Reiner Kotulla

Michelle


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als Grundlage für seine Arbeiten herangezogen.

      Es hat noch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, die bewiesen, dass es sich bei den Protokollen um Fälschungen handelte. Und doch, die Protokolle der Weisen von Zion sind heute verbreiteter als zuvor. Man kann mit ihnen die Juden wahlweise für den Kapitalismus oder für den Kommunismus verantwortlich machen. Der Schreiber des Artikels kommt zu dem Schluss, dass selbst, wenn es sich weltweit herumgesprochen hat, dass diese Protokolle nur eine Propagandafälschung sind, die Saat der Verschwörungstheorie längst aufgegangen sei. Ja, und einen Beweis dafür hast du gestern auf dem Friedhof erlebt.“

      „Kannst du mir den Artikel besorgen?“

      „Sicher, ich schicke dir eine E-Mail.“

      Wie damals, als Renate Wetzlar verlassen hatte, wachte er am anderen Morgen auf und fand den Platz neben sich leer vor. Auf ihrem Kopfkissen ein Zettel: „Vielleicht.“ Im Zug dann, zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Gießen, fasste Alexander Fabuschewski den Entschluss, Renates Vorschlag anzunehmen. Nicht wissend, dass auch die Idee nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber zunächst verweilten seine Gedanken bei Renate. Fremdheit war nicht aufgekommen, obwohl sie sich eine gewisse Zeit nicht gesehen hatten. Als sie ihn am Bahnhof in Schleswig abgeholt hatte, war es ihm vorgekommen, als sei es erst gestern gewesen, dass sie sich getrennt hatten. Sie hatten für ihr Zusammensein keine erklärenden Worte gebraucht. Obwohl alles wie selbstverständlich passierte, war nichts selbstverständlich gewesen. Und dann der Zettel auf ihrem Kopfkissen. „Vielleicht.“ Das war ihre Antwort auf seine Frage gewesen, damals auf der Terrasse vom Bungalow Nr. 74: „Unser letzter Abend?“

       Drei

      Schon so manches Mal kam ihm der Gedanke, dass es wohl nicht ausreicht, sich hin und wieder zu politischen Fragen zu äußern. Auch die sogenannten Biertischgespräche führten zu keiner gesellschaftlichen Veränderung, selbst dann nicht, wenn man die Lufthoheit über ihm errang. Oft hatte er mit seinem Vater darüber gesprochen. Der war erst vor einiger Zeit aus der SPD ausgetreten. Lange schon habe er das vorgehabt, sagte er, doch immer wieder aufgeschoben. Erst die seiner Ansicht nach verfassungswidrige Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg gegen Jugoslawien habe den Ausschlag gegeben. Auch für ihn, Alexander, kam eine Arbeit in dieser Partei nicht infrage. Sie war nicht mehr die Interessenvertreterin der lohnabhängigen Menschen in diesem Land, sondern eher der verlängerte Arm der Arbeitgeberverbände. Der allgemeinen Parteiverdrossenheit mochte er sich aber auch nicht anschließen, obwohl er, was die Schwarzen, die Rosaroten, die Grünen und die Gelben betraf, der Aussage des englischen Satirikers Jonathan Swift zustimmen konnte, der vor 300 Jahren seine Ansicht zu einer politischen Partei so geäußert hatte, dass sie aus einer Horde unselbstständiger, teils korrumpierter, teils einfach opportunistischer Leute bestehe, die von einem einzigen demagogischen Gehirn angestiftet, angeführt, inspiriert und kommandiert werde. Dieses Gehirn, so dachte Alexander, ist nicht das einer einzelnen Person, sondern eher ein Synonym für die Interessen sozialer Schichten oder Klassen.

      Angeregt, darüber nachzudenken, hatte ihn letztlich ein Artikel, den er in einer Tageszeitung gelesen hatte. Dort ging es um den Versuch des Kanzlers, über eine manipulierte Vertrauensfrage Neuwahlen zu erzwingen. „Des Kanzlers Neuwahlcoup“, so hieß es da, sei ein Akt der Piraterie, des puren Narzissmus. Er drücke Endzeitstimmung aus und eine Zockermentalität ohne durchdachtes politisches Kalkül. Der Kanzler pervertiere den Geist des Parlaments, zwinge die eigene Regierungsfraktion unter seine Knute und verhelfe so der Kandidatin der Schwarzen zur Macht. Und warum machen, so fragte sich Alexander, all die einflussreichen Rosaroten dieses Theater mit? Denken und handelten sie nicht genauso, wie Jonathan Swift es damals formulierte? Aber, dachte er, so kann man sicher nicht alle Parteien charakterisieren. Von seinem Vater wusste er, dass dieser schon seit einiger Zeit mit einer sozialistischen Partei sympathisierte, gegenüber der es im Westen des Landes immer noch Vorurteile gab. Man getraue es sich nicht, so sagte er, ihrem Programm zuzustimmen, und vermute hinter ihr immer noch den Stalinismus alter DDR-Prägung. Peter Fabuschewski meinte, das sei falsch, entspräche jedoch bürgerlichem Zeitgeist.

