Reiner Kotulla

Michelle


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der Klingel stand jedenfalls immer noch ihr Name. Er schaute hoch zu den Fenstern, die zu ihrer Wohnung gehörten. Keines war erleuchtet.

      Auf dem Rückweg fasste er einen Entschluss. Sein neuer Roman würde heißen: „Der Leidensweg der Michelle“.

       Vier

      Endlich hatte Alexander Fabuschewski die inneren Zweifel überwunden und wollte sich persönlich informieren. Er fuhr mit dem Auto, hatte sich die Streckenführung ausgedruckt. Trotzdem wurde eine Irrfahrt daraus. Zum Glück konnte er in seinem Wagen das Beifahrerfenster automatisch bedienen und Passanten nach der Kurfürstenstraße fragen. Das nächste Mal fahre ich mit der Bahn, nahm er sich vor. Endlich fand er einen Parkplatz in einer Seitenstraße, wenige Schritte von der Geschäftsstelle entfernt. Auf sein Klingeln hin wurde geöffnet. Er nannte Namen und Anliegen.

      „Rolf Stadler“, stellte sich der Mann vor, er sei Geschäftsführer beim Landesvorstand der Partei, die sich demnächst in „Die Linke“ umbenennen würde. Zu diesem Zeitpunkt wussten das beide aber noch nicht.

      Eigentlich wollte er sich nur einmal ganz allgemein informieren. Als er dann wieder auf die Straße trat, war er eine Probemitgliedschaft eingegangen. Rolf Stadler hatte ihn nach seinen Interessen gefragt. Alexander erzählte von seinem letzten Romanprojekt und davon, dass er sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Bildungssystem dieses Landes beschäftigt hätte. Daraus sei ein allgemeines Interesse an diesem Thema entstanden. Rolf Stadler schlug ihm daraufhin vor, an der nächsten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Bildungspolitik hier in der Geschäftsstelle teilzunehmen. Da könne er sich aus erster Hand über die Zielvorstellungen der Partei in Sachen Bildungspolitik informieren. Alexander berichtete von seinen Schwierigkeiten, mit dem Auto hierher zu finden. Rolf Stadler empfahl ihm, die Bahn zu nehmen. Da könne er bis zum Westbahnhof fahren, dort begänne die Kurfürstenstraße, und in fünf Minuten sei er hier.

      So saß er ein paar Tage später im Zug, gespannt auf das, was ihn in Frankfurt erwartete. Nach Gießen dauerte es nur zehn Minuten, da lohnte es sich nicht, mit dem Lesen zu beginnen oder sich auf die Sitzung vorzubereiten. Aus dem Netz hatte er sich einiges an Material heruntergeladen und ausgedruckt. Das nahm er sich für die Strecke nach Frankfurt vor. Es sollte anders kommen.

      In Gießen stieg er um, hatte daher fünfzehn Minuten Zeit. Im Bahnhofskiosk kaufte er sich die Junge Welt. Der Name der Zeitung täuschte, denn sie hatte Tradition. Er glaubte, die Zeitungsverkäuferin hatte ihn doch ein wenig skeptisch angeschaut. Alexander erschien ihr vielleicht doch ein wenig zu alt als Leser einer Zeitung mit diesem Namen. Er hatte die Wahl, Parterre oder Oberdeck. Alexander blieb unten. Die Sitzreihenformationen wechselten, hintereinander und solche Gegenüber. Er setzte sich auf eine Bank, hintereinander. Vor ihm, auf einer Gegenüber, saß eine junge Frau, die ihr Gepäck ordnete. Blondes Haar, hochgesteckt, breites Gesicht, das den sibirischen Einschlag vermuten ließ, ideal zum Schminken, hatte er letztens jemand sagen hören. Alexander traute sich nicht, sich ihr gegenüber hinzusetzen.

      Züge ruckten nicht mehr an, kaum spürte er Fahrbewegungen. Jetzt hatte er Zeit, suchte und fand die Unterlagen. Dann, plötzlich spürte er die Bremsbewegung. Er schaute hinaus, kein Bahnhof, nur freie Strecke. Ein Haltesignal dachte er und las weiter. Hin und wieder schaute er durch die Lücke zwischen den beiden Sitzen. Jetzt blickte sie ihn an. „Da ist bestimmt etwas passiert, so lange hat er hier noch nie gestanden.“

      „Sie fahren diese Strecke öfter?“

      „Zwei- bis dreimal die Woche.“

      Dann die Durchsage: „Ein Ereignis auf der Strecke zwingt uns zum Halt auf unbestimmte Zeit.“

      „Na toll, das kostet mich Arbeitszeit.“

      Sie nahm ihr Handy und wählte eine Nummer. „Der Zug hält auf freier Strecke, für unbestimmte Zeit, wie der Zugführer meint. Ich komme später.“ Alexander sah noch keinen Grund anzurufen, er hatte noch Zeit.

