wusste Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, denn sein Schwager war während der Nazizeit als Jurist in der Stadtverwaltung tätig. Onkel W. nahm an den wöchentlichen kommunalpolitischen Besprechungen teil, wie aus den entsprechenden Akten ersichtlich ist. Gelegentliches Thema: “Maßnahmen gegen Juden”. Was meinen Vater nun veranlasst hat Mitglied der NSDAP zu werden, finde ich ebenfalls in Unterlagen des Stadtarchivs. Ihm wurde mehrmals eine beantragte Gehaltserhöhung verweigert. Als Pg bekam er sie sofort. Denunziert oder anderswie geschadet hat er niemanden. Im Gegenteil. Mutter erwähnte diesbezüglich, er habe sich in den letzten Kriegstagen für einige Kollegen des Gaswerks eingesetzt, damit sie nicht zum Landsturm gezogen wurden. Solch ein Hilfsdienst setzt zwar einen gewissen Einfluss in der Partei voraus, aber in diesem Fall auf unterster Ebene. Für die Deportation jüdischer Mitbürger Stralsunds - der ersten in Deutschland überhaupt - zeichnete eine anderer Genosse verantwortlich, der OB Dr. Werner Stoll. Ihm krümmte man meines Wissens in Schleswig-Holstein, wohin er sich vor dem Einmarsch der Russen absetzte, kein Haar. Vater dagegen blieb in Stralsund, zumal ein früherer Versuch sich in Bielefeld eine Arbeitsstelle zu suchen fehlschlug. Ein Mann mit kinderreicher Familie war damals nicht sehr begehrt auf dem Arbeitsmarkt. Also hieß es aushalten bis die Russen kommen. Sie schikanierten ihn, er hielt dem Druck nicht mehr stand, verabschiedete sich von dieser Welt, die er nicht mehr aushalten mochte. Für uns hatte sein Entschluss schwerwiegende Folgen, die das ganze weitere Leben in der Familie beeinflussten.
Nun waren wir nur noch zu Viert. In kalten Wintertagen, da wir alle näher an den Ofen rücken, erzählen meine älteren Geschwister und die Mutter, wo der Rest geblieben ist. Meine Ohren sind auf Empfang gestellt. Das Kleinhirn erhält den Befehl: “Jetzt speichern!” So bringe ich in Erfahrung, wie meine Schwester Inge mit Renate und Hans-Joachim aufwuchs. Alle drei erblickten nach einander das Licht der Welt, zwischen 1924 bis 1926. Sie bildeten ein Dreigestirn, das eine besonnte Kindheit verlebte. Dafür sorgte schon der umtriebige Vater. Er bastelte für sie einen Kaufmannsladen, eine Puppenstube, ein Kasperle-Theater, ein Segelboot. Er weihte Jochen in die Geheimnisse der Laubsäge-Arbeiten ein, er sang mit seinem Trio, machte eben all das, was die Herzen der Kinder höher schlagen lässt. Auf vielen Fotos sieht man die Geschwister zusammen spielen. Sie schienen unzertrennlich zu sein. Da schlug es zum ersten Mal in der Familie ein. Ich wurde schmerzlich daran erinnert als ich vor Jahren einige Aufnahmen von Renate fand. Sie lagen in einer Lohntüte der Deutschen Reichsbahn. Auf der Rückseite des Umschlags stand geschrieben: “Sicherheitsposten lasst Euch nicht ablenken!” Fettgedruckt am seitlichen Rand liest man: “Versichere Dich bei der Deutschen Reichsbahn-Sterbekasse.” Ein ungewollter Bezug zu Schwester Renate. Ihre Fotos erschrecken mich. Ich hole den Tod ans Tageslicht, und erkenne das Innere der Heiliggeistkirche. Sie ist meine Versöhnungskirche gewesen. Auf einem der Fotos liegt Renate friedlich schlummernd in der offenen Bahre, flankiert von vier Kandelabern. Die Kerzen sind schon angezündet. Rings um den Sarg Blumenkränze. Auf dem weißen Leichentuch ebenfalls frische Blumen. Die Trauerfeier steht kurz bevor. Ich schaue in ihr Gesicht. Es ist unterhalb der Nase durch dunkle Flecken gekennzeichnet. Da schläft keine Prinzessin. Renate war nicht hübsch. Ob sie darunter gelitten hat? Ich weiß es nicht. Kinder, die von der Natur etwas benachteiligt werden, sollen es in der Schule mitunter nicht leicht haben. Bei Renate sah man wohl darüber hinweg, weil ihre nette Art ihr viel Sympathie einbrachte. Jedermann hatte sie gern. Die ganze Klasse nahm von Renate Abschied. Sie starb an einem sonnigen Apriltag an Scharlach. Meine Mutter fehlte bei der Beerdigung. Aus biologischen Gründen. Ich war auf dem Vormarsch. Mein Herzschlag setzte schon Signale. Ich funkte in die aus den Fugen geratene Welt, wie dicht manchmal Leben und Tod nebeneinander liegen können. Mutter wurde im schwarzen Kleid zur Geburtsklinik gefahren. Am 28. August um 22.15 Uhr war es soweit. Ich kam zur Welt. Manchmal, aber nur an bestimmten Tagen, denke ich, die Mutter wird unter den gegebenen Umständen nicht ganz bei der Sache gewesen sein. Sie hat mich nur halb geboren. Der andere Teil wird irgendwann nachgeliefert. Doch ich warte vergebens auf ein Wunder.
