E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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die beiden Vereinszimmer waren wenig größer als übliche Wohnstuben. Auch innen bot sich das Bild eines gemütlichen Lokals, und nur jemand mit sehr feinem Gespür hätte die besondere Atmosphäre wahrgenommen. Der Wirt kannte seine Gäste, die Gäste kannten sich, und tauchte ein Fremder auf, dann wurde dem auf den Zahn gefühlt, bis man wusste, woran man mit ihm war. Das diente dem Selbsterhaltungstrieb und bewahrte die Partei vor Schaden. Nach der Zeit des Sozialistengesetzes wurde der Brauch von Wirt und Gästen aus alter Gewohnheit noch einige Zeit beibehalten.

      Julius Saupt zahlte seinen Parteibeitrag, las seinen "Vorwärts", disputierte mit den Stammkunden über Wahlaussichten, Lohndrückerei und Tarifstreitigkeiten und gab sich eher radikaler als in der Zeit, da er Sattler war. Deshalb wäre er bass erstaunt gewesen, hätte ihn jemand einen kleinen Besitzbürger genannt. Er war der Meinung, er habe eine längere Arbeitszeit sowie mehr Sorgen als seine Arbeiterkunden, und darum sei es rechtens, wenn er öfter einen Groschen beiseite legen könne. Aus den Groschen wurden Markstücke, und die sammelten sich in Sparbüchern. Es belastete das sozialdemokratische Gewissen Julius Saupts keineswegs. Man muss ja nicht immer an der Hungerkante entlangleben, um Proletarier zu sein. Hat er der Partei nicht mehr genützt als mancher Klugscheißer? Wenn man dabei selbst auch zurechtkommt, verstößt das etwa gegen das Parteistatut? Nach solchen Überlegungen fand sich Vater Saupt trefflich bestätigt im Bildungsanspruch für die Älteste. Die Saupts waren auf ihre hochfliegenden Pläne stolz und betonten es vor dem Enkel Rudolf, der sie auf ihre brieflichen Bitten hin - er war inzwischen Lehrling - besuchte. So viel Gewese um Studieren oder Nichtstudieren konnte dem Enkel kaum imponieren. Rudolf befand sich ohnehin in dem Lebensalter, wo derart selbstbezogene Strebsamkeiten gern als spießbürgerlich abgetan werden.

      Julius und Luise Saupt hatten sich nicht mehr als zwei Kinder "erlaubt", und das wies zu der Zeit auf eine fortschrittliche Einstellung hin. Dass es zwei Mädchen waren, gefiel den Eltern sehr. Da brauchen wir dem Kaiser keine Soldaten zu stellen, erklärten beide, denn Söhne würden womöglich auf die eigenen Eltern schießen müssen. Das hatte Kaiser Wilhelm Zwo von allen Deutschen im Waffenrock gefordert. Sagte jemand, Mädchen unter die Haube zu bringen, mache aber auch Sorgen, so reagierten die Eltern selbstverständlich sozialdemokratisch. Die beste Aussteuer sei Wissen und Bildung, ein richtiger Arbeiter heirate nicht den Geldbeutel, sondern seine Liebe. Allerdings wäre die Mutter nicht böse gewesen, wenn Martha ihnen einen Rechtsanwalt, einen Arzt, notfalls auch einen Druckereibesitzer als Bräutigam präsentiert hätte. Rudolfs Großmutter war eine imposante Budikenvorsteherin mit großem Busen und breiten Hüften, und im Zorn wirkte sie majestätisch. Erwähnte Rudolfs Papa sie manchmal vor Freunden, dann nannte er sie gern "der Große Kurfürst".

      Musste Julius sich geschäftlich außer Haus umtun, dann schmiss Luise den Laden. Ihre autoritäre Art wurde von den Gästen als durchaus angemessen betrachtet. Einmal expedierte sie einen Spitzel mit der Behauptung aus dem Etablissement, er habe sich ihr unsittlich genähert. Diese Art parteilicher Wachsamkeit verschaffte ihr einen legendären Ruf unter den Genossen.

      Wenn wir nun erfahren, dass Martha nach dem Lyzeum nicht studierte, sondern sich in einen Kerl verliebte, der weder Akademiker noch Gewerbetreibender war, so ahnen wir etwas von dem, was sich zusammenbraute. Der unverhofft aufgetauchte Emil Treulich konnte unmöglich vor den kritischen Augen der ehrgeizigen Saupts bestehen. Übrigens war es nicht er, der mit der Tür in die Szene fiel, sondern - ein Hund. Kein Pudel, wie im Faust, sondern eine Deutsche Dogge, die mit irgendeinem Gast in die Kneipe schlüpfte und augenscheinlich ihren Herrn suchte. Nachdem sie sämtliche Winkel durchstöbert hatte, wartete sie fordernd an der Tür, bis ihr wieder geöffnet ward. Das wiederholte sich, und eines Spätnachmittags sprach Martha Saupt das fast kalbsgroße Tier an: "Sucht das Hündchen was zu fressen?" Sie hielt der Dogge eine jener Buletten hin, von denen ein kleiner Berg unter einer Glasglocke auf baldigen Verzehr wartete, doch das Tier betrachtete das gebratene Stück Hackfleisch eher abschätzig als begehrlich.

      Man hörte draußen Lachen und Durcheinanderreden, die Tür ging auf, drei Männer traten ein. Sie schauten aus fröhlichen Augen, als sei heute alles Leid und Weh der Welt beurlaubt. Der Vorderste sagte wenig überrascht: "Da bist du ja, Striebold. Wollte dich die Dame mit 'ner Bulette bezirzen?"

