ich das hier aufschreibe, erinnere ich mich daran, dass ich Ihnen das schon einmal erzählt habe.
Viel schlimmer wurde alles, als ich am Morgen aus dem Haus am Fischmarkt auf die Straße trat und dort von Klaus Wagner empfangen wurde. Er machte mir Vorhaltungen und unterstellte mir, dass ich nicht nur bei Ihnen geschlafen hätte.
Es tut mir leid, Herr Fabuschewski, aber ich kann im Moment nicht weiterschreiben. Ich erwarte auch nicht, dass Sie sich jetzt schon, hinsichtlich meiner Bitte um Hilfe, äußern.
Herzliche Grüße,
Michelle
Alexander erinnerte sich gut daran, wie es ihn erstaunt hatte, als Michelle Carladis, die ihm seinerzeit die ersten wichtigen Informationen für sein Erstlingswerk geliefert hatte, plötzlich den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, ohne ihr Verhalten genau zu begründen. Klaus Wagner hatte er als einen hilfsbereiten Menschen in Erinnerung, der nicht lange gezögert hatte, als Michelle ihn bat, Alexander beim Einzug in seine neue Wohnung am Wetzlarer Fischmarkt zu helfen. An einem Abend danach, Michelle und er hatten sich bis spät in die Nacht hinein bei ihm in der Wohnung unterhalten, war Michelle nicht mehr nach Hause gegangen und hatte bei ihm übernachtet. Am Morgen hatte er von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachten können, wie Klaus Wagner Michelle Vorhaltungen machte, als sie aus dem Haus trat. Ein wenig hat er Wagner verstehen können, und er hatte überlegt, wie er selbst in dieser Situation reagiert hätte. Er war jedoch davon ausgegangen, dass Michelle Wagners offensichtliches Missverständnis hatte aufklären können. Gut erinnerte er sich auch noch daran, wie er Michelle später auf der Alten Lahnbrücke getroffen hatte und sie überreden musste, mit ihm eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Sie hatte sich vor dem Betreten und nach dem Verlassen des Cafés verstohlen umgesehen, so, als ob sie befürchten musste, beobachtet zu werden. Weil er aber so sehr mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt war, hatte er nicht weiter darüber nachgedacht und Michelle aus den Augen verloren.
Alexander musste nicht weiter überlegen und klickte auf „antworten“.
Liebe Michelle,
noch weiß ich nicht wie, aber dass ich Ihnen helfen möchte, ist für mich keine Frage. Sie können auf mich zählen.
Alexander
„Hallo Alexander, lange nichts von dir gehört.“ Peter, sein Vater, wohnte in der Weißadlergasse, circa einhundert Meter vom Fischmarkt entfernt. Ohne vorher bei ihm angerufen zu haben, war er losgegangen. Es war einer von diesen Sommerabenden, der versprach, einem ausgedehnten Biergartenbesuch nicht im Wege zu stehen. Entsprechend dicht besetzt waren die Tische vor dem Bistro, einem gemütlichen Lokal, direkt gegenüber von Alexanders Wohnung. Alexander wohnte in dem Haus, das seinerzeit das Reichskammergericht beherbergt hatte, an dem Goethe eine kurze Zeit gewirkt hatte. Aber das Geschoss mit Alexanders Wohnung war erst viel später auf das alte Gebäude gebaut worden, wie der Vermieter ihm erklärt hatte. Alexander zögerte, konnte den Besuch bei seinem Vater auch verschieben, tat es aber nicht. Er folgte der kurzen Schwarzadlergasse und bog ab in die Weißadlergasse. „Ja, und ich habe auch schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mich schon so lange nicht mehr bei dir gemeldet habe.“ Das Unangenehme zuerst, dachte Alexander und berichtete von seinem Besuch bei Renate. Peter hörte zu und lächelte wissend, wie es Alexander schien.
