Reiner Kotulla

Michelle


Скачать книгу

ihm ihr Gesicht zu. Flüchtig berührten sich ihre Lippen. Hastig wandte sie sich ab, fast rannte sie. Sie drehte sich nicht um. Alexander schaute ihr nach, bis sie ihr Auto erreicht hatte und eingestiegen war.

      Er setzte sich in seinen Wagen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Warum verhält sie sich so abweisend zuwendend? Wenn sie sich ihrer Liebe zu ihrem Freund sicher wäre, warum lässt sie sich dann von mir auf den Mund küssen?

       Fünf

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       vielen Dank für Ihre prompte Antwort und dafür, dass Sie mir helfen wollen. Als sehr angenehm habe ich es empfunden, dass Sie mit keinem Wort eine Erklärung dafür von mir verlangt haben, dass ich meine letzte Nachricht so abrupt beendet habe. Ich denke, dass es noch oft so sein wird, da mich meine Erinnerungen immer wieder dazu bringen werden, zu verstummen.

       Klaus Wagner erwähnte den Vorfall vor Ihrer Haustür zunächst nicht mehr. Ich war froh darüber und wollte ihm auch keinen weiteren Anlass zur Eifersucht bieten. In seinem Verhalten mir gegenüber gab es auch Veränderungen, die mich positiv stimmten und hoffen ließen, dass wir nun auch offener miteinander umgehen könnten. Jetzt fällt es mir schwer, diese Veränderungen zu beschreiben, da sie auch sexueller Art waren. Er wurde zärtlicher und ließ mir mehr Zeit, mich auf ihn einzustellen – du meine Güte, wie formal das doch klingt. Aber egal, fragen Sie einfach nach, sollte ich mich ungenau ausgedrückt haben.

       Manchmal dachte ich, er ginge immer noch davon aus, dass wir, Sie und ich, miteinander geschlafen hätten, und dass er deshalb versuchte, „besser“ zu werden. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er mich überwachte oder kontrollierte. Wenn wir uns abends trafen, fragte er zwar stets freundlich, was ich tagsüber getan hätte, kritisierte aber nichts. Dann fragte er mich eines Tages, ob wir nicht zusammenziehen könnten. Er könnte so die Miete für seine Wohnung sparen, dann hätte er auch genug Geld, dass ich nicht mehr in der Kneipe, wie er sagte, arbeiten müsste.

       Zunächst habe ich ablehnend reagiert. Besonders darauf, dass ich nicht mehr im Bistro arbeiten sollte. Wieder tat er sehr verständnisvoll und gab zu, dass seine Eifersucht der Grund für seine Bitte gewesen sei. Und das auch nur deshalb, weil er mich so sehr lieben würde. Ich gab nach, kündigte im Bistro und ließ ihn in meine Wohnung einziehen.

       Beides, so weiß ich heute, waren große Fehler.

       Bis dann

       Michelle Carladis

       PS.: Sollten Sie zu meinen Ausführungen keine Fragen haben, genügt es, wenn Sie den Eingang meiner Mail bestätigen.

      Alexander Fabuschewski entsprach dieser Bitte.

       Sechs

      „Wir werden heiraten“, hatte sie gesagt. Also waren sie, traditionell betrachtet, verlobt. Sie studierten, befanden sich damit in derselben Lebenssituation und bauten sich gemeinsam etwas auf. Er würde sich somit zwischen sie drängen. Hatte er das nicht bereits getan? Und warum war Borjanka, zumindest ansatzweise, darauf eingegangen? Nur weil sie sich gut unterhalten hatten? Hatte er sie bedrängt? Fragen, die ihn nicht ruhen ließen. Das Einfachste wäre doch, so ging es ihm durch den Kopf, die Sache auf sich beruhen zu lassen, zumindest zu warten. Und er wartete.

      Er hatte ihr seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse gegeben. Ob sie die Visitenkarte aufgehoben hatte? Jedes Mal, wenn er ins Netz ging, schaute er nach. Vergebens. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf und dem Sinn. Er fragte sich nach dem Unterschied zwischen Kopf und Sinn. Fühlen und Denken, bildeten sie nicht eine Einheit? Er war davon überzeugt. Zumindest negatives Empfinden beflügelte die Gedanken, ließ sie nach Abhilfe suchen. „Faulheit kann der Motor sein für technischen Fortschritt“, hatte ihm Juri Brelow seinerzeit erklärt, als sie über die Motivation menschlichen Handels gesprochen hatten.

