Zwölf
Am Abend erhielt Alexander Fabuschewski Besuch von seinem Vater. Sie saßen zusammen im Wohnzimmer. Alexander hatte zwei Flaschen kellerkaltes Bier auf den Tisch gestellt. Beide verzichteten auf Gläser. Peter Fabuschewski berichtete darüber, dass er mit Marine Nowak eine Reise nach Mecklenburg unternehmen wollte, weshalb er die Arbeit an seinem Projekt „Rechtsextreme in Wetzlar“ unterbrechen würde.
„Wo genau fahrt ihr hin?“, fragte Alexander.
„Unser grobes Ziel ist Güstrow, wo wir uns vor ein paar Jahren kennengelernt haben. Marina hat dort Bekannte, die ein Haus am Plauer See besitzen. Dort können wir wohnen.“
„Ich verstehe, die alte Heimat.“
„Sicher auch ein Grund. Das ist schon erstaunlich. Wenn mich jemand vor zwanzig Jahren gefragt hätte, was mir zum Begriff Heimat einfiele, hätte ich geantwortet, dass ich mich dort, wo es mir gut ginge, wohlfühlte, egal, wo ich herkäme. Heute würde ich antworten: flaches Land, Sand, Wasser, Birken und Kiefern. Vielleicht liegt das darin begründet, dass ich älter geworden und damit mehr rückwärtsgerichtet denke.“
„So etwas wie Heimweh?“
„Vielleicht, aber als einen Schmerz empfinde ich es nicht. Eher als eine Form von Geborgenheit, die ich fühle, wenn ich mit dem Auto in Richtung Nordosten fahre, das Mittelgebirge hinter mir gelassen habe, und Birken und Kiefern die Autobahn säumen. Dann sehe ich die Wälder meiner Kindheit. Die Kiefern, die wir als Kinder bestiegen hatten, als wären es Berge, in deren Wipfel wir eine Fahne befestigten und eine Urkunde, wasserdicht verpackt, ablegten. Elstern erschienen uns wie Bergadler. Wie schnell aber Kinder umdenken können, erkenne ich daran, dass wir dieselben Kiefern als Zielscheibe für ein Messerwerfen benutzten, das wir wettbewerbsmäßig organisierten.“ Es entstand eine Pause. „Was denkst du“, fragte Peter.
„Ich habe mir gerade selbst diese Frage gestellt.“
„Und, was würdest du antworten?“
„Deiner ersten Aussage stimme ich zu. Dort, wo es mir gut geht, fühle ich mich wohl. Vielleicht bin ich jetzt von deiner Aussage beeinflusst, aber ich denke schon, dass ich die Landschaft des Westerwaldes als mein Heimatland bezeichnen würde.“
„Lebtest du dein ganzes Leben hier, empfändest du niemals das, was ich gerade beschrieben habe.“
„Wir werden sehen, vorerst werde ich hier wohnen, in Wetzlar, wo ich Wohnung und Arbeit gefunden habe.“
„Apropos Arbeit, kannst du schon Näheres über dein neues Romanprojekt sagen?“
„Nur soviel, dass ich eine beziehungsweise zwei Grundideen habe.“
„Lass hören, Alexander.“
„Die Erste hatte ich, als ich mit Renate auf einem Friedhof in Schleswig war und sie mir dort ein geschändetes jüdisches Grab zeigte. Die zweite habe ich durch Michelle bekommen. Du weißt, das ist die Frau, die mir damals bei meinen Recherchen zu meinem ersten Roman geholfen hat. Das sind aber noch sehr vage Vorstellungen. Die zweite Idee hat mit deiner gegenwärtigen Arbeit zu tun, Rechtsextreme in Wetzlar. Aber da muss ich wohl auf deine Hilfe verzichten, wenn du jetzt wegfährst.“
„Das geht auch ohne mich. Ich kann dir den Kontakt zu einer Person vermitteln, die dir weiterhelfen könnte.“
„Das wäre gut.“
„Dann schreib dir mal auf.“
Alexander holte seinen Kalender, den er als Manuskriptbuch benutzte. Er drehte ihn um und begann auf dem Blatt für den 31. Dezember. „Kontaktpersonen“, überschrieb er die Seite.
