E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Löffel habe schon manchen ins Gefängnis gebracht. Wer dort lande, sei gezeichnet, und aus dieser Bredouille komme keiner mehr raus. Das war mehr zweckmäßig als moralisch gedacht, vielleicht aber half es trotzdem etwas. Das eigentliche Geheimnis, warum Emil so beharrlich das Steckenpferd der Rechtschaffenheit ritt, kannte niemand. Man hätte ihn eine Leseratte nennen können, wenn darunter nicht ein Kind verstanden würde, das ständig hinter dem Ofen hockt und in die Bücher starrt. Er war das Gegenteil, ein Hansdampf, einer der Anführer im Kietz bei allen Spielen und Streichen. Trotzdem las er viel. Ob es nun die stilleren, bedächtigeren Romane waren oder aufregende Abenteuergeschichten, immer gab es Helden, die für das Gute kämpften. Ihre Redlichkeit machte sie stark, und wenn sie unterlagen, dann gingen sie mit Anstand unter. Emils Fantasie machte sie zu lebenden Vorbildern, ihre Grundsätze brannten sich ihm ein, und daraus erwuchsen eigensinnige Auffassungen wie: Was mir nicht gehört, darf keinerlei Erwägungen zulassen, was man damit anfangen könnte. Wie frei und überlegen machte dagegen das Nachsinnen darüber, was man sich selbst schaffen, erwerben oder erobern kann. Anfangs waren es Knabenwünsche, wie die Kommandogewalt über die Straßenclique. Das raue Klima ringsum sorgte bald für die Erkenntnis, dass Träume nur der Anfang sind. Sollen sie Wahrheit werden, muss man etwas tun. Da gab es den Cliquenpfiff auf fünf Fingern, wer den nicht beherrschte, kam nicht in die Clique. Emil übte wochenlang, sogar das Lesen kam darüber zu kurz, doch er ließ nicht locker, bis er auf einem, zwei, drei, vier und fünf Fingern pfeifen konnte.

      Ehe sich's die Familie versah, befand sich der Emil im letzten Schuljahr und ward zum Problem: Wer weiß eine Lehrstelle?

      Dreißig Jahre später sah es für Emils Sohn Rudolf nicht anders aus, obwohl sich das Firmenschild des Staates geändert hatte. Es hieß noch immer: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Dass es manchmal hilfreiche Leute gibt, macht die Sache weniger trostlos. Im Fall des Emil war es der älteste Bruder Wilhelm, der bei der Suche nach einer Lehrstelle fündig wurde. Wilhelm hatte in Friedrichshagen auf einer Bootswerft gelernt und war bald ein gesuchter Mann. Als Besitzer einer Segeljolle trat er einem Segelklub bei, dessen Mitglieder zu den "besseren Leuten" gehörten, wie der Volksmund verallgemeinernd die besser Verdienenden nennt. Wilhelm war der einzige Arbeiter, aber auch der einzige Fachmann im Klub und gern gelitten, getreu dem Spruch: Der Zimmermann im Haus erspart die Axt. Es ist bequem, am Sonntagabend um eine Instandsetzung bitten zu können, von der man weiß, dass sie am kommenden Wochenende ausgeführt sein wird. Einer der "Stammkunden" Wilhelms im Klub war der Prokurist Herr Muser, von der Schriftgießerei Gursch im Südwesten Berlins. Von ihm erfuhr Wilhelm Treulich, was die Schriftgießerei bedeutet, was ein Schriftgießer verdient und dass die Firma Überdurchschnittliches fordere, wenn sie Lehrlinge einstelle. Wie nebenhin erzählte Wilhelm dem Bruder, was er von Herrn Muser alles über die Schriftgießerei erfahren habe. Dass ein angehender Schriftgießer ein aufgeweckter Kopf und belesener Mensch sein müsse. Diese geschickt geworfenen Haken setzten sich in der Seele des Jüngsten fest, und bald wagte er die Frage, ob Wilhelm nicht ein gutes Wort für ihn bei Herrn Muser ...

      Wie jeder normale Junge hatte Emil schon frühzeitig verkündet, welchen Beruf er einst auszuüben gedenke. Zuerst hatte er Straßenfeger werden wollen. Die Männer hantierten mit so herrlich breiten Besen, schoben praktische Handkarren, und alle Leute waren freundlich zu ihnen, weil sie Rinnsteine säuberten, sowie die Bürgersteige von Papier reinigten und von Hundekot, in Berlin Apothekerscheiße genannt, weil von Drogisten und Apothekern in weißtrockenem Zustand gefragt und gesammelt.

      Als Emil dann die Indianerbücher von Cooper verschlang, von Gerstäcker und auch das Zeug des Vielschreibers Karl May, da stand für ihn fest, dass er als Trapper in den Wilden Westen gehen, vielleicht auch einer der Regulatoren von Arkansas sein würde.

