Reiner Kotulla

Michelle


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darüber, dass Michelle nichts über den Verlust ihrer eigenen Daten geschrieben hatte. Er dachte aber nicht weiter darüber nach.

       Acht

      Worüber hatten sie das letzte Mal gesprochen, fragte er sich. Er erinnerte sich nicht an alles. Ein Thema hatte er jedoch nicht vergessen, auch deshalb nicht, weil er damit ein Bild verband.

      Sie hatten einen freien Tisch am Fenster gefunden. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er sich nicht so gesetzt, dass er den gesamten Raum im Blickfeld hatte, eine Eigenart, deren Ursprung er nicht kannte. Wenn er sonst mit anderen in ein Lokal ging, erklärte er oft, dass er sich dieses Verhalten damals im wilden Westen angeeignet hätte. Das hätte ihm dort so manches Mal das Leben gerettet, hatte er doch in Deckung gehen können, wenn einer der Gäste seinen Colt zog. Jetzt unterließ er diesen Hinweis. Borjanka saß mit dem Rücken zum Fenster. Die Sonne schien herein und erleuchtete ihren äußeren Haarkranz. Wie ein Heiligenschein, dachte er. Das milde Licht des Raumes ließ ihr Gesicht besonders weich erscheinen. Sie ist wunderschön, dachte er. Sie hatte ein olivgrünes Top an, das entweder so kurz oder dessen dünne Träger so lang waren, dass es ihre Brüste zur Hälfte freigab. Goldbraune Haut unter olivgrünem Stoff und die Sonne in ihrem Haar erregten ihn so sehr, dass er am liebsten sofort seine Wünsche geäußert hätte. Stattdessen sprachen sie über Liebe und Lust im Allgemeinen.

      Borjanka hatte, so erzählte sie, im letzten Semester ein Seminar mit dem plakativen Titel „Die Last mit der Lust“ belegt und dort ein Referat gehalten, in dem es um die Schwierigkeit für die Wissenschaft ging, das Sexualleben der Frauen in Messkurven zu erfassen. Sie begann sogleich, in etwas dozierender Weise Auszüge aus dem Referat zu liefern. Alexander musste sie wohl so aufmerksam angeschaut haben, dass sie in seinem Blick Interesse an ihrem Referat zu entdecken geglaubt hatte. In Wirklichkeit war er von ihrem Anblick so fasziniert, dass er kaum auf ihre Worte achtete. Nur Bruchstücke ihres Vortrages blieben ihm in Erinnerung. Von zwei unterschiedlichen Untersuchungen sprach sie. Bei der einen war von neunzehn Prozent der Frauen die Rede, die beim Sex selten zum Orgasmus kamen. Eine andere Erhebung belegte dagegen, dass 72 Prozent der befragten Frauen ihrem Sexualverhalten ein befriedigendes Zeugnis ausgestellt hätten. „Was meinst du, wie es zu derart unterschiedlichen Ergebnissen kommt?“

      Er muss sie wohl weiterhin interessiert angesehen haben, reagierte aber nicht auf ihre Frage.

      „Alexander“, sprach sie ihn nun direkt an, „hörst du mir überhaupt zu?“

      „Ja, natürlich, aber das Letzte, was du gesagt hast, habe ich nicht verstanden“, versuchte er sich herauszureden.

      Sie wiederholte ihre Frage. Ihm fiel nichts Besseres ein, als eine, wie er dachte, Binsenweisheit zu Umfragemethoden wiederzugeben: „Ich denke, dass Umfrageergebnisse oft auch die Interessen der Auftraggeber berücksichtigen.“

      „Daran habe ich auch schon gedacht. Das würde dann ja bedeuten, dass das Ergebnis, wonach nur fünfzehn Prozent der Frauen mit ihrem Sexualleben zufrieden seien, im Auftrag der Viagraproduzierenden Industrie zustande gekommen ist.“

      „Warum nicht“, hatte er geantwortet. Am liebsten hätte er sie gefragt: „Und welcher Gruppe würdest du dich zuordnen?“ Stattdessen fragte er sie nach weiteren Ergebnissen ihrer Referatsarbeit. Einige Umfragen, unabhängig voneinander, seien zu dem Ergebnis gelangt, dass tragischerweise, wie Borjanka es ausdrückte, Mann und Frau, was ihre sexuellen Bedürfnisse angeht, um so weniger zusammenpassten, je länger ihre Partnerschaft währte. „Gibt es da Genaueres?“, fragte er nach.

