Verfolgung drohte. Die Wirkungslosigkeit seiner Plakataktionen hatten ihn dann über andere Methoden des politischen Kampfes nachdenken lassen.

      Er hatte einen Freund gehabt, Josef Riemer, der Panzerkommandant bei der NVA gewesen war und etwas von Waffen und Sprengstoff verstand. Josef hatte gedacht wie er, und so redeten sie viel miteinander. Ein Fanal hatten sie setzen wollen, für den Beginn einer nationalen Revolution. Von einem Marsch auf Berlin hatten sie geträumt und dass sich ihnen immer mehr Menschen anschließen würden, ihrem Kampf gegen das Böse. Oft, wenn sie alleine in Walter Wagners Kellerbar gesessen hatten, stimmte einer von ihnen das Horst-Wessel-Lied an, „Die Straße frei, den braunen Bataillonen.“

      Und er erzählte weiter: „1977 fingen wir an, Pläne zu schmieden. Irgendwann kamen wir auf das Panzerdenkmal. Im Herbst 1978 war die Bombe fertiggebaut. Zuhause und bei der Arbeit an Abenden und Wochenenden. Niemand hat Verdacht geschöpft, niemand wusste etwas. Mein Sohn Klaus war damals acht Jahre alt. Wir haben nicht nur die Bombe gebaut, auch sechs Stielhandgranaten stammten aus unserer Produktion. Zwei Revolver und Patronen hat Josef besorgt. Lebend sollten sie uns nicht kriegen.“ Wäre die Polizei gekommen, hätte es eine Verfolgungsjagd gegeben. Das wäre dann womöglich in einem Blutbad geendet. Von dem getöteten Spaziergänger erzählte er nicht.

      Zehn Minuten nach dem Knall war Walter Wagner zu Hause. Seine Frau entfernte die Tarnnummernschilder, er rannte ins Haus und verbrannte seine Kleidung. Es gab keine Spuren mehr, als ein Mannschaftswagen der Volkspolizei am Haus vorbeiraste, in Richtung Panzerdenkmal.

      Dann begannen die Ermittlungen des Ministeriums für Staatssicherheit und der Polizei in alle Richtungen. Sie blieben jedoch ergebnislos. Hinter der Tat vermuteten sie westliche Geheimdienste. In den DDR-Medien wurde der Fall nicht erwähnt. BRD-Zeitungen berichteten im März über den Anschlag. Am 25. September 1979 schlug die Volkspolizei zu. Sieben Monate nach der Tat.

      „Normalerweise hätten sie mich nie gekriegt“, sagte Walter Wagner. Der Sohn von Josef Riemer musste etwas aufgeschnappt haben. Der hatte dann wohl mit einem Freund darüber gesprochen, welcher wiederum die Polizei informierte. Im Februar 1980, ein Jahr danach, verurteilte das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt Walter Wagner zu lebenslanger Haft. Sein Freund, Josef Riemer, bekam zwölf Jahre.

      Den Gefängnisaufenthalt erschwerte er sich selbst. Er betitelte die Beamten im Gefängnis als Honecker-Knechte und Stasilakaien. Bei einem Hofgang hatte er eine Scherbe gefunden, diese in ein feuchtes Läppchen gewickelt und dann in seinem Enddarm versteckt. Damit ritzte er die Wände voll mit Beschimpfungen gegen den SED-Staat. Irgendwann schnitt er sich seine Beinvene auf und schrieb mit seinem Blut die Wände und Zettelchen voll. Manchmal sammelte er Blut in einem Becher und bespritzte die Beamten damit. Sein Hass auf die DDR war grenzenlos. Zeitweilig verweigerte er die Nahrungsaufnahme, nahm ab, wog schließlich nur noch 50 Kilogramm.

      „Wollen Sie nicht endlich vernünftig werden“, fragte ihn ein Beamter.

      Er antwortete: „Ich lehne es ab, die Vernunft eines Hundes anzunehmen.“

      Anfang 1986 brach er zusammen, wurde zwangsernährt. Inzwischen war sein Schicksal der BRD-Regierung bekannt geworden. Im Juli desselben Jahres wurden Walter Wagner, seine Frau und sein Sohn im Rahmen eines Austauschs von Agenten in die Bundesrepublik entlassen. Da war Klaus elf Jahre alt.

      Sie zogen nach Wetzlar, Walter fand Arbeit im Maschinenbau, wurde jedoch 1993 arbeitslos. Er bekam eine Entschädigung als Opfer des SED-Regimes, wie es hieß. Manchmal hielt er Vorträge, auf Parteiversammlungen der Nationalen und bei Burschenschaften. Auch dort verschwieg er den Spaziergänger, der an jenem Abend mit seinem Hund unterwegs gewesen war.

       Erster Teil

       Eins

      Ein wenig fühlte er sich wie auf der Flucht, als er in Wetzlar in den Zug stieg. Drei Stunden Zeit bis Kassel-Wilhelmshöhe.