Katherine Collins

Kein Duke zum Verlieben!


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ein kleines Mädchen! Alles, was Sie getan haben und sogar was Sie nicht getan haben, hat sie verletzt! – Und Sie tun es immer noch, indem Sie es nicht einmal für nötig halten, ihre Briefe zu öffnen!« Nur mühsam hielt sich Suffolk zurück. Er atmete schwer, und nur die energische Hand Annabells erinnerte ihn an das höhere Ziel. Es gab keine Erwiderung zu dieser Anklage, zumindest keine angemessene, weshalb Nathan schwieg. Er hatte nicht geahnt, dass Annabell diesem Mann so ungeheuer wichtig war. Eigentlich hatte er sich nicht einmal gefragt, wem Annabell etwas bedeutete. Er hatte immer angenommen, dass sie außer ihrer Schwester Sarah und den Windermeres keine weiteren Bekannten hatte. Zynisch schalt er sich einen Narren. Er hatte die Verbundenheit der Windermere-Mädchen mit seiner Frau erlebt und wusste, dass sie nicht nur mit Madeleine engen Briefkontakt hielt. Warum sollte sie nicht auch in ihrem Schwager einen entsprechenden Beschützerinstinkt auslösen?

      »Marcus, bitte lass uns gehen!«

      Mit einem letzten, zornigen Blick zurück folgte Lord Suffolk Annabell, die ihn leise, aber bestimmend für seinen Ausbruch schalt.

       Windermere Castle, Sommer 1789

      »Ich kann Marie nicht finden!«, quengelte Ninette Windermere und zog ungeduldig an der Hand der großen Cousine. Annabell lächelte nachsichtig auf das elfjährige Mädchen herab. Eigentlich sollte die Gouvernante, Miss Croven, auf die drei Mädchen aufpassen, genau genommen sie aus dem Blickfeld der Gäste halten, die zu Lady Windermeres Hausparty erschienen waren. Leider waren die beiden Kinder des Hauses der überforderten Angestellten entwischt, und so hatte diese Annabell gebeten, ihr bei der Suche zu helfen. Das junge Mädchen half der Gouvernante gern, da sie wusste, welchen Ärger es geben würde, sollten Lord und Lady Windermere das Versäumnis der Angestellten bemerken. Annabell strich Ninette über den blonden Schopf und versicherte ihr: »Wir finden sie! Keine Angst. Wo hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«

      »Wir waren im Garten, wir haben Verstecken gespielt!«

      Annabell Scott seufzte leise. Verstecken war Maries Lieblingsspiel, leider nahm die Fünfjährige das Spiel sehr ernst, gewöhnlich blieb das Kind in seinem Versteck, bis es tatsächlich gefunden wurde.

      »Wo hast du denn schon überall gesucht?«, fragte sie die Cousine und hoffte, dass sie Marie fanden, bevor es Abend wurde. Nicht, dass das Verschwinden des Mädchens den Herrschaften auffallen würde. Der Earl und die Countess of Windermere verirrten sich nie, aber auch wirklich nie, in den Kindertrakt. Aber wenn Marie bis zur Abenddämmerung nicht gefunden wurde, würde sich Miss Croven genötigt fühlen, ihre Abwesenheit zu melden. Annabell mochte sich gar nicht ausmalen, wie die Reaktion der Verwandten ausfallen würde, und brauchte es auch nicht. Ihr Onkel besaß eine lockere Hand und die Tante eine scharfe Zunge.

      Ninette gab an, dass sie den Lust- und den Kräutergarten bereits abgesucht hatte und nicht glaubte, dass ihre kleine Schwester sich in den anschließenden Park traute. Ninettes Unterlippe fing verräterisch an zu beben, und in den klaren, blauen Augen sammelten sich Tränen. Sie wusste ebenso gut wie ihre vier Jahre ältere Cousine, dass sie in argen Schwierigkeiten steckten, sollte ihr Ungehorsam entdeckt werden. Lord Windermere war bei den Kindern für seine Wutausbrüche berüchtigt. Annabell zog die Jüngere in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken.

      »Wir finden sie, mach dir keine Sorgen!«

      Während sie das Mädchen tröstete, sah sie sich aufmerksam um. Sie hatte das Haus durch den Dienstbotenausgang neben der Küche verlassen und war im Kräutergarten auf die Cousine gestoßen. Es war nicht zu befürchten, dass sich Lord Windermeres Gäste hierher verirrten, anders sah es allerdings mit dem Lustgarten, dem Park und eigentlich allen anderen Orten im Haus aus, abgesehen selbstverständlich dem dritten Stock. Dort gab es nur Lagerräume, die Zimmer der Dienstboten und die Aufenthaltsräume der Kinder.

