Eberhard Schiel

Die Kinder vom Hühnerberg


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Schikanen erdulden. Zuletzt noch bei seiner Beerdigung. Er wurde, angeblich aus Sicherheitsgründen, nicht in einem Sarg aufgebahrt. Sein Leichnam steckte in einem Papiersack. Auf einem Karren brachte man ihn auf den Friedhof. Einzige Freiheit: Mutter durfte um ihn weinen, aber das ging nicht, denn die Quelle, aus dem das Leid nach außen dringt, war bereits versiegt.

      Die Mutter spricht in dieser Zeit wenig über die Vergangenheit. Sie ist überhaupt recht wortkarg. Erst Jahre später, als die Mangelwirtschaft in der DDR ihre ersten Vorboten sendet, der Strom unverhofft abgeschaltet wird, unterhält sich meine Familie bei Kerzenschein über das, was ich nicht bewusst erlebt habe. Ich bekomme eine Identität. Sie wächst langsam, doch vom “Drei-Mörder-Haus” erfolgt zunächst mein Umzug in die Dienstwohnung des Vaters, Greifswalder Chaussee 6a. Es riecht hier mächtig nach Gas, besonders, wenn der Druck aus dem großen Kessel abgelassen wird. Ohnehin dreht sich alles in der Familie - wenn nicht gerade vom Krieg gesprochen wird - um das Gaswerk. Vater ist als Werbeleiter beschäftigt, Onkel Hans arbeitet auch im Büro, und Opa Schiel verwaltet die Rohrleitungen. Wenn nicht gerade Krieg wäre! Es ist aber Krieg. Darum sage ich als erstes deutlich gesprochenes Wort auch nicht “Mama” oder “Papa”, sondern “Buttertonni”. Gemeint war allerdings kein Depot für Lebensmittel, sondern eher ein maritimer Begriff, der aktuell einen militärischen Anstrich erhielt. Es ging um Kriegsnachrichten. Schließlich horchte Vater jeden Tag am Radio die Meldungen ab, wie viele feindliche Schiffe mit wie vielen Bruttoregistertonnen von unseren U-Booten versenkt worden sind. Der Mann aus dem Volksempfänger machte mich darauf aufmerksam. Von ihm hatte ich das Wort gehört und einfach in Kurzform nachgesprochen.

      Eines Abends, da mal wieder mitten im “Mensch-Ärger-dich-nicht”- Spiel der Strom abgeschaltet wird, legt Mutter verärgert die Brille beiseite, holt tief Luft und zündet dann eine bereits in Reichweite befindliche Kerze an. Und ein Lächeln huscht über ihre ausgetrockneten Lippen. Sie sagt:

      “Weißt du noch, Bübi, wie du - als wir noch auf der Greifswalder Chaussee wohnten - wie du da plötzlich auf den großen Gasbehälter geklettert bist? Du warst noch nicht mal drei Jahre alt. Ach, nein, dann kannst du es ja gar nicht wissen. Also, ich ging in den Garten. Du hinter mir her. Hieltst dich an meiner Kittelschürze fest. Ich ahnte nichts Böses. Mitten beim Unkraut ziehen schaute ich nach dir. Du warst verschwunden. Ich dachte: so ein kleiner Kerl wird sich doch nicht in Luft auflösen. Die Nachbarin, Frau Ewert, rief plötzlich: `Frau Schiel! Der Bübi ist da oben. Das gibt`s ja gar nicht. Der klettert da auf dem Gasbehälter rum. Erschrecken Sie ihn nicht, Frau Schiel. Er kommt von ganz allein wieder runter.` Frau Ewert behielt recht. Du bist wie ein kleiner Dackel zu mir an die Schürze gekrabbelt. So als wäre nichts gewesen.”

      Warum hatte ich diesen Höhenflug unternommen? Religiöse Gründe, etwa dem lieben Gott etwas näher zu sein, schieden aus. Das Schicksal hatte uns während des Krieges zu hart bestraft. Selbst wir Kleinkinder glaubten nicht mehr an Gott. Was war es dann? Etwa der erste Versuch sich abzuheben von der grauen Masse. Einmal ganz oben zu stehen, wo keiner schimpft und tadelt und dich zurechtweist. Oder bin ich einfach der inneren Neugier gefolgt? Wollte ich als Erster in Erfahrung bringen, was es mit den weißen Tannenbäumen auf sich hat, von denen die Erwachsenen immer redeten, wenn es am Himmel dröhnte und brummte. Wahrscheinlich kommt dies der Tatsache am nächsten. Ich dachte, wenn sie davon anfingen, im Himmel ist Weihnachten. Mitten im Frühling. Der liebe Gott beschert seine Engel zu einer anderen Jahreszeit als der Weihnachtsmann die Kinder der Erde. Hätte ja sein können. Das war für mich eine Entdeckung, die nur mir allein gehören sollte. Stolz kehrte ich von der Stufenleiter meines ersten Erfolges wieder zurück in den Garten.