Ein Jahr nach meiner Geburt meldete sich Jochen freiwillig an die Front. Er wollte bei der Neuordnung der Welt unbedingt dabei sein. Je früher, desto besser. Den Kurs hatte ihm der Vater bereits abgesteckt. Zuerst rein in die Hitler-Jugend. Dort sollte er für Ordnung und Sauberkeit auf den Straßen sorgen. In jeder Beziehung.
Als ich viele Jahre später meine Schwester Inge fragte, was denn damals unter Ordnung zu verstehen war, sagte sie: “Na, Jochems Trupp hat aufgepasst, dass sich Jugendliche auf der Straße gesittet gegenüber den Erwachsenen benehmen.” Dann war die Hitlerjugend eine Ordnungspolizei der Minderjährigen? Im Warschauer Ghetto wurde für Männer und Frauen auch eine Ordnungspolizei eingesetzt, für Juden, die erschossen wurden, weil sie sich nicht anständig gegenüber der SS benommen hatten. Aber lassen wir das Thema. Ich habe darüber ein Buch geschrieben. Mir wird schlecht, wenn ich etwas über die sprichwörtliche deutsche Ordnung höre oder lese. Gerade im Zusammenhang mit den Gräueltaten der SS.
Ja, wie ging es weiter mit unserem Jochen. Was die schweigsame Mutter nicht sagt, erzählen Erinnerungsstücke von Jochen. Mein Vater hatte übrigens für jedes Kind ein Album und ein Tagebuch eingerichtet. Bei Jochen sind einige Zeichnungen eingeklebt worden. Vielleicht galten sie als Hausaufgabe im Zeichen-Unterricht. Dennoch befremdet mich die Studie des kleines Künstlers Jochen Schlei, die da unter titelt ist: “ SA marschiert, die Reihen fest geschlossen!” Den Eintritt in die HJ kann man wohl noch als normal für die damalige Zeit betrachten, aber die Begeisterung, mit der der Pimpf Hans-Joachim über das Lagerleben berichtet, ist schon arg bedenklich zu nennen. Mein Vater macht aus Jochems Schilderung einen Artikel für die Zeitung. Sie bewegen sich beide in eine verderbliche Richtung. So kam es schließlich, wie es kommen musste. In der Schule wird der Unterricht langweilig, weil einige ältere Kameraden, mit denen man zufällig befreundet ist, bereits abenteuerliche Briefe aus dem Feld schreiben. Die Leistungen lassen nach. Auf dem letzten Zeugnis vor dem Abmarsch an die Front steht nur einmal das Prädikat “gut” vermerkt. Im Sport natürlich. Ein großer Sportler wollte Jochen werden. Nun ist er Soldat.
Die erste Feldpostkarte erreicht die Heimat. Auffällig der dicke Stempel mit dem Aufdruck: “Zarewitsch-Einfallstor zum Warthegau - Alte deutsche Stadt des Ostens.” Jochen schreibt am 13. Oktober 1943:
“Liebe Eltern!
Zum Ersten Mal bin ich an Eurem Geburtstag nicht anwesend. Als Soldat im Wartheland grüße ich Euch auf das herzlichste. Früher kamen wir Kinder dann immer mit einem Blumenstrauß an Euer Bett und gratulierten. Nun treffen von Euren großen Kindern aus der Ferne Glückwünsche ein. So läuft die Zeit dahin.”
Von meinem ältesten Bruder sind nur wenige Briefe erhalten geblieben. Er schreibt über die Kameradschaft im Grenadier-Ersatz-Bataillon 458, über einstige Weggefährten, die entweder inzwischen befördert wurden oder schon gefallen sind. Er schreibt ferner über die schönen Tage des letzten Fronturlaubs, von Onkel Willis nettem Paket. Gelegentlich findet man zwischen den Zeilen einen Hauch von Romantik, gewürzt mit einer Priese Gefahr. Ansonsten Monotonie des Alltags. Wenig Ablenkung. Der Bau eines riesigen Bunkers für 200 Soldaten wird erst kurz vor seinem Tod fertig. Jochen sieht unter Tage den Film: “Der kleine Grenzverkehr.” Wo der Junge sich den Film ansieht, an welchem Abschnitt der Front er genau in Stellung ist, das bleibt militärisches Geheimnis. Er schreibt eben aus dem Osten. Das genügt. In einer Zeile ist von einem Fluss die Rede, der zum Baden einlädt. Mehr hat den Zivilisten an der Heimatfront nicht zu interessieren.
Wichtig für den Grenadier Jochen Schlei scheint die Beantwortung der Frage zu sein, ob denn das Paket mit den Rauchwaren unversehrt zu Hause angekommen ist. Diese Anfrage steht fast übermächtig im Raum. Mitunter gewinnt man beim Lesen der Briefe den Eindruck, unser Jochen wäre nur an der Ostfront, um für die Daheimgebliebenen Zigaretten zu besorgen. Hierzu gesellt sich noch das permanente Versprechen an meinen Bruder Wolfgang, ihm endlich die Splitter einer echten russischen Granate zu schicken. Groß aufgebauscht wird eine kleine Beinverletzung Jochems. Bald meldet er nach Hause: “Ich kann schon wieder Kopfstand machen und laufen wie ein Windhund!” Damit ging er sogar über die Forderungen seines Führers weit hinaus. Schnell wie ein Windhund sollte Grenadier Schlei schon sein, aber einen Kopfstand machen, bei dem geringen Sold, wäre nicht nötig gewesen. Hart wie Leder und zäh wie Krupp stahl war Jochen auch. Alles Eigenschaften, die sowohl für den Angriff als auch für den Rückzug zu gebrauchen sind. Nur