      »Hör zu, Ninny, ich schau mich in den Ställen um, und du, du gehst zurück ins Haus. Hast du gehört? Sag Miss Croven, dass ich auch gleich hochkomme, hoffentlich mit Marie!«

      Ohne Widerrede lief Ninette Richtung Küche. Besorgt strich sich Annabell über die Stirn. Sie war erst seit zwei Wochen auf Windermere Castle und konnte es kaum mehr erwarten, wieder abgeholt zu werden. Oh, sie mochte ihre Cousinen, sehr sogar. Sie genoss es, Spielkameraden zu haben, auch wenn sie nicht in ihrem Alter waren, und war daher immer zu einer Runde Verstecken mit Marie bereit oder „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit Ninette. Nun, fast immer. Gerade in dem Moment wäre es ihr lieber, nicht spielen zu müssen. Sie seufzte auf und begab sich schweren Herzens in ihr Schicksal. Schnellen Schrittes lief sie zu den Ställen, immer darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Vorsichtig drückte sie das Tor zum Stall gerade so weit auf, um sich hindurchzwängen zu können. Achtsam sah sie sich um, durchsuchte die leeren Boxen und vergaß auch nicht, in die belegten Boxen einen Blick zu werfen. Leise rief sie nach der Cousine, in der Hoffnung, von dem Mädchen trotz der Geräuschkulisse gehört zu werden.

      Die Pferde machten einen ungeheuren Krach, sie scharrten mit den Hufen im Heu, kauten ihren Hafer und wieherten nahezu unaufhörlich. Annabell biss sich auf die Lippen; wenn Marie nicht in der Futterkammer oder der Sattelkammer war, musste sie auf den Heuboden hochklettern. Kein besonders angenehmer Gedanke! Das Problem dabei war nicht das Hochklettern. Sie war zuversichtlich, dass sie die steile Stiege erklimmen konnte, allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie wieder herunterkommen sollte. Andererseits bräuchte sie sich darüber vermutlich keine Sorgen zu machen, so beruhigte sie sich lakonisch, denn ein unbeabsichtigter Blick nach unten würde sie sicherlich umbringen. Ihr Herz würde schneller und schneller schlagen und schließlich ganz bestimmt einfach aufhören, so wie bei ihrem Vater. Ihre Schwester Sarah war dabei gewesen, als dieser in einem Moment noch wie ein Wahnsinniger brüllte und im nächsten Augenblick verstummt zu Boden ging. Wie ein gefällter Baum. Aus Angst. Weil Sarah auf einen Baum geklettert war. Es war also möglich, aus Angst zu sterben. Und wer sagte, dass sie dieses Mal nicht so viel Angst haben würde, dass es mit ihr vorbei sein würde? Beim letzten Mal, jedenfalls war es sehr schlimm gewesen und wenn Marcus, ihr Schwager, sie nicht im letzten Moment gefunden und von dem Vorsprung gerettet hätte … Sie war nahe ihres Elternhauses an den Klippen spazieren gewesen, von einem durch die Gicht feuchten Felsen gerutscht und beinahe ins wogende Meer gestürzt. Seitdem mied sie nicht nur glitschige Felsen, sondern Höhen generell. Von ihren Gedanken abgelenkt, achtete sie nicht auf die verräterischen Laute, die sie sonst sicher aufgehalten hätten, und öffnete die Tür zur Sattelkammer. Erschrocken blieb sie mitten in der Bewegung stehen. Ein Pärchen hatte sich diesen kaum besuchten Ort für ein Stelldichein ausgesucht und bot dem unbedarften Mädchen ein schockierendes Bild. Die Dame saß halb auf einem Sattelbock und stützte sich mit den Armen nach hinten ab, während ihr Galan zwischen ihren entblößten Schenkeln stand und seine Hüfte rhythmisch gegen ihre stieß. Dabei ergaben sich seltsame Töne, die von den spitzen Schreien der Frau allerdings überlagert wurden. Entgeistert fragte sich Annabell, wie sie das hatte überhören können und blinzelte. Sie fasste sich schnell und wollte sich lautlos zurückziehen, als die Dame sie entdeckte und in ein ohrenbetäubendes Kreischen ausbrach. Geschwind stieß sie den Mann von sich und bedeckte ihre Blöße mit ihren farbenfrohen Röcken. Erbost lief sie zu dem erstarrten Mädchen und griff ihr ins Haar, um ihren Kopf nach hinten zu ziehen. Annabell schrie gepeinigt auf. Sie fasste nach der Hand in ihren losen Zöpfen und versuchte, sie aus ihrem Haar zu lösen. Stattdessen verstärkte sich der Zug, bis ihre gesamte Kopfhaut wie Feuer brannte. Tränen schossen in ihre Augen, und sie musste sich auf die Lippe beißen, um sie zurückzuhalten.

      »Wenn du auch nur einen Ton verlauten lässt, wirst du mich kennenlernen, hast du mich verstanden? Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, verfluchte Göre!«

      Annabell sah auf und fuhr unter dem gehässigen Blick der giftgrünen Augen zusammen.

      »Lass sie los, Miranda. Das ist doch bloß ein Kind!«

      Der Mann war neben die Dame getreten, die das Mädchen drangsalierte, und griff nun seinerseits nach der brutalen Hand in den goldblonden Zöpfen des Kindes. Miranda zog noch ein letztes Mal und ließ sie dann so plötzlich los, dass Annabell nach hinten fiel. Genau diesen Moment wählte Marie, um aus ihrem Versteck zu springen und sich weinend auf die Cousine zu werfen. Die Kleine hatte sich hinter der großen Zaumzeugtruhe verborgen und