Ela Fortis

Winterrose


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ihre Wünsche, ihre Vorstellungen vom Leben nicht länger beschneiden lassen. Schon gar nicht aus Gründen falschverstandener Verantwortung einer älteren Generation heraus. Eine Verantwortung für die ältere Generation der man eine Hilfsbedürftigkeit kaum mehr ansieht. Fühlen sich diese jungen Menschen aus irgendwelchen Gründen selbst nicht als stark oder bekommen von außen oder ihren Eltern ein Gefühl von Schwäche vermittelt, so wird ein Kontaktabbruch zweckentfremdet um das eigene Ego aufzuwerten. Die Bewunderung von anderen, das bildlich gesprochene Beklatscht werden im Freundes- und Bekanntenkreis erleben dann viele junge Menschen als Aufwertung der eigenen Persönlichkeit. Endlich fühlt sich der junge Mensch ernst genommen und respektiert. Vielleicht sogar stärker als es die Eltern nach außen für ihn sind. Ein Mangel am Gefühl der Selbstwirksamkeit, des eigenen Durchhaltevermögens, des Erlebens der eigenen Schaffenskraft, etwas selber gestalten und bestimmen zu können, eigene Wege gehen zu dürfen ist womöglich Antriebsfeder für einen Kontaktabbruch bei Erwachsenen Kindern. Dieser bereits in früher Kindheit erlebte Mangel an Kompetenzerleben weicht einem neuen Gefühl von Stärke und Abgrenzung der eigenen Persönlichkeit. Nun fühlt es sich endlich gut an selbst für sich eine Entscheidung gefällt zu haben. Eine Entscheidung dessen Tragweite oft eine ganze Familienstruktur lahmzulegen vermag. Vergleichbar eines Rausches mit einer gehörigen Portion Adrenalin reitet der junge Mensch auf einer Welle vermeintlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Das Imponieren im Freundeskreis und die erlebte Achtung verhindert es nun, den Schritt nach einem Kontaktabbruch wieder zurück zu gehen, oder besser gesagt, sich wieder aufeinander zu zubewegen. Der Teufelskreis hat begonnen und es wird mit jedem Tag schwerer wieder einen Weg zurück zu finden, ohne dabei seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen oder vermeintlich sein Gesicht zu verlieren.

      Im Gegenzug dazu gibt es aber auch noch andere Gründe, die einen Kontaktabbruch zu den Eltern auslösen können. Die Ursache liegt oft im Erleben der eigenen Kindheit, im Reflektieren des Erziehungsverhaltens der Eltern und der eigenen Biografie, dem kritischen Auseinandersetzen mit der eigenen Kindheit, sowie im Hinterfragen des bisherigen Lebens und der damit verbundenen Werte und Konventionen. Viele erwachsene Kinder erkennen dabei, dass sie in ihrer Kindheit zu sehr eingeschränkt und reglementiert wurden. Ein Erwachsenwerden durch Versuch und Irrtum wurde diesen Kindern versagt und man nahm ihnen dadurch die Möglichkeit sich selbst zu entwickeln. Selbstbestimmt und mutig den Weg zum Erwachsensein selbst zu beschreiten fand in vielen Familien keine Unterstützung. Das Leben als Abenteuer leben und erfahren zu dürfen wurde durch Strenge und vorgegebene Wege der Eltern ohne Alternativen unterdrückt. Vielerorts darauf sogar mit Liebesentzug reagiert. Wer solche bitteren Erfahrungen in seiner Entwicklung als Kind machen musste sieht zumeist nur einen Ausweg. Der konsequente Kontaktabbruch zu den Eltern. Dabei gehen diese Kinder genauso konsequent und unbeirrbar vor, wie sie selbst früher Erziehung erfahren haben. Konsequent und starr, ohne Diskussion. Dabei nehmen sie ihren eigenen Schmerz, den sie dabei empfinden wohlweislich in Kauf. Distanzierung und Abgrenzung gewinnt an Bedeutung. Das Zeitalter kritischer und selbstbewusster Auseinandersetzung mit der eigenen (Lebens)Geschichte hat begonnen und es scheint, als sei ein Bruch mit den eigenen Eltern oft der einzige Ausweg, um auf die „innere Not“, die in der Kindheit erlebt wurde, aufmerksam zu machen. Diese Not wurde von den Eltern oftmals nicht gesehen. Oder wurde nicht ernst genommen und blieb unausgesprochen. Unreflektiert.

      Als „Not“ bezeichne ich die Bedürfnisse außerhalb der physischen Versorgung die Kinder während ihrer Kinderzeit selbst nicht erkennen und deswegen nur schwer oder überhaupt nicht zu formulieren im Stande sind. Die Eltern sind deswegen oft auch nicht in der Lage diese Anzeichen der Not für sich zu deuten und ihr Erziehungsverhalten damit in Bezug zu bringen. Meinten es viele doch so gut, wollten nur das Beste und verkannten dabei die wirklichen Bedürfnisse ihrer Kinder: Das Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und Akzeptanz, sein zu dürfen wie man ist und sich nicht ständig optimieren zu müssen und fördern zu lassen. Eine Gradwanderung zwischen Freiheit und Sein-Dürfen, erziehen und entwickeln. Eine undankbare Aufgabe und Herausforderung für alle Eltern, heute wie damals.

