Axel Lechtenbörger

Schlafe mein Kind, bevor du stirbst


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ist überrascht. Woher weiß sie das? Er wirft ihr einen neugierigen Blick zu.

      »Sie sind der einäugige Maik. Einige meiner Patienten haben mir von Ihnen erzählt.«

      Maik räuspert sich. »So? Was erzählt man sich denn über diesen Maik?«

      »Es wird gesagt, dass der Einäugige sich schützend vor hilflose Menschen stellt, wenn diese bestohlen oder überfallen werden. Es wird erzählt, dass er einmal hinter einem Mann hergelaufen sein soll, der seinen Hund im Rhein ertränken wollte. Er stutzte ihn zurecht und gab ihm selbst das Rheinwasser zu saufen.«

      Maiks Hände zittern. Er leckt sich über die spröden Lippen. Ihm ist es unangenehm, er mag solche Lobhudeleien nicht. Der Alkoholpegel in seinem Blut ist mittlerweile wieder auf einem Tiefstand. Er muss sich schleunigst den Rest seines Whiskeys einverleiben.

      Nicole Voss blickt ihn fragend an. Aber anstatt ihr zu antworten, steht er auf und geht mit steifen Gliedern zur Toilette der Klinik. Herrchen und Frauchen, die mit ihren Haustieren auf ihren Termin warten, erkennen direkt den Obdachlosen in ihm und werfen ihm argwöhnische Blicke zu. Aber das ist ihm egal. Er stößt die Tür zum Vorraum der Toilette auf und betrachtet sein Konterfei in dem über dem Waschbecken hängenden Spiegel. Ein armseliger Obdachloser mit einer schmutzigen Kappe auf dem kahlen Schädel stiert ihn mit einem Auge an. Die hässliche Narbe, die von der Stirn bis fast zum Mundwinkel reicht, wird nur teilweise von seiner Augenklappe bedeckt. Seine Hand gleitet in die Manteltasche. Er tastet gierig nach der Flasche Jim Beam, umschließt sie mit bebenden Händen und setzt sie an.

      Plötzlich macht sich Ekel in ihm breit, Ekel vor sich selbst. Der Whiskey brennt an seinen rissigen Lippen und rinnt an seinem Kinn herab in den Halsausschnitt. Er reißt die Flasche von seinem Mund und schleudert sie neben das Waschbecken in den Papierbehälter. Das Glas zerbricht mit einem hässlich klirrenden Geräusch. Alkoholdunst weht ihm entgegen und unter dem Papierkorb bildet sich eine Whiskeylache. Das Zittern seiner Hände überträgt sich auf seinen gesamten Körper. Ihm wird schlecht. Maik saugt keuchend Luft in seine Lungen. Ein Schwächeanfall überkommt ihn, er muss sich auf das Waschbecken stützen. Kurz darauf geht es ihm schon wieder besser und er stakst, als würde er unter Trance stehen, wieder hinaus zur Bank, auf der Nicole Voss sitzt und das Ergebnis der Tierärztin abwartet.

      Kritisch betrachtet sie ihn, als er sich neben sie setzt und ihr dabei eine Alkoholfahne entgegenweht.

      »Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragt sie ihn, als hätte sie das von ihm erwartet.

      Maik erwidert nichts. Warum auch.

      »Was sind Sie für ein Mensch? Sie sind ein obdachloser Trinker, sind selbst nicht gesund und sorgen sich um eine kranke Katze? Sie haben Mitleid mit Lebewesen, was hat Sie nur so aus der Bahn geworfen?«

      Maik hat überhaupt keinen Bock darauf, über sein Leben zu philosophieren. Das, was er erlebt hat, geht sie einen feuchten Dreck an. Sie wäre die Letzte, der er erzählen würde, warum er seine Träume in Alkohol zu ertränken versucht, in denen die beiden Leichen ihn Nacht für Nacht im Traum aufsuchen, wie sie ihm zuwinken und zuflüstern, dass er zu ihnen kommen soll. Der Gedanke daran lässt ihn wieder einmal erschauern. Er schließt sein Auge. Bilder tauchen in ihm auf, Bilder von Körpern, die in einem Auto am Grunde des Rheins, wie Algen im Meer, gemächlich hin und her wogen. Wie sie ihn mit ihren toten Augen vorwurfsvoll anblicken, wie aus ihren zum Biss geöffneten und von Algen überwucherten Mündern nadelspitze Zähne herausragen. Wie tote Glubschaugen sich auf einmal mit Leben füllen und ihn unvermittelt anstarren, zu Fischen werden, die moränengleich aus ihren Höhlen schnellen, um ihm mit ihren Zähnen die verbrannte Haut vom Körper nagen zu wollen.

      Hilf uns, schreien die Leichen ihn jedes Mal vorwurfsvoll an. Warum hilfst du uns nicht?

      Schweiß rinnt von Maiks Stirn.

