Eberhard Schiel

Die Kinder vom Hühnerberg


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      3. Kapitel: Umzug auf den Hühnerberg

      Aber traben wir wieder zurück zum Jahr 1945. Es ist die Zeit, da allmählich im Nebel der vorüberziehenden Geschichte erste eigene Erinnerungen haften bleiben. Sie drängen zaghaft und ungeordnet ans Tageslicht, vermischen sich mit den Erzählungen der Mutter und Geschwister. Man weiß nie, wer dieses oder jenes zu dem Erlebten beisteuerte.

      Als der Krieg endlich zu Ende geht, die Russen am 1. Mai vor den Toren unserer altehrwürdigen Hansestadt stehen, da beginnt für uns eine neue Zeitrechnung. Wir müssen zunächst die Dienstwohnung in der Greifswalder Chaussee räumen. Die lieben Nachbarn helfen dabei. Sie schieben Mutters Kochtöpfe vom Herd, beschimpfen sie, rufen: “Nazis, weg von hier!”

      Im Hause lärmen die Sieger. Sie bringen Läuse, viel Alkohol und eine gehörige Portion Wut mit. Im Bauch die Wut über das Leid, das ihnen deutsche Truppen in ihrem eigenen Land zugefügt hatten; und in der Kehle der Wodka, der ihren Siegesrausch unberechenbar macht. Draußen steht ihr Panjewagen. Alles, was irgendeinen Wert besitzt, wird aufgeladen. Wir verlieren auch den Gasherd und den Kühlschrank. Man konnte froh sein, wenn man am Leben blieb. Für einen Moment glaubten wir schon unser letztes Stündlein hätte geschlagen. Der Kuckuck an der Wand im großen Schlafzimmer schnellt hervor. Er macht Meldung wie spät es ist. Ein Rotarmist hört den Ruf. Er staunt und staunt und findet keine Erklärung dafür. Seine Augen wandern im Zimmer hin und her. Plötzlich sieht er den kleinen Kerl im Gehäuse verschwinden. Der Russe ruft seine Kameraden, die mit dem Aufladen der Möbel beschäftigt sind. Gemeinsam schütteln sie nun vor dem Schweizer Präzisionswerk den Kopf. So etwas haben sie noch nie erlebt. Mutter muss die Zeiger der Uhr immer wieder so stellen, dass der Vogel die Zeit verkünden kann. Sie stehen ehrfurchtsvoll vor dem Kuckuck, bis einer, der am wenigsten begreift, seine halbvolle Wodka-Flasche auf den Tisch knallt, sich den Schaum vom Mund wischt und die Uhr von der Wand reißt. Er zertrampelt auf dem nackten Fußboden - der Teppich liegt schon auf dem Panjewagen - den Kuckuck. Ende der Vorstellung,

      Die Demütigung der Kleinbürger ist aber noch nicht beendet. Sie fängt erst an. Uns werden zwei jämmerliche Wohnungen angeboten. Die Entscheidung fällt für den Hühnerberg 3. Im Juni 1945 bringt ein Leiterwagen unsere letzte Habe zu einer furchtbaren Kate, die für zehn Jahre unser Heim sein wird. Wir schlafen und wohnen in einem Zimmer, etwa 12 qm groß. Dort finden zwei Betten Platz, ein Kleiderschrank, ein Tisch, vier Stühle, eine Wasch-Kommode, ein wackliges Regal. In einem Bett schläft mein Bruder mit mir, im anderen die Mutter und Inge. Der zweite Raum ist unbewohnbar. Die Tapete hängt schlaff in Streifen herunter, der Schwamm hat sich dort eingenistet, nachts hört man nagende Besucher, es stinkt nach Fäulnis und Moder. Der Raum, der eigentlich als Schlafzimmer gedacht war, wird Abstellkammer für die von den Russen demolierten Möbel. Zwischen den beiden Stuben ein zugiger Durchgang. Wahrscheinlich hat man die Haustür erst zum Ende des Krieges auf die Hofseite hin verlegt. Wir sind von Kälte und Nässe umgeben, verfügen weder über fließendes Wasser noch über eine Toilette. Man muss über den Hof runter zum Wirtschaftsgebäude, gleich neben der Friedhofsmauer gelegen. In der einen Hälfte hat Milchhändler Kohagen sein Pferd untergebracht, in der anderen befindet sich der Waschraum und das Plumpsklo. Man hört auf dem stillen Ort mitunter Schreie der Angst. Sie kommen vom Friedhof. Meine Schwester hört sie. Als Inge wieder in die Wohnung zurückkehrt, will sie gerade davon erzählen. Da poltert es auch schon an der Tür. Unsere Tante Deti bittet verzweifelt um Einlass. Sie zittert am ganzen Leib. Keuchend sagt sie: “Laßt mich schnell rein, ein Russe ist hinter mir her. Er wollte mich vergewaltigen. Ich habe dem betrunkenen Kerl die Waffe abgenommen. Da ließ er von mir ab, aber...” Tante Deti zeigt uns die Maschinenpistole. Mutti rät ihr, die Waffe zu vergraben. Erst allmählich zieht wieder Ruhe ein. Die Tante verabschiedet sich von uns. An einem der darauf folgenden Tage erzählt man beim Fleischer, es sei ein Russe zur Strafe erschossen worden, weil er ohne Waffe in die Kaserne kam.

