Alessia Sandberg

Das Greta-Phänomen


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einem Wust von Unklarheiten in einem nicht zufriedenstellenden Gesundheits- und Bildungssystem in Schweden zusammensuchen.

      Sie fragt sich nun, was mit ihr geschehen ist, und fühlt sich dabei gleichzeitig verantwortlich für Gretas Symptome wie Angst- und Panikattacken, Depression, Schrei- und Weinkrämpfe und für Beatas Wutanfälle.

      Malenas Leistungsanspruch an sich selbst, eine herausragende Sängerin mit einem innovativen Kulturanspruch und gleichzeitig eine liebevolle und besonders verantwortungsvolle Mutter zu sein und dazu noch eine gute Mitbürgerin verkörpern zu wollen, ist ebenfalls ein wichtiger Grund für ihren Zusammenbruch. Sie selbst leidet unter einer starken Erschöpfung und Depression.

      Die Familienidylle hat sich also aufgelöst.

      Als Greta in der fünften Klasse ist und abends weint und nicht mehr aufhört, in der Schule weint und weint, wird offensichtlich, dass die ganze Familie leidet und so sagt Malena:

      „Unsere Tochter verschwindet in eine Art Dunkelheit und hört quasi auf zu funktionieren. Sie hört auf Klavier zu spielen. Sie hört auf zu lachen. Sie hört auf zu reden. Und. Sie hört auf zu essen.“ (Ernman, a.a.O., S. 20)

      Jetzt wollen Malena und Svante ihr Leben verändern, weil sie es müssen und weil sie einsehen, dass sie sich irgendwie ausbremsen müssen. Sie geben ihr Ziel auf, die Oper für das breite Publikum öffnen zu wollen und sagen alle Verträge im Ausland ab. Sie wollen sich in Schweden statt Opern anderen Music-Genres zuwenden!

      Sie konzentrieren sich darauf, dass Greta wieder gesund wird.

      Greta leidet unter Angst-Attacken, hat einen überdimensionalen Schreianfall, der vierzig Minuten lang andauert, weil sie Schwierigkeiten beim Essen hat. Svante kümmert sich um einen genauen Essensplan zur Gewichterhaltung und bereitet das Essen so zu, wie es für Greta angemessen sein könnte. Dabei hat Greta zwei Monate lang nicht gegessen und wäre fast gestorben.

      Malena und Svante tun alles, damit Greta wieder gesund wird, damit sie wieder isst.

      Sie hat zehn Kilogramm abgenommen und soll im Krankenhaus stationär behandelt werden, wenn sie nicht anfängt zu essen.

      Also fängt Greta wieder an zu essen, ganz langsam, mit viel Aufwand und einem ausgeklügelten Essensplan, um den sich Svante kümmert, es geht ganz langsam.

      Malena weint selbst viel und ist verzweifelt. Eine Odyssee fängt an. Sie geht mit Greta zu Kinderärzten, Psychologen und in die Kinder- und Jugendpsychiatrie usw. Dabei wird ihr nach und nach klar, dass es schwierig ist, Hilfe zu bekommen, wenn Kinder heftige Symptome bekommen, die nicht so leicht zu fassen sind. Unverträglichkeiten in Bezug auf Essen und Trinken, Gerüche, Kleiden, Geräusche, Umgebungen usw. Malena fühlt sich allein gelassen mit ihrer Problematik und vermisst Aufklärung.

      Sie fühlt sich irritiert und irgendwie innerlich zerrissen durch die vielen unterschiedlichen Meinungen über Symptome und Krankheitsbilder. Dabei erfährt sie kaum etwas über die Möglichkeit, das alles in den Griff zu bekommen und in den Alltag integrieren zu können.

      Malena weiß, dass sie sich als gute Mutter auch um Beata mit ihrer ADHS-Diagnose und ihren Wutanfällen kümmern muss, aber eigentlich auch um sich selbst, denn sie selbst ist erschöpft und depressiv. Sie weiß nicht, wo ihr der Kopf steht, aber irgendwie versucht sie; allen gerecht zu werden, so gut wie sie es eben als Mitbetroffene kann. Und dann gibt es schließlich eine Diagnose für Greta: „Autismus- Asperger-Syndrom mit perfektionistischem Anspruch.“ Hier ist zunächst eine herkömmliche Definition:

      „Asperger-Syndrom: die milde Form von AutismusDas Asperger-Syndrom ist eine Kontakt- und Kommunikationsstörung und zählt zum autistischen Formenkreis. Typisch für diese Störung des Autismus-Spektrums* sind Einschränkungen im Interaktionsverhalten, mangelndes Einfühlungsvermögen, intensive (Spezial-)Interessen und das Festhalten an Gewohnheiten und Ritualen. Das Syndrom zählt zu den schwerwiegenden Entwicklungsstörungen […] neben dem frühkindlichen Autismus, […] Es ist neurologisch fundiert und die Ursache meist unbekannt.“ (www.rhein-jura-klinik.de)

      Eine Diagnose und ein Krankheitsbild können zunächst eine Erleichterung sein, aber die eigentliche Auseinandersetzung mit dem „Kranksein“, oder vielmehr mit dem Anderssein und den Symptomen fängt erst dann an, wenn es den Betroffenen wirklich um Gesundung und Heilung geht.

