Reiner Kotulla

Michelle


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Flittchen oder auch Schickse seien Begriffe aus dem Jiddischen, einer Mischsprache der Juden, und bezeichneten eigentlich eine Nichtjüdin. Und die seien ja für jeden jüdischen Mann zu haben gewesen, waren also nichts anderes als Nutten. Diese Tante sei eine Hure gewesen, die es sogar mit Juden getrieben hätte. „Allerdings“, sagte er noch, „dem hat man dann ja bald einen Riegel vorgeschoben.“ Er lachte auf einmal laut, „das mit dem Riegel ist doch gut, nicht?“

       Dementsprechend sei diese Tante auch gekleidet gewesen. Einmal hätte sein Vater beobachtet, wie sie sich auf der Toilette die Unterhose so weit hochgezogen habe, bis man ihren halben Hintern habe sehen können. Ich fragte ihn, wie alt er gewesen sei, als sein Vater ihm das erzählt habe.

      „Dreizehn“, antwortete er. Da ich weiter nichts zu seiner Geschichte sagte, fuhr Klaus fort, dass er sich eine Frau wünsche, die kein Flittchen sei.

       Tags darauf überreichte er mir feierlich ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. Ich war überrascht und machte mich sofort ans Auspacken. Sechs ordentliche Unterhosen. Er verlangte nicht, dass ich eine davon sofort anzog. Am liebsten hätte ich es getan und sie vor seinen Augen so weit hochgezogen, wie seinerzeit die Tante. Stattdessen bedankte ich mich artig. Wieder akzeptierte ich, noch immer in der Hoffnung, ihn und seine Ansichten verändern zu können.

       Eines Nachts wachte ich auf und ging ins Wohnzimmer, da ich von dort Musik hörte. Klaus Wagner saß, mir den Rücken zugewandt, vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm war ein Mädchen zu sehen, das sich gerade den Stringtanga auszog und andeutete, masturbieren zu wollen. Klaus Wagner hatte die rechte Hand in seiner Schlafanzughose. So leise, wie ich gekommen war, entfernte ich mich auch wieder.

       Jetzt, da ich das aufgeschrieben habe, staune ich über mich selbst, meinen Mut. Ich glaube, es stimmt: Aufschreiben befreit.

       Herzlichen Dank!

       Ihre Michelle

      Alexander Fabuschewski sah keinen Grund, auf diese Mail zu antworten.

       Zehn

      Drei Tage vergingen. An jedem Morgen hatte er überlegt, ob er zum Bahnhof fahren sollte, nahm es sich vor, um die Sehnsucht zu lindern, ließ es dann aber doch. Dann, am vierten Tag, öffnete er seine E-Mails und hoffte auf Ablenkung durch eine Nachricht von Michelle.

       von: [email protected]

       Ich hab ihm alles erzählt, wollte ihn verlassen. Er rannte aus unserer Wohnung, sprang ins Auto. Als es klingelte, und ich die Tür öffnete, wusste ich es, ohne dass der Polizist ein Wort hätte sagen müssen. Absicht oder nicht, keiner weiß es.

       Ich fühle mich schuldig. Bitte melde dich nicht.

       Borjanka

       Elf

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       wenn ich heute darüber nachdenke, wie alles hatte so kommen können, glaube ich, dass, ganz allgemein gesehen, die Ursachen für unser Verhalten in unserer jeweiligen Vergangenheit begründet sind.

       So weiß ich von Klaus Wagners Mutter, dass sie nie berufstätig gewesen war. Sie hätte sich, sagte er einmal, immer vorbildlich um seinen Vater gekümmert. Deshalb wollte Klaus auch nicht, dass ich im Bistro arbeitete. Er verdiene genug Geld, dass ich zu Hause bleiben und mich um den Haushalt kümmern könne. Trotzdem verlangte er von mir nicht, dass ich jeden Tag für uns kochte. Oft lud er mich zum Essen in ein Lokal ein, wo ich mir bestellen konnte, was ich wollte.

       Vielleicht, weil ich gerade darüber schreibe, fällt mir etwas ein, was mit dem Essen eigentlich nichts zu tun hat. Eines Abends waren wir beim Wirt am Dom. Sie kennen das Lokal. Dort waren wir zusammen mit Ihnen nach Ihrem Einzug in die Wohnung Am Fischmarkt. An dem Abend, über den ich berichten möchte, hatten Klaus und ich Pizza bestellt und waren schon beim Essen, als die Tür aufging und ein junger Mann im Rollstuhl hereingeschoben wurde. Der Wirt eilte sofort herbei und schob einen Tisch so zurecht, dass für den Mann im Rollstuhl und seine Begleiterin ausreichend Platz vorhanden war. Ich saß mit dem Rücken zu diesem Tisch. Klaus Wagner sprach wenig, schaute immer wieder hinüber zu dem anderen Tisch. Seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass ihn irgendetwas störte. Ich schaute mich um und sah, wie die Begleiterin den Mann im Rollstuhl fütterte.