„Ich habe es gewusst, seit ihr damals von Sardinien zurückgekommen seid. Sag mir doch bitte in Zukunft Bescheid, wenn du verreist. Dann muss ich mir keine Sorgen machen. Kinder wird man nicht los. Leben sie in der Ferne, macht man sich weniger Gedanken um sie, als wenn sie in der Nähe wohnen.“
Alexander versprach, sich zu bessern. Jetzt war er erleichtert. Er hatte sich dieses Gespräch schwieriger vorgestellt, hatte Angst gehabt, sein Vater würde ihm Vorhaltungen machen, weil er mit dessen Freundin eine Beziehung begonnen hatte. Jetzt dachte er, dass zunächst alles gesagt sei, wusste aber auch, dass sie noch einmal darüber reden mussten. Peter hatte zwei Flaschen Schwarzbier auf den Tisch gestellt, kellerkalt. Pilsener tranken sie beide gerne aus der Flasche, Schwarzbier lieber aus einem Glas. „Zunächst wollte ich dich anrufen, bevor ich dich aufsuche. Ich dachte, dass ich dich vielleicht störe.“
„Warum solltest du mich stören?“
„Eher wobei, Peter.“
„Ach so, ich verstehe. Du willst wissen, wie es um meine Beziehung zu Marina Nowak steht?“
„Nun, ja.“
„Wir sind uns nähergekommen, haben aber nicht die Absicht, zusammenzuziehen. Ich glaube, ich lebe schon zu lange allein, als dass ich mich jemandem unterordnen könnte.“
„Es muss ja nicht Unterordnung bedeuten, will man ein gemeinsames Leben organisieren. Du bist kompromissfähig, wie ich dich kenne, und der Altersstarrsinn kann doch noch ein paar Jahre auf sich warten lassen“, warf Alexander ein.
„Ich glaube, unterordnen war das falsche Wort. Ich meinte eher, dass ich mir ein gewisses Maß an Freiheit bewahren möchte. Und zwar so lange, wie ich diese Freiheit noch nutzen kann. Ich meine damit nicht sexuelle Freiheit, obwohl ich diese auch nicht ausschließen möchte,“ sagte sein Vater.
„Meinst du nicht, dass das sehr egoistisch ist, was du da gerade sagst?“
„Ja, aber nur dann ist es egoistisch gedacht, wenn der Partner oder die Partnerin diese Haltung nicht akzeptiert, beziehungsweise er oder sie nicht für sich dieselben Rechte in Anspruch nimmt.“
„Gut, das hört sich schon anders an.“
„Marina denkt ähnlich. Außerdem hat sie ihren Vater bei sich aufgenommen und damit die Aufgabe übernommen, sich um dessen Belange zu kümmern. Aber du weißt ja, Alexander, nichts bleibt so, wie es ist. Alles ändert sich mit der Zeit, so auch Einstellungen.“
„Mein Vater, der Philosoph.“
„Nein, bin ich nicht, denn dazugehört ja wohl mehr, als ab und zu einen klugen Spruch von sich geben zu können.“
„Das war auch eher ironisch gemeint, Peter. Aber erzähle mir doch bitte, woran du gerade arbeitest.“ Alexander merkte, dass er im Moment nicht weiter nachfragen sollte, was seines Vaters Beziehung zu Marina Nowak betraf.
„Ich habe dir doch von Jäckel berichtet, dem Wetzlarer Rechtspopulisten“, begann Peter Fabuschewski.
„Ja, ich erinnere mich daran, du hast seinerzeit selbst verfasste Flugblätter verteilt.“
„Stimmt! Jetzt arbeite ich an einer Dokumentation über ihn und seine Kontakte zur rechten Szene. Außerdem habe ich darüber nachgedacht, wieder politisch tätig zu werden. Nach dem Fiasko bei den Sozis werde ich aber so bald keiner politischen Partei mehr beitreten, obwohl ich mit den Zielen der Linken sympathisiere, wie du ja weißt.“
„Nenne ein Beispiel“, sagte Alexander.
„Du kennst den Streit um die EU-Verfassung?“
„Ja.“
„Was mich zum Beispiel an der EU-Verfassung stört, Alexander, ist die dort verankerte Pflicht zur Aufrüstung. Es soll zwar ein Amt für militärische Fähigkeiten eingerichtet werden, jedoch keine Institution für Friedensforschung und Konfliktvorbeugung. Auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird nicht für alle Mitgliedsstaaten festgeschrieben. Dagegen werden Dogmen der neoliberalen Wirtschaftsform in den Verfassungsrang erhoben. Ich meine, dass das nicht den Bürgern nutzt, sondern den international agierenden Unternehmen, Banken und Versicherungen. Eine Sozialcharter, die Lohndumping und Arbeitsplatzabbau verhindern könnte, sucht man jedoch vergebens.“
„Das klingt plausibel. Und was dein Vorhaben betrifft, so ergeben sich da vielleicht Möglichkeiten der Zusammenarbeit.“ Alexander berichtete von Renates gegenwärtiger Arbeit und darüber, dass auch er vorhabe, zu diesem Thema zu arbeiten. Dass er selbst auch mit dem Gedanken spielte, politisch tätig zu werden, erzählte er nicht. Auch von Michelles E-Mail sprach er nicht, noch zu vage waren seine Ahnungen.
Er machte einen Umweg, bevor er nach