      „Ja, natürlich. Unter Frischverliebten herrscht Hochbetrieb. Man schläft häufig miteinander, und die Lust ist in diesem ersten Jahr beinahe gleichmäßig verteilt. Doch schon nach dem dritten Beziehungsjahr hat sich das Bild komplett gewandelt, und die Waage des Verlangens ist gekippt. Die Lust des Mannes ist konstant geblieben – aber nur noch 26 Prozent der Frauen spüren bei sich ein zumindest ebenso großes Verlangen, wie das des Partners. Er will ständig, sie nur noch selten“, zitierte Borjanka aus ihrem Referat. Interessant, dachte Alexander, und wieder hätte er gerne nachgefragt, wie lange sie schon mit – und er stockte innerlich, denn seinen Namen hatte sie noch nicht erwähnt. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. „Graue Theorie, Alexander, interessant ist vielleicht noch, was Frauen und Männer anmacht.“

      „Zum Beispiel“, fragte er nach.

      „Ja, also Frauen mögen Worte und sie lieben Gespräche aus kurzer Distanz, mit Blickkontakt. Der sogenannte frontale Ankerblick direkt in die Augen vermittelt ihnen das Empfinden, dem Partner nahe zu sein.“

      „Soso, frontalen Ankerblick nennt man das also“, und dabei schaute er ihr aus kurzer Distanz in die Augen. Grünblau.

      Als er am Mittwoch nach Frankfurt fuhr, überlegte er, wie er es ihr sagen sollte. „Ich würde gerne mit dir schlafen“, klang blöd, dachte er, denn schlafen wollte er ja nicht. „Ich will mit dir ficken.“ Nein, das hörte sich brutal an.

      Dann passierte es, beinahe. In Gießen, im Parkhaus, in ihrem Auto. Sie standen sich gegenüber, unschlüssig zunächst. Sie erwiderte seinen Blick, endlos, so erschien es ihm. Dann kam sie näher. Ein langer Kuss. Schon glaubte er, sie würde nun in ihr Auto steigen. Das tat sie auch, öffnete aber die hintere Tür, stieg ein und schloss sie wieder. Er lief um das Auto herum und öffnete die Tür. Sie lag auf der Rückbank. Er hockte sich auf den Rand der Bank und schaute sie an. Borjanka hatte ihre Augen geschlossen. Alexander streichelte ihre Beine. Dann schob er ihren Rock hoch. Sie hob ein wenig ihren Hintern an, die Augen immer noch geschlossen. Er zog ihr den Slip aus, und wieder hob sie ein wenig ihren Po an. Er schaute sie an. Jetzt öffnete sie ihre Augen. Ihr Blick sagte es, bevor sie es aussprach: „Alexander, das geht nicht. Ich liebe Oliver.“

      Sie verharrten, wortlos. Er streichelte über ihre Oberschenkel. Sie ließ es zu, schaute ihn an, lächelte. Das entspannte die Situation. Er half ihr beim Anziehen der Unterhose. „Und bitte, hol mich nicht mehr ab“, sagte sie, als sie wieder vor dem Auto standen. „Machs gut.“

      „Du auch.“

      Alexander blieb stehen, wartete bis Borjanka losgefahren war, schaute ihr nach. Kurz vor der ersten Kurve drehte sie sich noch einmal um. Er winkte nicht. Dann ging er zum Gleis drei. In der Nacht träumte er von ihr, weiter, was in ihrem Auto begann. Der Traum endete vorher.

       Neun

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       mein ungutes Gefühl hat sich bestätigt. Ich gehe davon aus, dass Klaus Wagner nicht nur einmal in meiner Wohnung war, seit ich sie verlassen habe. Der verschwundene Computer ist außerdem ein Beweis dafür, dass er sich nicht scheut, in meinen privaten Sachen herumzuschnüffeln. Ein solches Verhalten habe ich allerdings schon früher an ihm beobachtet.

       Eines Tages bat er mich, ins Schlafzimmer zu kommen. Er hatte die Schublade herausgezogen, in der sich meine Unterwäsche befand. Demonstrativ hob er einen Slip hoch, sah mich vorwurfsvoll an und fragte, ob ich denn keine anständigen Unterhosen besäße. Ich lachte, hielt das Ganze für einen Spaß. Ich hatte ein leichtes Sommerkleid an. Langsam zog ich es bis zur Hüfte hoch, sah ihn dabei provozierend an und sagte: „Aber angezogen sieht sie wohl doch ganz hübsch aus.“

      „Das Theater kannst du dir ersparen“, meinte er, nun schon wütend, „oder willst du mir unbedingt zeigen, wie nuttig du dich verhalten kannst?“ Da merkte ich, dass er es ernst meinte. Schnell zog ich das Kleid wieder über meinen Hintern, und um ihn nicht weiter aufzuregen, tat ich demütig und sagte, dass es nur ein Spaß gewesen sei. Dann erklärte ich, dass man so etwas zurzeit trage. Woraufhin er fragte, ob ich denn allen Unsinn mitmachen müsste. Wieder freundlich bat er mich, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. „Setz dich schon einmal hin“, sagte er, „ich koche uns einen Kaffee und dann erzähle ich dir eine Geschichte.“

       Ich wartete. „Die Schwester meiner Mutter“, begann er, „so erzählte mir