Axel Lechtenbörger

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst


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noch, dann ist es soweit.

      Lisa hatte ihren Vater einmal beim Reparieren ihres ramponierten Zaunes, der von einem Auto gerammt worden war, beobachtet und sich die Werkzeuge – Hammer, Seitenschneider, Säge und Nägel – gemerkt.

      »Wer zuerst am Zaun anschlägt ist Sieger«, rief Lisa ihr mit honigsüßem Schmelz in der Stimme zu. Schlage aber sanft an, fügte sie in Gedanken hinzu, sonst passiert vielleicht ein Unglück.

      Lea rannte los. Freudestrahlend schlug sie als Erste gegen den Bretterzaun, der den gefährlichen Abhang absicherte und den Lisa Tage zuvor mit dem Werkzeug ihres Vaters bearbeitet hatte.

      Von einem Moment auf den anderen war Lea mitsamt dem Zaun von der Bildfläche verschwunden. Sie hatte nicht einmal einen Schrei ausstoßen können.

      Es war still um Lisa. Sie wurde sich nicht ihrer eigenen, erregten Atemzüge bewusst. Sie war enttäuscht. Das ging alles so schnell. Hatte Lea geschrien, oder war sie stumm hinabgestürzt?

      Wie in einem Rausch näherte sie sich der Stelle, an der vor wenigen Augenblicken ihr kleines Schwesterchen den Zaun berührt hatte.

      Gebannt starrte sie den Abhang hinab und entdeckte Lea tief unten mit verrenkten Gliedmaßen.

      In Lisas Blick lag kein Mitgefühl, nur gefühllose Kälte. Das geschah ihr recht, ihr freundliches Gehabe würde ihr endlich erspart bleiben. Vorbei war das übertriebene Getue ihrer Eltern. Jetzt war sie die Nummer eins in der Familie. Die kleine Süße, die immer wieder bevorzugt behandelt wurde, gab es nicht mehr.

      Sie würde jetzt nicht mehr um Zuneigung betteln müssen.

      Sie hörte nicht die panischen Angstschreie ihrer Eltern, die die Situation aus der Ferne hilflos mit angesehen hatten und atemlos bei ihr aufgetaucht waren.

      Voller Entsetzen erreichten sie den manipulierten Zaun. Tief unten erblickten sie ihre jüngste Tochter.

      Ein Luftzug kam auf. Er brachte den herrlichen Duft frisch gemähten Heus mit sich und erfasste Lisas brünettes Haar. Sie lauschte in sich hinein, aber die wispernde Stimme hatte aufgehört zu ihr zu sprechen.

      In ihren Ohren säuselte nur noch der Wind.

      *

      Manch einer befindet sich auf der Sonnenseite des Lebens, wenn er seinen Weg geht und sich von niemandem beirren lässt.

      Egal was geschieht!

      Der Weg kann einfach sein, manchmal aber auch sehr beschwerlich und so können nützliche Abkürzungen geradezu in die Irre führen.

      Wie du deinen Weg auch gehen wirst, er führt auf einem schmalen Grat entlang.

      Manchmal spürst du Gegenwind.

      Er kann lau sein. Dann spiele mit ihm.

      Stürmt er kräftig von der Seite, mit all seiner Kraft, spielt er mit dir. Dann setze stets einen Fuß vor den anderen, damit du nicht zur falschen Seite hinfortgerissen wirst, denn sonst lebst du in deiner eigenen

      Apokalypse.

      Kapitel 1

      S

      chweißgebadet erwacht Maik Stahl aus seinem Albtraum. Diese Szenen würde er niemals aus dem Kopf bekommen. Sein intaktes rechtes Auge blinzelt in das Licht der aufgehenden Sonne.

      Sein Brustkorb hebt und senkt sich, es rasselt wie ein löchriger Blasebalg. Sein Herz schlägt in seinem Kopf wie ein Vorschlaghammer, der von innen heraus seine Schädeldecke knacken will. Maik verzieht das Gesicht. Der widerliche Gestank von Erbrochenem löst Brechreiz in ihm aus. Er wischt sich mit dem Ärmel seines heruntergekommenen Ledermantels durch das entstellte Gesicht, tastet über die tiefe Narbe, die das verbrannte Gesicht am verlorenen Auge in zwei Hälften teilt. Unter seinen Fingerkuppen fühlt er die Augenklappe, die die zerklüftete Höhle bedeckt.

      Er kann sich an den Unfall, bei dem er sein Auge und sein Gedächtnis verlor, nicht erinnern.

      Diese Albträume überfallen ihn stets, sobald der Whiskeypegel in seinem Blut zu sinken beginnt. Er spürt einen Druck auf seiner Brust und schlägt die schmutzige Decke zur Seite, um seinen hageren Körper aufzurichten.