      Die ersten Bilder und Beschreibungen von elektrischen Straßenbahnen erschienen in den Zeitungen, und Emil durchzuckte die Erkenntnis, nichts anderes als Straßenbahnkondukteur komme für ihn in Frage. So einer musste immer wissen, wohin die Bahn zu fahren sei, schließlich kannte Emil Berlin an allen Enden, in allen Ecken. Den Traum vom Dompteur träumte er am längsten. Den schwarzen Kater Quitsch hatte er abgerichtet, durch einen Reifen zu springen und eine Leiter hinauf- und hinunterzuklettern; den weißen Spitz Fatzke ließ er auf den Hinterbeinen tanzen, einen Salto schlagen und sich, auf dem Rücken liegend, totstellen. Fatzke und Quitsch waren die beiden Hauptattraktionen der Zirkusvorstellungen. Der Hinterhof wimmelte dann von Kindern. Sie begeisterten sich aber auch an Emils Vorträgen. Mit der Ballade "John Maynard" rührte er sie zu Tränen, der "Erlkönig" verschaffte ihnen angenehmes Gruseln. Freigebiger Beifall beschwingte Emil, und der Hof wollte sich auch dann nicht leeren, wenn er das Programm wiederholt hatte. Dann halfen ihm Erwachsene, die in nicht geringer Zahl Zaungast spielten. Mit drastischen Drohungen säuberten sie den Hof von allen Gören und prophezeiten dem jugendlichen Alleinunterhalter eine große Zukunft. Einmal schaute auch Vater Fritz zu. Er war nicht wenig stolz, wie es dem Jüngsten gelang, mit seinen Schnurrpfeifereien sogar Erwachsene anzulocken. Nachdem er Mutter Mathilde vom Hofzirkus berichtet hatte, lautete sein Resümee: "Wenn der dusslige Bengel in sein Zylinder sammeln würde, könnte er 'ne Menge Jeld machen."

      Die Mutter sprach mit Emil darüber, doch der erklärte, würde er es für Geld machen, hätte er keine Freude mehr daran.

      Irgendwann verdrängten andere Interessen das Zirkusspiel, bis Bruder Wilhelm dann die Neugier Emils geweckt und mit Herrn Muser gesprochen hatte. Emil musste sich bei der Firma Gursch vorstellen, seine Zeugnisse fanden Gnade vor den gestrengen Augen des Geschäftsführers, und bald war er Schriftgießerlehrling, der verbissen die schwere Anfangszeit durchstand, um sich langsam zum Gehilfen zu mausern.

      Vater Fritz dagegen mauserte sich zum Unternehmer.

      Sein Chef hatte sich totgesoffen, und die trauernde Witwe war froh, als sich Fritz Treulich bereit erklärte, das Fuhrgeschäft mit Vorkaufsrecht in Pacht zu nehmen. Das hieß Umzug in die Markusgasse, eine Sackgasse, die von der Markusstraße abging und die abends vermittels zweier riesiger Eisengittertorflügel zugesperrt wurde. Zum Fuhrgeschäft gehörte eine weitläufige Wohnung mit großen Zimmern und ein langer Hinterhof voller Stallungen und Remisen. Dieses Stück ziemlich alten Berlins war eine Art Gewerbezentrum. Markthallengroßhändler, Stellmacher, Möbeltischlereien, Klempner, Bauschlossereien hatten in den weiträumigen Höfen mit den vielen Schuppen ihre Werkstätten und Lagerräume. Aus einer gemeinsamen Kasse bezahlten sie einen Privatwächter, der abends das Tor zu schließen, morgens zu öffnen, des Nachts mit Laterne und Tutehorn in der Markusgasse hin und her zu gehen hatte, um ausbrechendes Feuer zu melden, vor allem aber lüsterne Diebe abzuhalten. Als die Wächterstelle vakant wurde, nahm Vater Fritz sie an, das brachte zusätzliches Geld. Auf dem Kutscherbock saßen jetzt seine drei Kutscher, er musste am Tage den Schreibkram erledigen, und das war nicht so arg viel, als dass er nicht noch seinen notwendigen Schlaf gefunden hätte. Das Tor zu schließen und zu öffnen erledigte er auf die Minute, einen nächtlichen Gassenrundgang machte er alle zwei Stunden. In der Zwischenzeit schlief er auf weichen Säcken den Schlaf des Ungerechten ohne Gewissensbisse, denn der Spitz Fatzke war stets bei ihm, und der gab beim geringsten Verdachtsmoment Laut.

      Die fünf Treulich-Brüder schliefen im größten Zimmer, wogegen Tilla, die geheiratet hatte, ein Wohn- und ein Schlafzimmer bekam, dazu das Parterrezimmer nach vorn, in welchem ihr Schuhmachergatte eine Besohlanstalt errichtete.

      Emil fand die neue Situation famos. In dem riesigen Zimmer war Platz genug, und abends saßen die Treulich-Söhne allesamt um den großen Tisch in der Mitte. Es gab viel Spaß; nicht zuletzt durch den Schwager Egon, den sie den "verrückten Schuster" nannten. Dessen Besohlanstalt gedieh nicht, das aber machte seinem Naturell keinen Kummer. Er arbeitete wenig und schlief viel. Allerdings sprang er morgens aus dem Pfühl, riss die Fenster seiner Werkstatt auf und begann pünktlich um sieben Uhr mit dem Schusterhammer laut aufs eiserne Dreibein zu hämmern. Leise kroch er dann wieder ins Bett und glaubte beim Einschlafen die Leute loben zu hören: Welch ein tüchtiger Mensch, Punkt sieben jeden Morgen macht er sich fröhlich ans Werk!

      DRITTES KAPITEL

      Erbstreitigkeiten?

      Eltern, hinterlasst euren Kindern

      anstatt Geld und Gut

      seelische