E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Sohn Wilhelm das Mittagessen, manchmal Mutter Mathilde. Wenn sie den Überstundenkutscher Fritz trösten wollte, wehrte er ab. Beim Herrn von Wenzendorff sei er auch meist sechzehn Stunden auf den Beinen gewesen, für noch nicht mal ein Dankeschön. Jetzt müsse er zwar meist hurtiger dran, doch dafür bekomme er vom Chef einen Lohn, von dem er in Ostpreußen nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

      Die Treulichs wurden direkt großkotzig und zogen von der Kellerwohnung ins Hochparterre. Die neue Wohnung hatte drei Zimmer, Innentoilette mit Wasserspülung, eine richtige Korridortür mit Zugklingel sowie Gasanschluss für Zimmerlampen nebst Gaskocher. Die Portiersverpflichtung war für Mathilde gedacht, denn eine Mutter mit nur fünf Kindern und im besten Alter, wird die sich etwa auf die faule Haut legen? Die Treulichs verließen sich da mehr auf sich als auf den lieben Gott, obwohl sie beim Grafen stets pünktlich hatten zum Kirchgang antreten müssen. In Berlin besuchten sie dann keine Kirche mehr, obschon es nicht wenig Gotteshäuser gab, evangelische, katholische, jüdische, die Schrippenkirche der Heilsarmee und den Barackentempel der Guttempler. Fritz Treulichs Motto lautete: Ich wünsche nichts vom lieben Gott, also schulde ich ihm nichts. Dies nun war ein Irrtum, denn jedes Jahr kassierte der Staat die Kirchensteuer. Auf die harte Frage, weshalb Fritz aus dem Verein nicht austrete, gestand er: "Vor der letzten Konsequenz hat man eben Schiss." Das -nackte Selbstbekenntnis suchte er dann zu bemänteln mit dem Scherz: "Man weeß eben nich, wat wir nich wissen, und villeicht is 'n Juthaben an höchster Stelle ooch nich schlecht." Wie auch immer, nachweisbar war in keiner der offiziellen Kirchen gebetet worden, der Herr möge dieses neue Sodom und Gomorrha Berlin züchtigen. Trotzdem fuhr Gott mit Feuer und Schwefel - bildlich gesehen - unter die Sippschaft der Jobber, Wechselfälscher, Zinsprofiteure, Bankrottspezialisten und Luftschlossarchitekten. Da gab es groß Geschrei und Wehklagen, manch Neureicher ward wieder arm, Leute aus Villen und Prachtbauten kamen über Nacht an den Bettelstab, und die kiebigsten Hasardeure schossen sich eine Kugel in den schlauen Kopf.