      Er erstarrt. Ein grünes Augenpaar blickt ihn unverwandt an.

      Eine Katze. Sie liegt auf seiner Brust. Sie scheint nicht die Absicht zu haben, sein Gesicht zerkratzen zu wollen, dazu wirkt sie zu schwach.

      »Was machst du denn hier, hast du kein Zuhause?«, hört er eine Stimme krächzen, die seine zu sein scheint.

      Maik hat mit seinem vertrauten Freund, dem Alkohol, wie so oft die Nacht verbracht und den üblen Geschmack von Urin im Mund. Er weiß nicht, wo er sich befindet, aber die Gegend kommt ihm bekannt vor. Ächzend setzt er sich etwas auf, sodass das kraftlose Tier haltlos in seinen Schoß rutscht. Maik ahnt, dass sie krank oder verletzt ist.

      Aber wie kam sie zu ihm? Hatte er sie vergangene Nacht vielleicht irgendwo aufgelesen? Er weiß es nicht mehr, kann sich aber nicht vorstellen, dass sie sich so einfach auf seine Brust gelegt hatte. Aber das Tier ist hübsch. Es hat ein hellgraues Fell, einen buschigen Schwanz und lange Beine mit weißen Stiefelchen. Der Größe nach zu urteilen muss es ein Kater sein.

      Vorsichtig schiebt er ihn mit seinen nachtklammen Händen in das vom Frühtau überzogene Gras, wo er lethargisch liegen bleibt. Er greift nach seiner im Gras liegenden Kubacap und stülpt sie sich umständlich über den kahlen Schädel, wobei er peinlichst darauf achtet, dass sie sein halbverbranntes Ohr bedeckt.

      Maik wuchtet seine Einmeterfünfundneunzig hoch und wischt klebrigen Sand und Grashalme von seiner verwaschenen Bluejeans. Er putzt seine ehemals braunen und schiefgelaufenen Drifter Stiefel an den Hosenbeinen ab. Dass er dabei seine Hose versaut, ist ihm egal.

      Maik weiß jetzt, wo er sich befindet. Er schaut zur Dyckerhoffbrücke hinüber, die die Hafeneinfahrt des Schiersteiner Hafens bis zur Bismarcksaue überspannt und die ihn stets magisch anzuziehen scheint. Dort trifft er manchmal auf seinesgleichen, die hinunterspringen wollen, weil sie dieses Leben nicht mehr ertragen. Aber Maiks Meinung nach taugt die Brücke nicht dazu, sich das Leben zu nehmen. Einige überleben den Sprung, manche ertrinken dabei, weil sie nicht schwimmen können, und werden anschließend wie Exkremente in einer Kloschüssel vom Rhein fortgespült.

      Leblos und blass, kalt und nass.

      Kein schöner Reim. Er hatte dort oben gestanden, um hinabzuspringen. Aber er ist ein zu guter Schwimmer.

      Er hatte sich ein Seil aus einem alten Kahn besorgt, eine Schlinge geknotet, es am Geländer vertäut und sie sich um den Hals gelegt. Dann hatte er eine Flasche Whiskey auf ex geleert und war in die Tiefe gesprungen. Er erwachte mit schrecklichen Halsschmerzen in einer Klinik, denn das modrige Seil war gerissen. Ein Skipper der DLRG-Station, der ein Boot kontrollieren wollte, hatte beobachtet, wie er im Wasser landete, und ihn noch rechtzeitig herausziehen können. Seitdem ziert eine wulstige Narbe seinen Hals. Schöne Scheiße! Danke dafür!

      Sich mit Unmengen von Alkohol totzusaufen, gefällt ihm daher schon viel besser. Maik weiß nicht, worauf er noch warten soll, es gibt nichts mehr für ihn zu tun auf dieser Welt.

      Er betrachtet das hechelnde Fellbündel. Warum soll er sich mit dieser kranken Kreatur belasten? Er hat mit sich selbst doch schon genug zu tun. Er seufzt und geht in die Hocke. Sein linkes Bein, an dem er vor fünfeinhalb Jahren einen offenen Splitterbruch erlitten hatte und gerade so an einer Amputation vorbeigerauscht war, schmerzt dabei. An seinem anderen Bein, an dem das Feuer nur das Muskelgewebe verbrannt hatte und nichts mehr schmerzte, weil die Nerven tot waren, umspannte pergamentene Haut seine Knochen.

      Er packt den Kater im Nacken und nimmt ihn hoch in seine Arme. Maik kann ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Weiß der Teufel, wie er in diesem Zustand auf seiner Brust zu liegen kam. Vielleicht würde er ja unterwegs eine Stelle finden, an der er ihn zurücklassen konnte und ihn jemand finden würde. Er hat schließlich anderes zu tun, als Kindermädchen zu spielen.

      Sechs Jahre sind seitdem vergangen,