Ela Fortis

Winterrose


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noch unser Junge warst. Als wir noch miteinander gesprochen hatten. Die Zeit vor deinem Kontaktabbruch.

      Es ist kalt, bitterlich kalt und doch gelingt es der Sonne wärmende Lichtblitze zwischen kahlen Ästen auf mein Gesicht zu zaubern. Hell, dunkel, hell, dunkel, ein ganzes Stück hell, dann wieder schattig dunkel. Von weitem erkenne ich eine Gestalt – ein junger Mann mit einem Kinderwagen. In einem Bruchteil von Sekunden scanne ich seine Silhouette – könntest es du sein? Bist du es? Mein Sohn, unser Sohn mit unserem Enkel?

      Wehmut macht sich breit. Wehmut, die sich mit jedem Schritt den wir uns aufeinander zubewegen mehr und mehr in hoffnungsvolle Erwartung dann aber in unbeschreibliche Furcht verwandelt. Was, wenn du es wirklich bist? Wie sollen, wie wollen, wie würden wir dich begrüßen? Wie ansprechen? Wie würdest du reagieren? Käme es zum Streit? Fielen wir uns in die Arme? Oder zeigtest du uns die kalte Schulter und gingst wortlos an uns vorbei? Was wäre schmerzhafter? Gingst du an uns vorbei? Ohne stehen zu bleiben? Würde ich weinen? Schreien? Toben? Mich in Vorwürfe verstricken und Papa davon abhalten dich zu packen und einfach festzuhalten?

      Was wenn du es bist der da auf uns zuschob, mit seinem Kinderwagen, alleine und irgendwie schwankend wie ein Teddybär. Was würde ich sagen, wie auf dich zugehen? Nach so langer Zeit?

      Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und Papa spürt meine Anspannung. Wir sprechen schon seit geraumer Zeit nichts mehr, genauer gesagt, seitdem du dich in unserem Blickfeld befindest. Hat er wohl das gleiche Gefühl wie ich, die gleiche Hoffnung, die gleiche Angst. Papa starrt ebenfalls auf den jungen Mann der uns da entgegenkommt. Keiner von uns spricht es aus. Nur unsere Hände fassen einander immer fester zu. Bis, ja, bis der junge Mann so nah ist, dass wir erkennen können, dass er dir sehr ähnlich sieht. Gleiche Größe, gleicher Gang und doch so ganz anders.

      Ein Anderer – nicht du! Fragend und etwas vorwurfsvoll blickt mir der junge Mann ins Gesicht. Er hat wohl gemerkt wie lange ich ihm andauernd ins Gesicht geschaut hatte. Unausweichlich, starr und ohne mit den Wimpern zu schlagen oder meinen Kopf auch nur einen Zentimeter nach links oder rechts gedreht zu haben. Vielleicht hat er auch meine Erwartung oder meine Angst gespürt, die ihm vermutlich kalt den Rücken herunterlief. Ich nicke ihm zu. Lächle kurz als wir auf gleicher Höhe aneinander vorbeigehen. Hätte ich mich entschuldigt für meine Blicke, er hätte es nicht verstanden. Wieder das Lichterspiel: hell, dunkel, hell, dunkel. Unsere Schritte werden schneller und fester. Fast so, als würden wir unsere letzten Kraftreserven mobilisieren um überhaupt weitergehen, weiterleben zu können. Eine Träne rollt mir über die Wange. Ich wische sie mir schnell weg. „Die verdammte Neujahrssonne brennt schon richtig in den Augen“. Papa drückt meine Hand, ganz fest. Er schluckt laut. Weiß er doch, dass es nicht die Sonne war, die für meine Tränen verantwortlich war.

      Ohne Worte setzen wir unseren Weg fort.

      Am Wegesrand eine verwelkte Rose. Rot, leuchtend wie aus Wachs aber welk und ohne Leben. Wir setzen unseren Spaziergang fort im Lichterwechsel hell, dunkel, hell, dunkel – In der Hoffnung dir zu begegnen.

      Besitz und Eigentum

      Auf dem Rückweg von meiner Therapeutin steige ich zwei Stationen früher aus dem Bus aus. Brauche Bewegung. Brauche Luft. Ihre Worte aus der vergangenen Sitzung beschäftigen mich auch noch als ich mich spontan dazu entscheide über den Wochenmarkt zu schlendern.

      An einem üppig gefüllten Blumenstand bleibe ich stehen. All das Rot, Orange, Gelb und Maigrün erfreuen meine Augen und ich spüre wie sehr mir diese Buntheit und Vielfalt hilft meine Trauer auszuhalten.

      Im Hinterkopf wiederhole ich ständig das zuvor gehörte: „Nehmen Sie den Druck raus! Geben Sie Ihrem Sohn Zeit, Zeit die er braucht um zurückkommen zu können!“.

      „Druck herausnehmen“? Allein schon das Wort „Druck“ hat etwas Machtvolles, Aktives für mich. Ich fühle mich aber schon lange, sehr lange nicht mehr machtvoll, ganz zu schweigen von aktiv. Seit deiner letzten WhatsApp-Nachricht, in der du mir geschrieben hattest, dass du keinen Kontakt mehr haben möchtest.