      Alexander nahm sich vor, demnächst noch einmal mit seinem Vater darüber zu reden. Besuchen wollte er ihn sowieso, musste seinen Besuch bei Renate erklären. Er vergaß aber zunächst sein Vorhaben, als er am Abend seinen E-Mail-Briefkasten öffnete. An Michelle Carladis hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Jetzt wurde sie zur Ideenlieferantin. Alexander erinnert sich, dass sie, obwohl sie sich anfangs gut verstanden hatten, beim Sie verblieben waren.

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       Ich wende mich auf diesem Wege an Sie, weil meine Freizügigkeit zurzeit stark eingeschränkt ist. Der Grund für mein von mir selbst gewähltes Exil verbietet es mir, auf andere Weise mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hoffe, dass Sie mir helfen können.

       Nach den für mich schrecklichen Ereignissen der Vergangenheit hat man mir geraten, über eine schriftliche Reflexion dessen, was mit mir geschehen ist, zu mir selbst zu finden. Zunächst habe ich an ein Tagebuch gedacht. Da kann man zwar offen sein, erhält aber keinerlei Feedback. Das aber ist es, was ich mir von Ihnen erhoffe, erwarte allerdings, dass Sie mir ehrlich sagen beziehungsweise schreiben, ob Sie dazu bereit und, zeitlich gesehen, in der Lage sind.

       Aber was schreibe ich da, Sie wissen doch noch gar nicht, um was es eigentlich geht.

       Sicherlich haben Sie sich seinerzeit Gedanken darüber gemacht, warum ich Ihnen gegenüber so zurückhaltend geworden war. An jenem Tag, als wir im Café Alte Lahnbrücke saßen, hatte ich schon Angst, mit Ihnen zu sprechen. Ich habe Sie, nur um schnell wieder nach Hause zu kommen, an Anne verwiesen, obwohl mich der Fortgang Ihrer Geschichte brennend interessiert hat. Anne hat mir dann später, als Morina Vlado und Juri Brelow schon tot waren, alles erzählt. Auch dass Sie, dank Ihrer Ermittlungen – ich will es einmal so nennen – dazu beigetragen haben, dass Herr Brelow rehabilitiert wurde. Ich hoffe, dass Kai Ludwig eine gerechte Strafe erhalten wird. Nun schweife ich aber ab, ich wollte doch eigentlich über mich schreiben.

       Sie haben Klaus doch sicher als eine hilfsbereite Person kennengelernt. So habe ich ihn anfangs auch gesehen. Auch mir gegenüber hat er sich so verhalten. Ich musste nur andeuten, dass ich etwas brauchte, und schon war er da und half. Außerdem war er überaus höflich und zurückhaltend. Es hat etwa einen Monat gedauert, bis er versucht hat, mit mir zu schlafen. Ich nahm an, dass er noch nicht viel Erfahrung hatte. Deshalb habe ich es auch zunächst hingenommen, wenn er auf mich und meine Bedürfnisse wenig Rücksicht genommen hat. War er gekommen, verlor er sofort das Interesse an mir. Habe ich das anfangs noch akzeptiert, war ich dann doch langsam sauer, wenn er mich so einfach liegen ließ.

       Ich habe dann gewartet, bis er eingeschlafen war. Später dann habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden. Ich glaube, er verstand überhaupt nicht, was ich ihm hatte sagen wollen. Daher wurde ich deutlicher, erzählte ihm, was ich tat, während er schlief. Ich dachte, dass ihn das erregen würde. Aber ganz im Gegenteil, er war fast empört. Sein Vater hätte ihm erklärt, dass Selbstbefriedigung eine Schweinerei sei, vor allen Dingen, wenn ein Mann das täte. Ich war geschockt, hoffte aber immer noch auf eine Veränderung. Ich dachte, dass ein längeres Zusammensein dazu beitragen könnte, und habe einen gemeinsamen Urlaub vorgeschlagen.

       Die zwei Wochen auf Korsika haben aber nichts dergleichen bewirkt. Ganz im Gegenteil, Klaus verbot mir, um ein Beispiel zu nennen, am Strand das Bikinioberteil abzulegen. Einmal, wir waren abends ans Meer gelaufen, fanden wir eine Bucht, menschenleer. Weißer Sand, das Wasser dunkelblau. Ich zog mich vollständig aus, rannte los und sprang in die Wellen. Ich schaute absichtlich nicht zurück, in der Hoffnung, Klaus würde mir folgen. Dann sah ich, dass er völlig angezogen bei meinen Sachen saß. Später machte er mir Vorwürfe, es hätte ja jemand vorbeikommen können, der mich dann nackt gesehen hätte. Ich war sauer, ging abends alleine in die Bar und habe mich dort mit einem Paar unterhalten. Klaus kam dazu, sah, wie ich gerade mit dem Mann sprach, drehte sich um und ging. Als ich in unser Zimmer kam, schlief er schon. Am nächsten Morgen