      Später, viel später, dringt die wahre Geschichte über die Tannenbäume am Himmel ans Licht der Erkenntnis. Dazu bin ich im März 2013 mit einer Zeitzeugin verabredet. Sie lebt im “Betreuten Wohnen”, ist 88 Jahre alt und seit 70 Jahren meine Schwester. Inge hat sich gut auf die Fragen ihres Bruders vorbereitet. Auf dem Tisch liegen Briefe, alte Zeitungen und Fotos ausgebreitet. Wir kommen über die Ereignisse des Bombenangriffes ins Gespräch. Inge erzählt:

      Der 6. Oktober 1944 war einer jener hellen und goldenen Herbsttage, wie sie bei uns oft zu erleben sind. Die Insel Hiddensee mit dem Leuchtturm auf dem Dornbusch lag zum Greifen nahe. Besucher am Hafen freuten sich über die weite Sicht zum “Söten Länneken”. Arglos gingen die Leute in der Mittagssonne spazieren. Die wenigsten Stralsunder hatten die 11-Uhr-Luftlage im Radio gehört. Sie besagte, dass ein starker Fliegerverband über der Nordsee in Richtung Schleswig-Holstein gesichtet worden sei. Um 11.45 Uhr gingen die Sirenen. Vollalarm für Stralsund. Um 12.30 Uhr fielen die ersten Bomben auf die Altstadt. Bei uns am Gaswerk wurde der Sportplatz Süd getroffen. Wir standen große Ängste aus. Es schlug rechts und links von uns ein. Wir hörten die Detonationen. Im Luftschutzkeller fiel der Putz von der Decke. Der Fußboden erzitterte. Wir zuckten unwillkürlich zusammen, wenn es krachte, mir wurde übel. Jemand sagte: `Wenn eine Bombe im Gasbehälter explodiert, sind wir verloren.` Diese Worte beherrschten den Raum. Dann Schweigen. Jeder war mit den Gedanken bei seiner Familie. So ging das eine halbe Stunde lang: Immer nur Abwarten auf das, was über uns geschieht, und die Hoffnung im Herzen tragen, dass die Unsrigen vom Bombenterror verschont bleiben. Dreißig Minuten wurden eine Ewigkeit. Auf einmal Stille. Ende des 1. Aktes. Zwei weitere folgten, wie im Theater, doch das hier war kein Theater, es war grausame Wirklichkeit. Plötzlich verstummte das Geräusch der Motoren. Endlich hörte das entsetzliche Getöse der Flugzeuge auf. Sie waren wohl abgedreht. Hatten ihren Auftrag erfüllt. Papa bestätigte unsere Vermutung. Er ging aus seinem Büro in den Luftschutzraum und rief uns zu: `Der Angriff ist vorbei. Kommt raus!` Unser Vater machte sich sogleich Sorgen über Oma Matzanki, die im Großen Diebsteig wohnte. Die Gegend sollte, wie man erfuhr, stark betroffen worden sein. Er lief so schnell er konnte zu ihr. Sie war nicht mehr da. Papa sah noch die Rauchschwaden, die schwelenden Deckenbalken, verkohlte Möbelstücke, von der Glut versengte Textilien. Er sah die Trümmer, aber kein Haus. Omas Heim war eine Adresse für Leichen geworden. Papa hatte anschließend überall nach ihr gesucht und sie nicht gefunden. Keiner wusste genau, wo die Toten des Bombenangriffs aufgebahrt wurden. Es waren zu viele. Man sprach schon von über achthundert Opfern. Unser Vater rannte verzweifelt durch die Straßen der Stadt, drängelte sich an blutverschmierten Leibern vorbei, an Leuten, die völlig geschockt auf ihrer letzten Habe saßen. Auf seinem Weg nach Nirgendwo sah er brennende Häuser, Rauch geschwärzte Gesichter, halb verrückt gewordene Menschen. Er taumelte von Leichenhalle zu Leichenhalle, fragte im Krankenhaus, in der Not-Ambulanz und bei ihm bekannten Ärzten nach dem Verbleib unserer Oma. Die Sanitäter, die er um Auskunft bat, hatten nicht einmal Zeit ihm zu antworten. Papa drehte die grausam verstümmelten Körper eigenhändig um, sah in die Grimassen des Todes und wurde selbst halb irre. Im Chor der kleinen gotischen Johanniskirche endete seine Odyssee. Der Schluss entbehrt nicht einer makabren Fußnote der Geschichte. Unser Vater war erleichtert, Oma Matzanki wenigstens als Leiche identifiziert zu haben, damit er sie christlich beerdigen konnte. Welch ein Wahnsinn, nicht wahr?

      Ja, liebe Schwester, das war wirklich der reinste Wahnsinn, von dem ich mich jetzt gleich verabschiede, um wieder in die Haut des unschuldigen Kindes zu schlüpfen.

      2. Kapitel: Die Russen kommen

      Monate später marschierte die Rote Armee in Stralsund ein. Mein Vater machte, wie eingangs erwähnt, die kürzeste Bekanntschaft mit der russischen Besatzungsmacht. Ein solcher Zustand widerstrebte seinen politischen Ambitionen. Sein Weg führte ihn schließlich vom Evangelischen Jünglings-Verein hin zur Romantik, von dort unter dem Kaiser zum Patriotismus und letzten Endes, seit dem Machtantritt der Nazis, zu militanten Gefühlen. Er träumte von Deutschlands Größe, von der Tilgung der Schmach am Ende des I. Weltkrieges. “Der Verrat durch den Feind im eigenen Land darf künftig nicht mehr zugelassen werden”, lese ich in seinen Tagebüchern. Er glaubte bis zum Schluss ebenso an den Endsieg wie an das Evangelium, an Hitler wie an Gott. Der Nationalsozialismus war ja gerade für ihn, dem typischen Vertreter des deutschen Kleinbürgertums - zumindest in der Theorie - irgendwie maßgeschneidert. Raus aus der Deckung, sich wieder als starke Militärmacht der Welt präsentieren, zum Angriff übergehen, Rache für Versailles nehmen, das war ganz nach dem Geschmack eines breiten Teils der Bevölkerung. Nur der Erzfeind fehlte zunächst, bis Hitler ihn am “Bolschewistischen