      Etliche Großkopfete waren wirklich klein geworden, stellte Fritz Treulich fest, etliche aber noch größer. Vielleicht war es ein Trost, dass die Armen nichts verloren hatten, denn wer kein Geld hat, kann es nicht verlieren. Die Kleinen guckten trotzdem in die Röhre, obwohl die Gründerzeit Berlin groß gemacht hatte, räumlich gesehen. Einst kleine Stadtbezirke waren angeschwollen wie Kürbisse auf Mistbeeten. Häuserzeilen um Häuserzeilen waren emporgeschossen, die Straßenzüge ähnelten Schluchten und die Höfe Verliesen. Denn die Mietskasernen waren weniger zum Wohnen gebaut worden, sondern mehr als Kapitalanlage. Dieses neue, größere Berlin war mit blanken Händen hochgemauert worden, im forschen Rhythmus, "een Steen - een Kalk". Die Randbezirke, wie Rixdorf oder Wedding, waren nun Stadt, richtige Großstadt, die Wohnhöllen, die Wohnhöhlen und die erträglichen Wohnungen bevölkerten sich, und haste nich jesehn, war Berlin zur größten Proletarierstadt des Deutschen Reiches, Fritz Treulich aber arbeitslos geworden. Tausende neben ihm zogen das gleiche Los. Über Nacht entstand die berühmte Reservearmee, den Unternehmern wie vom Himmel gefallen, den preußisch-deutschen Behörden ein Gräuel, da es eine Minderheit von Widerborsten in dieser Armee gab. Die Mehrheit bestand aus Leuten wie Fritz Treulich. Sie wussten noch gar nicht, dass sie Proletarier waren, träumten den Traum, mit Fleiß und Spucke könne man sich einen bescheidenen Wohlstand schaffen. Fritz Treulich hätte es nicht wahrhaben wollen, dass in ihm noch immer ein Stück Untertan steckte, weil es keineswegs genügt, dem gnädigen Herrn nur mit den Beinen davonzulaufen. Warum träumten er und unzählige Soldaten jener Reservearmee nicht den größeren Traum: Appell an alle Beschäftigungslosen zur großen Parade auf dem Tempelhofer Feld! Sie dachten an keinen Appell, und das schenkte ihnen ruhigen Schlaf. Nicht aber dem Herrn von Bismarck. Krautjunker und Schlotbarone wussten nur zu gut, ihr "Eiserner Kanzler" war ihnen beim Blick in die Zukunft immer drei Nasenlängen voraus. Dem Fürsten mit der untrüglichen Witterung für eigene und Klassenvorteile war keinesfalls entgangen, dass nicht alle Angehörigen jener Armee schliefen, auch nicht alle, die zufällig noch eine Arbeitsstelle hatten. Auch bei denen wurde aufgemuckt. Wahlen zeigten es, die Demonstrationen und die Streiks. Darum bescherte der Fürst 1878 dem Deutschen Volk das Sozialistengesetz, und im gleichen Jahr bescherte das Schicksal den Treulichs einen Sohn. Die Eltern gaben dem Nachkömmling den Namen Emil. Die Geschwister Treulich waren anfangs betroffen von der späten Ankunft eines Brüderchens, doch wie es meist zu gehen pflegt, um so höher schoss dann die Geschwisterliebe ins Kraut. Emil gedieh zum aufgeweckten Knaben, der unbewusst von den Vorteilen des Spätgekommenen profitierte. Er begriff schnell und lernte viel, denn mit keinem andern der Treulichjungen hatte man sich so viel abgegeben wie mit ihm. In reichlichem Maße genoss er Nestwärme, ein damals ungebräuchliches, dabei so treffendes Wort. Die Großen befassten sich mit ihm weniger aus Pflichtgefühl, eher weil er ihnen Spaß machte. Gar manches wurde dem Kleinen zugesteckt, was sich die Geschwister vom Munde abgespart hatten. Das Familienbudget erholte sich recht langsam von den Auswirkungen der Gründerzeitskandale, und Fritz Treulich stöhnte manches Mal, vier Stunden auf Arbeitssuche zu gehen sei schlimmer, als sechzehn Stunden zu schuften. Er hatte dann immer öfter Aushilfskutscher spielen dürfen, meist bei einem Fuhrunternehmen für Umzüge, bis er dort fest eingestellt wurde. Der gemächliche, aber doch spürbare Umschwung schien den bescheidenen Traum Fritz Treulichs vom bescheidenen Wohlstand zu rechtfertigen, zumal er bald merkte, einem Kutscher konnte nichts Besseres passieren, als bei einer Umzugsfirma beschäftigt zu sein, die hauptsächlich Aufträge von den "feinen Leuten" aus dem Westen der Stadt bekam. Die Gutsituierten entdeckten fast immer, dass sie mancher Dinge längst überdrüssig waren, und sie gaben meist noch ein Trinkgeld dazu, verpflichtete sich der Fuhrmann, das Überflüssige auf den Müll zu expedieren. Fritz Treulich aber hatte Abnehmer unter Trödlern, Pfandleihern, Antiquitätenhändlern und Antiquariaten, rettete manches auch für Freunde, Verwandte und Bekannte. Es war ein warmer Regen, ein dünner zwar, doch ließ sich davon etwas besser leben. Ein freundlicher Kutscher und sorgsamer Möbelverstauer musste man sein, dann blieb, wenn der Möbelwagen voll war, genau übrig, worauf man bei Besichtigung der Wohnung ein Auge geworfen hatte. Das konnte eine Stechpalme sein, ein blühender Oleander oder irgendeine andere Topfpflanze, die meist schon vom kooperierenden Gärtner bei Fritz Treulich bestellt worden war. Bedauernd wies dann der brave Kutscher auf das übrig gebliebene gute Stück und fragte treuherzig, ob es die Firma mit dem Handwagen zur neuen Wohnung nachbringen solle. Da war plötzlich den Eigentümern der bisher liebevoll gehegte Zimmerschmuck lästig, und wenig später tauchte einer der vier flüggen Söhne mit dem Handwagen auf und karrte das schnöde Zurückgelassene zu jenem Gärtner.

      Einer nach dem andern entwuchsen die älteren Brüder den Schuljungenhosen, und der Vater gab sie in eine Lehre, getreu dem alten Spruch: Handwerk hat goldenen Boden. Emil wuchs zu einem hellen Jungen heran, und nicht selten wurde er jetzt zum Handwagenschieben mitgenommen. Eifrig bemühten sich die Brüder, dem jüngsten die nötigen Schliche beizubringen, doch Emil fand diese Gaunerkomödien unwürdig. Die Brüder tippten sich gegen die Stirn. "Wer so penibel is, der kommt zu nischt." Emil widersprach, auch wer ehrlich bleibe, müsse nicht verhungern. Max, Emil um fünf Jahre voraus, ärgerte sich. "Ach, du Klugscheißer, hast denn du schon mal Kohldampf jeschoben?"

      Eindringlich berichtete er, was es heißt, mit knurrendem Magen in den Abfällen der Markthalle nach Essbarem zu stöbern, einen Apfel vom Obststand zu klauen oder eine Schrippe aus dem Brötchenkorb eines Bäckers. Emil hörte es nicht zum ersten Mal, war aber weniger von der Darstellung des Hungers beeindruckt als davon, wie der die Moral ins Wanken zu bringen vermochte. Er fand es scheußlich, dass ein knurrender Magen einen Menschen verändert. Um so verstockter schwor er sich, lieber verhungern zu wollen, als andern etwas wegzunehmen. Die Brüder fanden sich mit dieser sonderbaren Denkart irgendwann ab und meinten, wer gute Zensuren nach Hause bringe und in vielen andern Dingen ein fixer Junge sei, dem müsse man schon eine Narrheit nachsehen. Weniger leicht nahm es Vater Fritz. Er liebte besonders seinen Jüngsten, und gerade deshalb befürchtete er, der müsse mit solcher Pingeligkeit unter die Räder kommen. Manchmal ereiferte er sich so, dass Mutter Mathilde dazwischen ging, ein Junge wie Emil habe krumme Touren nicht nötig. Das sei es ja eben, begehrte der Vater auf, je fixer einer ist, desto leichter müsste es ihm fallen, das Glück ein bisschen zu korrigieren. Natürlich nur, wenn das Auge des Gesetzes gerade woanders hinschaut.

      Mutter Mathilde machte auf solche Weisheiten hin eine abschätzige Geste, zog Emil ins andere Zimmer und sprach begütigend auf ihn ein. Leider sehe der Vater viel Unrechtes bei den Leuten mit Geld, und das