„Also, der Mann heißt Volker Grün, ist Sozialarbeiter und Lehrer an einer Wetzlarer Gesamtschule. Er wohnt in der Obertorstraße hier in Wetzlar. Du erreichst ihn unter der Telefonnummer 240678. Als Sozialarbeiter hat er es unter anderem mit Flüchtlingen zu tun, denen die Abschiebung droht. In der Schule organisierte er schon einige Projekte zum Thema Rassismus und Neofaschismus. Im Moment arbeitet er an einer Dokumentation über deutsche Burschenschaften, mit dem Thema: „Kein Bock auf deutsche Traditionen“. Wenn du willst, kann ich dich mit ihm bekannt machen.“
„Ich weiß noch nicht. Muss noch weiter darüber nachdenken.“
„Gut, wie du willst. Ich gehe dann mal, muss noch einiges für den Urlaub erledigen.“
Sie verabschiedeten sich. Alexander wünschte seinem Vater einen schönen Urlaub. Der versprach, sich zu melden, sobald sie das Haus am Plauer See bezogen hätten. Schon im Bett überlegte Alexander, wo er mit seinen Recherchen beginnen sollte. Ein Gespräch mit Volker Grün schob er hinaus. Er glaubte noch nicht so recht daran, dass der ihm weiterhelfen könnte. Da täuschte er sich gewaltig.
Dreizehn
von: [email protected]
Hallo Herr Fabuschewski,
bis jetzt bin ich froh darüber, dass Sie meine Nachrichten kommentarlos hinnehmen. Trotzdem gehe ich davon aus, dass Sie sich zu dem, was ich schreibe, Ihre Gedanken machen. Ich hoffe das sogar. Und irgendwann werde ich auch den Kontakt zu meiner alten Umwelt wieder herstellen können.
Zurzeit lebe ich in einer Gegend, die wohl nicht zu meiner zweiten Heimat werden wird. Ich möchte damit nicht sagen, dass die Landschaft hier nicht schön ist. Im Gegenteil, hierher kommen viele Menschen, die ihrer Heimat entfliehen, um Urlaub zu machen. Die Einstellung zu meinem gegenwärtigen Aufenthaltsort hat sicher auch mit meiner derzeitigen Befindlichkeit zu tun. Zu sehr beschäftigen mich die Ereignisse der Vergangenheit. Es ist ja nicht so, dass mich irgendeine fremde Person verletzt hat. Meine Verletzungen stammen von einem Menschen, dem ich nicht nur vertraut, sondern mit dem ich mir auch eine gemeinsame Zukunft vorgestellt habe. Was mich letztendlich zur Flucht getrieben hat, das wissen Sie noch nicht. Deshalb werden Sie auch noch nicht verstehen, wenn ich sage: Weil es mir nicht gut geht, fühle ich mich auch hier nicht wohl.
Meine bisherigen Nachrichten an Sie stellen den Versuch dar, das Charakterbild einer Person zu zeichnen. Das war nicht von Anfang an meine Absicht. Die nachträgliche Lektüre meiner Briefe an Sie führte mich zu dieser Erkenntnis. Und das, so denke ich, macht den therapeutischen Aspekt meines Schreibens aus. Beim Schreiben und Nachlesen erkenne ich die Ursachen für das, was mir passiert ist. Nachdem ich das nun erkannt habe, werde ich weiter versuchen, herauszufinden: Was ist das für ein Mensch, dieser Klaus Wagner?
Jetzt habe ich mich warm geschrieben und kann über etwas berichten, was sich für mich nicht so leicht erzählen lässt.
Ich habe Ihnen schon früher einmal erzählt, dass mich Klaus Wagner sexuell nicht befriedigen konnte. Mein Bericht damals war sehr oberflächlich, weil ich Wagner kaum kannte. Ich hatte gehofft, dass sexuelle Befriedigung das Ergebnis eines längeren Prozesses des sich Kennenlernens ist. Deshalb hat es mir auch nichts ausgemacht, mich selbst zu befriedigen, wenn ich glaubte, Wagner sei bereits neben mir eingeschlafen.
Einmal, ich berichtete bereits darüber, sah ich, wie er sich eine Fernsehsendung anschaute und dabei eine Hand in der Schlafanzughose hatte. Ich ging in mein Bett, konnte aber nicht einschlafen, weil ich mir vorstellte, was Klaus gerade tat. Diese Vorstellung erregte mich so sehr, dass ich das Gleiche tat. Meine Gedanken waren dabei ausschließlich bei ihm.
Um so enttäuschter war ich später. Eines Abends, Klaus war schon zu Bett gegangen, saß ich im Wohnzimmer und las. Ich hatte mich schon gewaschen, die Zähne geputzt und mein Nachthemd angezogen. Ich hielt das Buch mit der rechten Hand, und völlig unbeabsichtigt lag meine linke Hand zwischen meinen Oberschenkeln.
So musste er mich eine Zeit lang beobachtet haben. Plötzlich stand er neben mir und schaute auf mich herab, genauer gesagt: auf meine linke Hand. Ich wollte gerade etwas sagen, als er sagte: „An wen denkst du denn jetzt, wenn du dir einen runterholst? Ich habe dich schon öfter dabei beobachtet,