      Die Gerüchteküche brodelt. Auch davon ist die Rede, dass ein Russe einen Stralsunder verfolgte, der Kohlen aus seinem Versteck holen wollte. Alltag in der Sowjetischen Besatzungszone. Auch mein großer Bruder kriecht durch das allbekannte Loch in der Mauer der Zuckerfabrik, wo riesige Kohlenberge lagern. Er sorgt für eine minimale Verkleinerung. Er sackt sich ein paar Briketts ein, versteckt seine Beute auf dem Friedhof und holt sie im Dunkeln ab. So haben es viele Leute in der Franken-Vorstadt gemacht. Einige wurden erwischt. Schüsse peitschen durch die Nacht. Eine Frau R. aus dem Sichelweg soll, so heißt es, dabei von Russen erschossen worden sein. Das Gerücht breitet sich in der Stadt aus. Es wird gepflegt und gehegt und ausgebaut. Der Groll gegen die Besatzer wächst. Alles Schlechte schiebt man den Russen in die Stiefel. Die Rotarmisten führen in Wirklichkeit zwar bei den Vergewaltigungen die Tabelle der Kriminal-Statistik an, aber bei Mord und Diebstahl haben die Stralsunder mehr Verbrechen begangen. Die tödliche Kugel auf Frau R. stammt auch nicht aus dem Lauf eines schießwütigen Russen. Ein einheimischer Polizist hat sie versehentlich getroffen, lese ich in den Akten.

      Einigen Leuten war es allerdings auch völlig egal, wie man stirbt, ob an Typhus, Hunger oder Gewalt. Die Lethargie weicht erst allmählich aus den Köpfen. Erste Versuche in dieser Beziehung vermerkt ein Chronist am 27. Mai 1945:

      “Heute ist Sonntag. Man merkt nichts davon. Es wird voll gearbeitet. Arbeit ist genug da, allein es fehlt an freiwilligen Arbeitskräften. Darum haben kräftig gebaute Hilfspolizisten, die eine rote Armbinde tragen, Befugnis erhalten, arbeitsfähig aussehende Passanten von der Straße zu holen. Wir erleben eine wahre Menschenjagd. Die Straßen sind wie leergefegt. Man kommt sich vor wie zu Zeiten der schwedischen Besatzung. Das Volk greift indes zur Gegenwehr. Viele Stralsunder gehen plötzlich am Stock. Andere tragen gewaltige Verbände am Arm. Es sieht aus als hätte sie alle ein Erdbeben getroffen.”

      Ja, da ist er wieder, der alte listige Hansegeist, der an die berühmte Laternen-Ballade erinnert. So gefallen mir meine Stralsunder, wenn sie mit List und Tücke Schwierigkeiten umgehen und dabei ganz nebenbei den Stoff für lustige Geschichten liefern.

      4. Kapitel: Mein Bruder Wolfgang

      Mein erstes Bild, das sich nach dem Kriege in meinem Hirn festsetzt, ist ein Gang zum Bäcker Krämer. Ich gehe an der Hand der Mutter in die Fährhofstraße. Dort liegen ganze Bogen von Briefmarken. Sie bilden allesamt die gleiche Person ab, einen Mann, den ich nicht kenne. Mutti sagt lakonisch:”Das war unser Führer. Er hat uns verführt, ihm sind wir gefolgt, und nun liegt er im Dreck, dieser Verbrecher. Geschieht ihm recht. Seine Marken sind nicht mehr einen Pfennig wert. Die Leute haben sie aus dem Fenster geworfen so als klebe Gift an den Postwertzeichen.”

      Wir gehen weiter. Am Bäckerladen steht eine riesige Schlange. Sie warten auf Brot. Wann es welches gibt, weiß keiner. Inge soll Mutti irgendwann ablösen und mich mitnehmen. Es dauert eine Ewigkeit. Endlich sind wir an der Reihe. Inzwischen hat mich der Hunger gepackt. Ich bohre mit dem Finger ein Loch in das frische, dampfende Brot. Inge zeigt dafür Verständnis. Wir bringen die Verpflegung in unterhöhltem Zustand nach Hause. Mutti schweigt. Ich verdrücke mich in den zweiten Raum. Von den ersten zwei Jahren ist mir ansonsten kaum etwas in Erinnerung geblieben. Ich war ja noch zu klein. Als ich etwa fünf Jahre alt bin, betrete ich dann bewusst den Boden, auf dem die Geschichte der Nachkriegszeit sich abspielt. Ich lege allmählich die Krücken beiseite, auf die ich mich zuvor stützen musste.

      In dem furchtbaren zweiten Raum unserer Wohnung ist es mir zu ekelhaft wegen der Ratten. Sie dürfen nicht die einzigen Untermieter bleiben. Um ihnen Angst einzujagen, schaffe ich mir eine Katze an; gleich darauf, zur Zierde, ein Aquarium. Auf Empfehlung eines Freundes. Ja, inzwischen habe ich mich irgendwie nach Freunden umgesehen, und dafür gibt es auf dem Hühnerberg eine wahre Fundgrube. Wir Kinder vom Hühnerberg sind alle - der eine mehr, der andere weniger - arm dran. Der Sturm des Krieges hat sie hierher geweht und an Land gespült. Ihre Eltern haben das nackte Leben retten können, sonst nichts. Aber gerade diese soziale Stellung macht uns untereinander solidarisch. Wir halten zusammen. Andere Kinder aus den benachbarten Straßen und Gassen fühlen sich zu uns hingezogen. Da entstehen Freundschaften, feste Bindungen für eine Ewigkeit. Egal, ob Junge oder Mädchen, wir sind einander zugetan. Ein Mädel hütet bei uns das Tor, ein Junge spielt mit Puppen, na und?