       Nach einiger Zeit, Klaus hatte seine Pizza etwa zur Hälfte aufgegessen, legte er Messer und Gabel zur Seite und erklärte, dass es ihm nicht mehr schmecke. Er rief den Wirt und bat um die Rechnung. Der fragte uns, ob etwas nicht in Ordnung wäre, und Klaus antwortete: „Durchaus, doch heute ist die Pizza wohl besonders groß geraten.“ Auch ich hatte aufgehört zu essen. Fast kam es mir wie eine Flucht vor, als wir das Lokal verließen. Auf dem Weg bis zu unserer Wohnung sprachen wir nicht.

       Zu Hause goss sich Klaus Wagner ein Wasserglas halb voll mit Whisky und nahm sogleich einen großen Schluck davon. Ich setzte mich ihm gegenüber und wartete. „Mir ist der Appetit vergangen“, begann er auch bald. „Wenn du gesehen hättest, wie der gefressen hat – wie ein Tier. Solche Leute sind doch eigentlich gar keine Menschen. Wahrscheinlich wissen die doch gar nicht, dass sie auf der Welt sind.“

       Ich wusste zunächst nichts darauf zu sagen, erinnerte mich aber an meine Großmutter. Die hatte mir von Hadamar erzählt, dass dort Tausende Menschen ermordet worden sind, die als lebensunwert galten. Geistig oder körperlich behinderte Frauen, Männer und Kinder. Eins dieser Kinder hatte sie persönlich gekannt. Es war körperbehindert, wurde von seiner Mutter liebevoll umsorgt. Eines Tages sei die Mutter von Lieselotte, so hieß das Mädchen, zu meiner Großmutter gekommen und habe ihr die Angst beschrieben, die sie davor hatte, dass man ihre Tochter abholen würde. Meine Großmutter wusste von der Euthanasie und hatte auch schon von Hadamar gehört. Sie riet der Nachbarin, Lieselotte zu verstecken. Beide verabredeten, überall zu erzählen, dass das Kind jetzt bei Verwandten in Italien lebe. Jemand aus der Nachbarschaft jedoch musste wohl etwas beobachtet haben, denn eines Tages hielt ein Lieferwagen vor der Tür der Nachbarin. Drei Männer seien in das Haus eingedrungen, und meine Oma habe kurz darauf die Schreie der Mutter gehört. Einer der Männer habe Lieselotte aus dem Haus und in den Lieferwagen verfrachtet, während die anderen beiden die Mutter festgehalten hätten, die schreiend um sich getreten habe. Meine Großmutter erzählte, dass sie sich heute noch große Vorwürfe dafür mache, weil sie ihrer Nachbarin damals nicht geholfen hatte. Frau Schulz, die Mutter von Lieselotte, habe von diesem Tag an nichts mehr gegessen und sei bald krank geworden, hätte aber jegliche Hilfe abgelehnt. Meine Oma hat sie dann, weil sie die Frau schon drei Tage nicht mehr gesehen hatte, aufgesucht und im Bett liegend gefunden – verhungert.

       Klaus muss noch mehr geredet haben, aber weil ich in Gedanken bei dem war, was meine Oma erzählt hatte, nahm ich zunächst seine Worte nicht wahr. Doch dann hörte ich ihn wieder: „Und was das kostet, und dazu noch die faulen Ausländer, die hier ein Kind nach dem anderen machen, die wir mit durchfüttern müssen.“

      „Entschuldige, ich habe nicht richtig zugehört.“

      „Ach, vergiss es einfach“, war alles, was er noch sagte.

       Im Bett wurde er wieder ganz zärtlich und ich, ich dumme Gans, täuschte sogar noch einen Orgasmus vor.

       Am nächsten Tag, wir saßen zusammen im Wohnzimmer und tranken ein Glas Wein, erzählte ich von meiner Großmutter. Klaus hörte scheinbar interessiert zu. „Eine schlimme Geschichte“, war alles, was er anschließend sagte. Ich aber nahm mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

       Davon demnächst.

       Ihre Michelle

      Was