      „Allein schon ihr mentaler Wunsch, ihr andauerndes Grübeln und Denken an Ihren Sohn verursacht Druck – bei Ihnen und sicher auch bei Ihrem Sohn“ meinte die, die es ja gelernt haben muss, mit traurigen Seelen umzugehen.

      Ich schaue mir die üppig gefüllten Blumen in den verschiedenen Kübeln an und versuche mich abzulenken indem ich beginne, den Duft der Blumen in mir aufzunehmen. Aber sie riechen kaum. Komisch, die Blumen in den Kübeln riechen gar nicht oder sagt man da „duften“? Für einen kurzen Moment huscht ein Lächeln über meine Lippen, weil mir die Frage nach dem richtigen Wort „riechen“ oder „duften“ so banal und nebensächlich erscheint. Wie schön wäre doch das Leben, wenn dies mein einziges Problem wäre, über „riechen“ oder „duften“ zu entscheiden.

      Langsam gehe ich weiter und mein Kopfkino beginnt von Neuem. Die Worte meiner Therapeutin aus der letzten Sitzung beschäftigen mich mehr als ich mir eingestehen möchte.

      „Es gibt Kontaktabbrüche bei denen die verlorenen Kinder auf einmal ganz unverhofft nach 5,6,7 oder 8 Jahren plötzlich mit einem Blumenstrauß wieder vor der Türe ihrer Eltern stehen. Ganz so, als wäre nichts geschehen. Als hätte man sie einfach kurz mal aus dem Leben genommen und woanders hingesetzt.“. Wie ein Teddybär in einem Spielzeugladen, den man sich kurz mal aus dem Regal nimmt und dann wieder zurücksetzt bevor die Verkäuferin meckert, denke ich.

      „Ja, und dann gibt es aber auch Fälle, da verschwinden diese wieder gefundenen Kinder ein zweites Mal. Wieder ohne Vorwarnung – wieder ganz unverhofft.“ klingt es weiter in meinen Ohren.

      Das würde mir noch fehlen, nach Jahren wiederkommen ohne richtige Erklärung um dann wieder zu verschwinden. Dasselbe Spielchen von vorne? Nicht mit mir. Wut steigt in mir hoch – ich male mir aus, wie es wäre, wenn du plötzlich wieder vor meiner Türe stehen würdest. Meine Wut wird größer. Ein Gefühl, das ich lange nicht zugelassen habe. Ich spüre aber wie sehr sie mich erleichtert. Wie sehr sie mich wieder zum Leben erweckt. Zum ersten Mal kommen mir Beschimpfungen in den Sinn, die ich dir an den Kopf werfen würde. Mit der Wut beginnt mein Adrenalin zu steigen und ich fühle mich zum ersten Mal nicht mehr als Opfer. Ich fühle Stärke. Ein Gefühl, das ich schon sehr lange nicht mehr hatte. „Es ist besser du bleibst da wo der Pfeffer wächst“, schnauze ich in Gedanken und stelle mir die Situation unserer ersten Begegnung vor. Kommen, gehen, kommen, gehen – es würde mich zerstören. Kaputt machen. Kaputt und handlungsunfähig. In diesem Moment wird mir klar, was meine Therapeutin mit „Druck herausnehmen“ meinte. War ich gerade dabei? Könnte ich wirklich loslassen? Keine Erwartungen mehr, kein Warten, kein Harren?

      Ich bin besessen, ich war besessen von dem Wunsch, dass alles wieder so wie früher wird. Mein Druck, der sicher auch dir mental und unbewusst Druck verschafft.

      Ich spaziere weiter über den Markt und schaue mir ganz bewusst frisches Obst, Weine, Brot und Käse an um mich abzuregen. Mein Versuch mich abzulenken scheitert kläglich als neben mir ein kleiner Junge mit seinem jungen Vater aufkreuzt. Er durfte im Alter meines Enkels sein und hatte auch einen blonden Schopf und eine lustige Brille auf der Nase. Blau. Blau und rund. So wie Adrian eine hat. „Du Papa, kaufst du mir `nen Apfel?“

      Der junge Vater beugt sich zu seinem Sohn herunter „Geh mal rüber zu Oma, die hat die Tasche mit dem Portemonnaie…“. In diesem Augenblick steigen Tränen in meine Augen. “Schon wieder versagt!“ denke ich. Ich wollte doch „Druck“ herausnehmen, tapfer sein, an mir arbeiten. Scheiße, denke ich, wenn ich doch nur endlich drüberstehen könnte. In meinem Hals macht sich ein schmerzender dicker Kloss breit. Dennoch ist mein Verlangen mit dem Jungen in Kontakt zu treten größer. Ich lächle ihn an und zwinkere mit den Augen.

      „Magst du auch Äpfel?“, fragt mich eine helle Stimme so rein und unschuldig.

      „Ja, Äpfel sind lecker und auch sehr gesund!“ etwas Besseres fällt mir gerade nicht ein.

      Dem jungen Vater ist die Frage seines aufgeweckten Sohnes etwas peinlich und er fügt hinzu „Jetzt mag er einen Apfel und im nächsten Moment etwas Anderes“

      Nickend