      Krankheitsbegriffe im Allgemeinen und das, was sie in den betroffenen Menschen auslösen, können sehr irritierend sein und sogar eine Heilung verhindern.

      Malena begreift sofort, dass alles, was man über Asperger weiß, nicht wirklich auf Greta passt. Sie weiß, dass sie sich selbst schlau machen und dies alles in einem großen Zusammenhang sehen muss. Dazu ist sie mit Svante zusammen bereit.

      Gretas Eltern erkennen beide, dass es vielen anderen Menschen auch so geht wie ihnen selbst und dass diese „Erkrankungen“ und Symptome von Burnout, ADHS, Depression und Asperger als Neuro-Diversität in einem großen Kontext zu sehen sind, nämlich, dass wenn die Menschen so krank sind und sich selbst so schlecht fühlen, muss auch etwas mit der Umwelt nicht stimmen.

      Was die Diagnose Asperger Autismus wirklich für den Menschen bedeutet, ob sie auf Greta zutrifft und welches die Ursachen dafür sein können, ist wichtig und erhellend für die Betroffenen und muss deshalb ausführlich behandelt werden, was ich im folgenden Kapitel darstelle.

      Zusätzlich zu Gretas Asperger-Diagnose erfahren Malena und Svante, dass Greta in der Schule gemobbt wird. Sie wird auf dem Schulhof verprügelt und systematisch ausgegrenzt. Sie flieht auf die Mädchentoilette, wo sie weint … Das hält Greta bereits seit einem Jahr aus… Svante erlebt mit Greta zusammen

      in der Schule, wie sie ausgelacht wird und die Kinder mit dem Finger auf sie zeigen, obwohl Svante als Vater dabei steht. Die Lehrer helfen nicht und meinen, es sei Gretas Schuld, weil sie nicht grüßt.

      Auch die Zunahme von Mobbing an Schulen ist ein Zeichen dafür, dass Menschen nicht mehr im Lot sind, sie sind nicht in ihrer Mitte, sie sind „out off order“ so, wie die Natur, die Umgebung der Menschen in Unordnung sind. „Außen“ und „innen“ stimmen nur insofern überein, dass die durch Schadstoff belastete Umwelt auch im Menschen selbst wiederzufinden ist. „Innen wie außen“, „oben wie unten“, so sagt es die Quantenphysik und die Quantenmedizin.

      Nach der Aufdeckung des Mobbing-Problems wird der Blick für Gretas Verhalten für die Eltern verständlich und Gretas Leiden und Weinen lassen sich wenigstens teilweise erklären.

      Ergänzend zu Gretas Mobbing und zu ihrer Leidensgeschichte hat sie noch ein einschneidendes Erlebnis, das ihr den Impuls gibt, sich für den Klima- und Umweltschutz mit aller Kraft einzusetzen. Das Ereignis beschreibt ihre Mutter folgendermaßen:

      „In einer Schulstunde sieht Gretas Klasse einen Film über die Verschmutzung der Weltmeere. Im südlichen Pazifik treibt eine Insel aus Plastikmüll, die größer ist als Mexiko. Greta bricht während des Films in Tränen aus. auch ihre Klassenkameraden sind betroffen. […]

       Draußen auf dem Flur ist die Müllinsel vor der chilenischen Küste schon wieder vergessen.

       […] Sie fängt an zu weinen und will nach Hause, aber sie darf nicht nach Hause und soll in der Schulmensa tote Tiere essen und über Markenklamotten, Make-Up und Handys reden.

       […] Greta hat eine Diagnose [Asperger/Autismus] gestellt bekommen, aber das schließt nicht aus, dass sie Recht hat und wir anderen falschliegen, wie man nur falschliegen kann. […]

       Weil sie das sieht, was wir anderen nicht sehen wollen.

       Greta gehört zu den wenigen, die unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge erkennen können.

      Sie sieht, wie die Treibhausgase aus unseren Schornsteinen strömen, mit dem Wind in den Himmel steigen und die Atmosphäre in eine gigantische unsichtbare Müllhalde verwandeln. […]“ („Szenen aus dem Herzen“, a. a. O., S. 44 f)

      Besonders an diesem Beispiel wird deutlich,