      »Sie möchten nicht darüber reden, stimmt’s? Geht es Ihnen nicht gut?«

      Nicoles Stimme holt ihn aus seinen Gedanken und er wird jäh aus seinem Wahn gerissen. Maik schluckt einen dicken Kloß herunter. Er kann ihr in seiner jetzigen Verfassung unmöglich antworten. Diese Frau bringt in völlig durcheinander. Er will aufstehen, fortlaufen und sich völlig besaufen, er kann diese Tagträume nicht länger ertragen.

      Die Tierärztin erscheint, sie trägt den Kater in einem Karton, der mit Luftlöchern versehen ist.

      »Er hat ein Herzproblem und benötigt diese Medikamente. Ich habe ihm bereits eine Spritze injiziert, die sollte fürs Erste genügen.« Sie hält ihr eine Packung hin. »Und weil die Intensivstation für heute überbelegt ist, müssen sie den Kater wieder mitnehmen und morgen noch einmal vorbeischauen, falls sich sein Zustand verschlimmern sollte« versteht Maik noch, bevor er sich abwendet und dem Gespräch nicht weiter folgt, weil er sowieso nichts davon versteht.

      Als Nicole Voss kurz darauf mit dem Karton bei ihm auftaucht und ihm übergibt, um mit ihm zu ihrem Fahrzeug zu gehen, zögert er kurz.

      »Steigen Sie ein, ich fahre Sie wieder zurück.«

      Sie öffnet die Tür zum Behandlungsraum im Fahrzeug und Maik stellt den Karton mit dem Kater hinein. Dann geht sie um das Fahrzeug herum, startet den Motor und wartet darauf, dass Maik die Tür schließen würde. Aber der ist verschwunden. Nicole steigt wieder aus und verriegelt die Tür selbst. Sie erwägt, nach ihm zu rufen, überlegt es sich aber anders und fährt ohne ihn los.

      Maik beobachtet aus dem Schatten der Klinik heraus das in der Ferne immer kleiner werdende Wohnmobil. Maik kennt in der Nähe eine Tankstelle. Dort würde er sich gewiss eine Dröhnung besorgen können. Er macht sich auf den Weg und hofft, dass dieser Ekel ihn nicht wieder übermannen wird. Er erwirbt dort zwei Flaschen, eine davon ist nach den ersten Schlucken bereits halb leer und sein erbärmliches Zittern flaut ab. Er spricht einen Truckfahrer mit Wiesbadener Kennzeichen an, der ihn glücklicherweise in der Nähe des Schiersteiner Hafens absetzt. Er könnte in eines der Boote klettern, die zur Reparatur oder Wartung auf dem Gelände der Bootsverleiher aufgebockt auf ihre Überholung warten. Aber ein alter Freund hatte ihm vor einiger Zeit erlaubt, auf dessen Boot zu übernachten, falls er mal nichts anderes finden sollte und er haust jetzt schon einige Tage darauf herum. Die Anlegestege dort werden zwar durch Tore gesichert, aber Maik weiß, wo der Schlüssel von einem der Stege zu finden ist. Für die nächsten Stunden wird er ein Dach über dem Kopf haben und genügend Alkohol, um seine schrecklichen Träume darin zu ersäufen.

      Kapitel 3

      D

      ie technisch hochentwickelte Drohne wird sicher und ohne Probleme, dank GPS, durch die Morgendämmerung zu ihrem Ausgangspunkt zurückgelotst. Die Person, die die ›Black Lady‹ steuert, sieht, wie das zehnstöckige Gebäude auf dem Display ihres iPads auftaucht. Kurz darauf vernimmt sie auch schon das leise Surren der acht Rotoren und das unbeleuchtete Wunderwerk der Technik drosselt gemächlich seine Geschwindigkeit. Die Person stellt die Automatik ab und der Octocopter verharrt einen Moment auf der Stelle, um gleich darauf sanft herabzuschweben. Sobald die Kufen der Black Lady Bodenberührung haben, werden die Motoren abgeschaltet und das Surren der Luftschrauben verstummt abrupt.

      Ein unsäglich befreiendes Gefühl hatte sie erfasst, wie sie wenige Minuten zuvor endlich eins ihrer Traumata eliminieren konnte. Sie spürt, wie die Anspannung aus ihrem Körper weicht, um einer entspannenden Genugtuung Platz zu machen. Lange hat sie auf diesen Augenblick warten müssen. Die Person nimmt ihre geliebte Black Lady auf den Arm, als wäre sie ihr Baby, streichelt sie zärtlich und trägt sie ins Penthouse. Sie entnimmt ihr den Speicherchip und schaut sich die Szenen des Einsatzes auf ihrem Computer noch einmal an. Tränen laufen ihr die Wangen herab, Tränen der Rührung. Sie spielt das Video immer wieder ab, bis sie endlich begriffen hat, dass sie die Aktion zu ihrer vollsten Zufriedenheit erledigt hat.

      Befriedigt lächelnd summt sie ein Kinderlied.

       Schlaf Kindlein schlaf

      

      

      Kapitel 4

      M