      „Bestimmt wieder ein Selbstmord, soll hier schon mal passiert sein.“

      „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

      „Ja, gerne.“

      Alexander raffte die Papiere zusammen, verstaute sie in seiner Tasche und setzte sich ihr gegenüber. Sie kamen ins Gespräch, fanden Gemeinsames. Sie war fünfundzwanzig und studierte Pädagogik in Gießen. Ihr leichter Akzent ließ ihn fragen: „Kasachstan?“

      Selten, aber immer wieder, passierte es. Man redete mit jemandem zum ersten Mal und hatte plötzlich das Gefühl, sich schon lange zu kennen. Er sagte es, sie bestätigte. Schnell verging die Zeit. Kaum bemerkte er die Bewegung. Schade, dachte er, schaute auf die Uhr und stutzte. Jetzt kam er doch etwas zu spät, vermutete er.

      Sie arbeitete an einigen Tagen in der Woche in Frankfurt, bediente in einem Café, finanzierte damit ihr Studium.

      „Was machen Sie in Frankfurt?“

      Ohne nachzudenken sagte er die Wahrheit, was ihn wunderte. Sofort spürte er ihr Ressentiment, obwohl sie dieses nicht in Worte fasste. PDS – SED – Stalinismus – Vertreibung von der Wolga nach Kasachstan. Sie schien seine Gedanken erraten zu haben.

      „Ich kann nicht vergessen, was meine Großeltern erlebt haben.“

      Alexander entgegnete nichts, wollte die Stimmung nicht noch weiter trüben.

      „Ich kenne die Kurfürstenstraße. Sie können an der Station Frankfurt-West aussteigen, gehen dann durch den Park gegenüber des Bahnhofs, und schon sind Sie da.“

      Der Zug hielt.

      „Das ist schon Frankfurt-West.“

      Alexander raffte schnell seine Sachen zusammen. „Tschüs.“

      „Tschüs.“

      Warum habe ich sie nicht gefragt, war das Erste, was er dachte, als er auf dem Bahnsteig stand. Er kannte weder ihren noch den Namen des Cafés, in dem sie arbeitete.

      Sie ging ihm in den nächsten Tagen nicht aus dem Kopf. Längst war er wieder zu Hause in Wetzlar, im Haus am Fischmarkt. Dann die Idee. Heute ist Mittwoch. Mittwoch nächster Woche, 17.30 Uhr, Bahnsteig Drei, Gießen.

      Um 17.15 Uhr stand er auf dem Bahnsteig. Er hatte einen Platz an der Haupttreppe gewählt, konnte von hier aus den ganzen Bahnsteig überblicken.

      Sie schaute verdutzt, erkannte ihn aber sofort wieder.

      „Wieder zur Parteisitzung?“

      „Nein, ich bin Ihretwegen hier. Ich habe gehofft, Sie wiederzutreffen.“

      „Sie sind offen, dann bin ich es auch. Wir haben uns letzte Woche gut unterhalten, und dabei möchte ich es auch belassen.“

      Alexander wusste nicht, was er sagen sollte. Inzwischen war der Zug eingefahren. Sie nickte ihm zu und wendete sich zum Einsteigen. In der Tür wandte sie sich noch einmal um. „Mittwochs und freitags arbeite ich im Café Mainbrücke.“

      Am Freitag schon fuhr er nach Frankfurt. Er fand das Café und hatte Glück. Alexander stellte sich vor. Sie hieß Borjanka und hatte in zehn Minuten eine Pause. Sie liefen ein Stück und setzten sich im Park auf eine Bank.

      „Mein Freund und ich, wir studieren beide an der Gießener Uni. Seit einem Monat wohnen wir auch zusammen. Wir werden heiraten.“

      Was sollte er sagen? Eine Stellungnahme verbot sich für ihn, sowohl zu der einen als auch zu der anderen Frage. Stattdessen erzählte er von sich. Erzählte von der Trennung, die nun schon über ein Jahr zurücklag. Von Renate erzählte er nichts. Und auch heute verging die Zeit wie im Fluge.

      „Wann haben Sie Feierabend?“

      Sie zögerte. „Ich möchte eigentlich nicht ...“ Sie ließ offen, was sie eigentlich nicht wollte. „Um sieben.“

      Sie fuhren zusammen zurück bis nach Gießen. Es war wie beim ersten Mal, doch schon zehn Minuten vor der Ankunft des Zuges in Gießen wurden sie einsilbig. Draußen, im Bahnhofsparkhaus, standen sie sich gegenüber.