      "Allerdings." Die Dame schien nicht auf den Mund gefallen. Ob der Hund ihm gehöre, fragte sie. Der Gefragte bejahte und bemerkte nicht ohne Stolz, wer einen Hund vorzuzeigen habe, der nicht gut erzogen sei, der solle lieber Karnickel züchten. Er trat näher und sagte, er heiße Emil Treulich.

      Mit diesen Worten erscheint der Vater unseres Helden auf der Bühne, und Sohn Rudolf erinnert sich ziemlich genau dieser gern erzählten Episode, weniger wegen des bedeutsamen Augenblicks, in welchem die Eltern sich zum ersten Mal sahen, als weil der Riesenhund Striebold dabei eine Rolle spielte.

      Die beiden mit Emil Treulich Gekommenen hatten sich an einen freien Tisch gesetzt, und er nannte ihre Namen. Karge und Trautmann, wie auch er wackere Schriftgießer der Firma Gursch in der Gneisenaustraße.

      Unentschlossen schaute Martha Saupt auf das verschmähte Hackfleisch. Emil Treulich sagte: "Du darfst", und Striebolds Zähne nahmen die Bulette sacht aus der Hand Martha Saupts. Die erkundigte sich, ob Emil Treulich immer erst Striebold losschicke zum "Spionieren". Er schüttelte den Kopf. Käme er nicht zur rechten Zeit, lasse seine Zimmerwirtin den Hund hinaus, damit der Herrchen suche.

      Ein Blick zu Karge und Trautmann zeigte Emil, dass die ungeduldig wurden, und er fragte, ob sie nun von der schönen jungen Wirtin drei Glas bayerischen Biers haben könnten, dazu noch für jeden zwei Bratheringe mit 'ner Stulle trocken Brot.

      Martha Saupt überspielte ihre Verlegenheit mit der sachlichen Auskunft, sie sei lediglich die Tochter des Hauses, die der Wunderhund Striebold in die Schankstube gelockt habe.

      Wie in einem Schwank hob sich die Klappe im Fußboden hinter der Theke, und der Herr Papa tauchte auf. Zu spät, Cupido hatte seinen Pfeil verschossen. Sicherlich hätte es der kecke Liebesgott auch getan, wäre Julius Saupt nicht im Keller gewesen, obwohl der Familienvorstand mit seinem unnachsichtigen Blick sonst einiges auszurichten vermochte. Im Gegensatz zu seinem Weib war er keinesfalls füllig zu nennen und so gar nicht der Typ des schwammigen Schankwirts. Die Strenge seines Gesichts wurde unterstrichen durch den Bürstenhaarschnitt und einen eisgrauen Spitzbart, wie ihn August Bebel trug. Seine grauen Augen sahen Martha verweisend an, und das hieß, scher dich aus dem Schankraum. Sie tat, als bemerke sie es nicht, und gab die Bestellung an ihn weiter. Ehe sie hinter der Portiere vor der Tür zu den Wohnräumen verschwand, verabschiedete sie sich von Emil Treulich mit deutlich bedauerndem Blick, den der gedankenvoll erwiderte.

      Der nächste Abend sah Emil Treulich dahinwandeln ohne Kollegen, ohne Striebold. Dass es einen Täter zum Tatort ziehe, ist umstritten, doch einen Verliebten zieht es magisch zum Ort, an welchem er von Amor erwischt ward. Emil nahm den Umweg über den Kreuzberg, dessen Parkanlagen sich hinzogen von der Riesenfläche des Tempelhofer Felds, auf dem alljährlich das Tamtam der Kaiserparade stattfand. Jetzt, kurz vor Ostern, hätte es eigentlich nach Frühling duften müssen, doch es stank nach gäriger Maische. Der Wind trieb die Ausdünstungen der Schultheiß-Brauerei in die Straßenschluchten Berlins. Stand man auf der Spitze des Kreuzbergs, neben Schinkels neogotischem Kriegerdenkmal, so waren in südlicher Richtung hinter Baumkronen die Gebäude der backsteingelben Bierfabrik zu erkennen. Einen kleinen Trost gegen die unselige Zweiheit - Bier und Krieg - schenkte der Blick nordwärts. Man schaute den künstlichen Wasserfall hinunter, tief in die Großbeerenstraße hinein, die sich im Dunst grauen Häusergewimmels verlor.

      Der Maischegeruch trieb Emil Treulich von hier fort. In Wahrheit war das Unterbewusste in ihm längst auf dem Weg. Von der Katzbachstraße zur Monumentenstraße wandernd, überquerte er auf der Monumentenbrücke die breite Schlucht mit dem blitzenden Schienengewirr und war dann im Bezirk Schöneberg, an dessen Rande sich Saupts Bierstuben befanden.

      Auf beiden Bürgersteigen herrschte reger Verkehr, die Straßenbäume prahlten mit Knospen und frischgrünem Blattwerk. Gedankenverloren wanderte Emil fürbass, und beinahe hätte er Martha Saupt umgerannt. Sie lachte herzhaft über seine gestotterte Entschuldigung und bemerkte: "Ohne Hund sehen Sie auch ganz passabel aus."

      Emil gestand, dass er Striebold nach Hause geschickt habe, um in Saupts Bierstuben nicht aufzufallen.

      "Ich