      Aber auch zu viel Nähe, Übergriffigkeit oder Besserwisserei gehören zu den möglichen Auslösern eines Kontaktabbruches. Ein zu starres Erleben von Disziplin bei den Eltern während der Kindheit belastet viele Kinder und stört ihre Entwicklung. Regeln und strikte Tagesabläufe können daher im Extremfall also auch zu einem späteren Zeitpunkt ein Fluchtverhalten der erwachsenen Kinder auslösen. Zu viel musste man in der Kindheit entbehren – zu viele Bedürfnisse Regeln unterordnen.

      Die Entbehrungen der Eltern in Bezug auf Zeit, Erholung und Spaß am Leben erleben Kinder eins zu eins mit. Es ist ein Schmerz, den sie sozusagen mitempfinden. Sie fühlen sich unbewusst schuldig am entbehrungsreichen Leben der Eltern und können erst im Erwachsenenalter erkennen, dass diese Form des Lebens nicht mehr zeitgemäß ist. Es wird ihnen schmerzlich bewusst, dass ihre Kindheit aufgrund der straffen Planung und strikten Regeln nicht die Kindheit war, die sie sich für ihre eigenen Kinder wünschen. Das ist womöglich auch die Antwort, sofern es überhaupt eine Antwort darauf gibt, warum Kontaktabbrüche zu Eltern erst in den letzten Jahren so häufig zu beobachten sind. Die Zeiten haben sich geändert und der Schwerpunkt der neuen Generation liegt nicht mehr primär in der Existenzsicherung. „Work-Life-Balance“ war das Schlagwort Anfang der neunziger Jahre. Das Arbeitsleben in ausgewogenem Verhältnis zum Privatleben zu gestalten wurde als Allheilmittel gesehen um Familien einen achtsameren Umgang in Bezug auf körperliche und seelische Bedürfnisse zu ermöglichen. Mit der neuen Lebensart, der neuen Einstellung zu Beruf, Alltag und Familie erwachte eine ganz neue Sensibilität das Leben und seine Entwicklungsgeschichte zu reflektieren und zu hinterfragen. Sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen wurde modern und alte Regeln und Normen wurden damit ganz offiziell hinterfragt.

      Freilich leben alle Eltern ein Stück weit ihre eigene Erziehungsgeschichte und bringen diese Erfahrung unbewusst oder bewusst in ihr eigenes Erziehungsverhalten ein. In der Erziehungsgeschichte vieler Eltern gab es bislang also keinen Sinn für „Work-Life-Balance“. Finanzielle Sicherheiten und das Erfüllen von Pflichten besaßen einen besonders großen Stellenwert und gaben Sicherheit. Zudem war das strikte Rollenverständnis von Mann und Frau in einer Beziehung oder Ehe dominierend. Eine gute Frau hatte sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Frauen, die später selber einmal Mutter wurden entflohen entweder diesem anerzogenen Schema, indem sie sich mehr um ihre berufliche Karriere kümmerten, oder sie lebten genau dieses Schema weiter. Neue Frauen“bilder“ und neue Rollen in der Gesellschaft als Frau wurden innerlich aber auch von vielen abgelehnt. Es machte Angst und es war schmerzlich darüber nachzudenken, ob dieses vorgelebte Frauenbild der eigenen Mutter wirklich „richtig“ war. Wer mutig genug war hat dieses Bild bestenfalls hinterfragt – und wer es sich getraut hat, versucht es anders zu leben. Eltern, die aus diesem Rollenverständnis ausbrechen wollen, geben sich deswegen besonders fanatisch und leidenschaftlich ihrer beruflichen Karriere hin. Sie geraten dann leicht in die „workaholic“-Falle und vernachlässigen ihre Kinder in Bezug auf Zeit und innerer Nähe. Die Dosis macht eben das Gift, auch im Umgang mit dem Arbeitsleben und einem neuen Rollenverständnis. Man kann eben nur das weitergeben, was man selbst erfahren hat, was einen in seiner eigenen Kindheit geprägt hat, was einem selbst begegnet ist. Extremes Verhalten als Antwort auf extrem belastende Erlebnisse in der Kindheit.

      In diesem Buch möchte ich eine Lanze für alle „verlassenen Eltern“ brechen die aufgrund ihrer „geregelten Welt“ ein erwachsenes Kind verloren haben. „Winterrose“ möchte aber auch allen erwachsenen Kindern helfen und ihnen ermöglichen, sich in den schmerzlichen Weg der Be- und Verarbeitung ihrer Eltern hinein zu versetzen. Ohne Wertung – ohne Vorwurf. Es soll ihnen helfen ihre eigene Biografie zu hinterfragen, zu reflektieren und sich ihrer Gefühle klarer zu werden, warum sie nur einen Kontaktabbruch zum Elternhaus als Lösung für ihr weiteres Leben, ihr Seelenwohl als besten Weg erachten. Ein Weg der zunächst wegführt aber auch wieder zueinander führen vermag, wenn man sich seiner Situation bewusst wird und sich seiner eigenen Verantwortung in diesem Zusammenhang stellt.

      Ein Buch, das das gegenseitige Verstehen unterstützen will und so vielleicht zu einem gemeinsamen Neuanfang motivieren kann.

      Seid umarmt ihr traurigen Mütter, Väter und Kinder!

      Der