      Jetzt musste er innerlich über das Abgleiten seiner Gedanken lachen. Was hat Borjanka mit Faulheit und technischem Fortschritt zu tun? Mit ihr nichts, aber mit Juri Brelow, an den er so oft denken musste. Juri Brelow, der, hätten sie beide die Chance gehabt, sich länger zu kennen, ein Freund geworden wäre. Seine Gedanken kehrten wieder zu Borjanka zurück. Morgens, wenn er wach wurde und abends, bevor er einschlief, dachte er an sie. Sehnsucht war das wohl, die ihn nach Befriedigung suchen ließ.

      Also fuhr er am Freitag wieder hin.

      Sie verschaffte sich und ihm etwas mehr Zeit, indem sie einen späteren Zug nehmen wollte. Zwei Stunden hatten sie Zeit. Sie erzählte von ihren Großeltern, der Vertreibung nach Kasachstan. Sie berichtete von dem Leid, das sie ertragen mussten, aber auch davon, dass ihr Großvater vorgehabt hatte, wären die Deutschen in ihr Dorf an der Wolga gekommen, mit diesen zusammenzuarbeiten und an ihrer Seite gegen Stalin zu kämpfen. Doch Stalin war ihnen zuvorgekommen.

      Wieder unterhielten sie sich ununterbrochen. Ihr Gespräch hatte nur selten Berichtscharakter, meist äußerten sie ihre Gedanken, Eindrücke und Meinungen. So lernten sie sich kennen. Ein paar Mal berührten sich ihre Hände, als sie zum Bahnhof gingen. In Gießen dann der Kuss, wieder auf den Mund und etwas länger.

       Sieben

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       ich wende mich heute mit einer Bitte an Sie. Ich bin noch nicht wieder in der Lage, in meine Wohnung in der Langgasse zu gehen. Obwohl ich auch Ihnen meinen derzeitigen Aufenthaltsort noch nicht nennen kann, vertraue ich Ihnen.

       Deshalb möchte ich Sie bitten, in meine Wohnung zu gehen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Meine Nachbarin, die auf derselben Etage wohnt, hat einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie bewahrt auch die Post für mich auf. Ich habe ihr mitgeteilt, dass Sie sie um den Schlüssel für meine Wohnung bitten werden. Vor meiner Flucht habe ich alle Topfpflanzen verschenkt, das heißt, ich habe sie einfach vor der Haustür auf die Straße gestellt. Jetzt werden Sie fragen, wonach Sie denn dann schauen sollen.

       Schon Tage vor meiner Flucht habe ich Klaus Wagner aus meiner Wohnung gewiesen. Er hat mir zwar die Schlüssel gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, ob er sich nicht vorher einen Zweitschlüssel hat machen lassen.

       Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen Computer an sich nähmen. Er steht im Wohnzimmer auf dem Schreibtisch.

       Herzliche Grüße

       Michelle Carladis

      Sogleich ging Alexander Fabuschewski zum Parkhaus gegenüber, in dem er einen Dauerparkplatz gemietet hatte. Er fuhr, weil er hinterher noch Einkäufe zu erledigen hatte, zur Hospitalkirche und stellte sein Auto auf dem Haarplatz ab. Frau Peter händigte ihm, ohne Fragen zu stellen, den Schlüssel aus. Auf seine Frage hin erklärte sie, dass sie niemanden beim Betreten der Wohnung beobachtet habe. Alexander begab sich in Michelles Wohnung, die er von einem früheren Besuch her kannte. Im Wohnzimmer, der Schreibtisch – leer. Kein Computer, nur ein Monitor und der Drucker standen dort. Er suchte auch in den anderen Zimmern, jedoch ohne Erfolg. Er verließ die Wohnung und gab den Schlüssel bei Frau Peter ab.

      Wieder zu Hause sandte er sofort eine E-Mail an Michelle ab. Kurz darauf, als hätte sie auf seine Nachricht gewartet, schrieb sie ihm, dass sie das befürchtet habe. Den Computer habe sie zusammen mit Klaus Wagner genutzt. Beide seien über ein jeweiliges Passwort zu ihren Dateien gelangt. Auf das Passwort habe Klaus bestanden. Sie hätte seinen Wunsch akzeptiert, zumal er ihn damit begründet hätte, dass sich in seinen Ordnern Dateien befänden, die Interna über eine politische Organisation enthielten, mit der er zusammenarbeite. Sie habe nicht weiter nachgefragt, da er von sich aus nichts Näheres erläutert habe. Sie habe auch ein Beispiel dafür abgeben wollen, dass