E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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wie vom Erdboden verschluckt.

      Allein und nackt, sozusagen am Kraterrand des Verderbens stand der kleine Rudolf und wunderte sich, wie einsam es plötzlich auf der Welt sein kann. Zwar sah er die Wolke, aber er wusste noch nichts von der Wut gereizter Erdwespen. Deren Vorhut hatte ihn eben erreicht, und die erste setzte ihm eine Quaddel in den Babyspeck. Da schrie er so, dass gleich mehrere Erwachsene angerannt kamen. Vorneweg der Papa, der den Ausreißer in die Arme riss, zurückraste und ihn in die Regentonne tauchte, währenddessen die Mama den nackten Oberkörper des Gatten in ein Badetuch hüllte und jene Biester zerrieb, die sich auf die Haut des Retters gekrallt hatten. Vater und Sohn sahen danach aus, als hätten sie ein bisschen die Beulenpest.

      Während der Aussprache der Eltern lag der tragische Held des Tages eingesalbt und getröstet bereits im Bett und schlief sich das Schrecknis von der Seele: Dies muss ihm so gut gelungen sein, dass davon nichts auf der Tafel seines Gedächtnisses stehen blieb. Erst die Zweitschrift, der Bericht der Eltern, kratzte sich ein, denn es war so schön gruselig, von der Lebensgefahr zu hören und sich dabei an die Brust der Mutter zu kuscheln.

      Das nächste gravierende Erlebnis, das sich kein Jahr später ereignete, blieb in Rudolfs Erinnerung. Bald nach dem Umzug in die ersehnte neue Wohnung erlaubte ihm die Mama - die Sonne schien so schön - nach unten spielen zu gehen. Was für ein Spaß, die neue Heimat zu erforschen. Allein die vielen Wege zwischen den Gärten der Häuser. Die geheimnisvollen Kellereingänge, welche hinunterlockten ins Halbdunkel. Herzklopfend ging man ihnen nach und fand eine andere Kellertreppe, die man neugierig hoch stapfte, um neben einem fremden Hauseingang wieder ans Tageslicht zu gelangen. In den Kellern roch es nach Kartoffeln, Presskohlen, Körnerfutter und vielem Andern, doch nicht dumpf, denn die Keller waren knochentrocken. Es war für den tapferen Kundschafter aufregend, durch die daumenbreiten Bretterspalten in die fremden Kellergelasse zu lugen. Durch Vorhängeschlösser gesichert, gewährten sie dennoch einen Blick ins Private, was Wohnungstüren nicht gestatten.

      Auf seinem Pirschgang gelangte der Kleine zum Haus mit den Eingängen Nummer sechs, sieben, acht und neun, ein Pendant zum Haus der Treulichs, mit dem Unterschied, dass sich im Parterre, zur Paradiesstraße hin, die Konsumverkaufsstelle befand. Der Lagerraum war im Keller der Nummer acht, an deren Rückfront mehrere Müllkästen standen, die an jenem Tag überquollen. Deshalb wohl waren die beiden verblichenen Mäuse auf einem Müllkastendeckel hinterlegt worden, denn es gibt selten einen Lagerraum ohne Mäuse. Rudolfs Augen begannen zu glänzen. Wie waren die Tierchen niedlich. Samtige Fellchen, wunderschöne lange Schwänzchen und rosige Öhrchen. Die musste er der Mama zeigen. Vorsichtig nahm er sie bei den Schwänzen und trug sie glückselig vor sich her. Da begegneten ihm einige große Mädchen, die eben aus der Schule kamen. Sie blieben erschrocken stehen und verzogen die Gesichter. Das verblüffte den Mäusefreund, denn er empfand die Elfjährigen nicht nur als groß, sondern auch als klug und hübsch, mit den langen Zöpfen bis zum Popo und den bunten Haarschleifen.

      "Pfui Teufel", schalt Elsbeth Akel, "wirf mal sofort die ekligen Viecher weg!"

      Der Kleine war tief enttäuscht. Wie konnte man die niedlichen Tierchen eklige Viecher nennen? Zutraulich trat er auf die Mädchen zu und hob freundlich die beiden Mäuslein hoch. Entsetzt schrien die Langbezopften auf und rannten davon. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, rannte er den Mädchen nach, und als sie ihn kommen sahen, ergriffen sie wiederum die Flucht. Der Mädchenjäger steigerte sich in einen Rausch, machtselig trieb er das Mädchenquartett die Paradiesstraße entlang und dann in die Quaritzer Straße.

      Frau Hohmann erwischte den Knirps und schimpfte, er solle die abscheulichen Biester wegwerfen. Der Knirps weigerte sich. Else Hohmann nahm ihn beim Schlafittchen und brachte ihn zu seiner Mama. Frau Martha bekam jenes strenge Gesicht, bei dem der Sohn immer dachte, lieber soll sie mir eine tachteln. Streng fragte sie, ob er sich nicht schäme, die armen Mädchen derart zu quälen. Für diese böse Tat dürfe er morgen nicht aus der Wohnung. "Wirf sofort die Mäuse in den Mülleimer!" gebot sie.

      Die Samtpelzigen und ihre Zaubermacht hergeben? Halb widerspenstig, halb bittend, schaute er die Mama an.

      "Also gut, dann sind es drei Tage Stubenarrest."

      Hier geht's aber streng zu, dachte Else Hohmann, und sie versuchte, abzuwiegeln. "Er tut sie schon weg. Wird doch nicht tagelang in der Wohnung hocken wollen bei dem schönen Wetter."

      Das wollte Rudolf wirklich nicht, und todtraurigen Gesichts ließ er die Mäuslein in den Abfalleimer fallen.

      Martha Treulich sprach den ganzen Tag kein Wort mit dem Spross. Es war ihm so unerträglich, dass er sich sofort beim Papa darüber beklagte, als der des Abends in die Wohnung trat. Die Mama sagte, sie fände es verwerflich, wenn ein Mensch andere Menschen jage, die sich nicht wehren können.

      "Ist es so gewesen?" fragte der Papa.

      Der Sohn schwieg.

      "Willst du mir nicht die Wahrheit sagen?"

      Es war schwierig mit der Wahrheit. Zugegeben, er hatte die Mädchen gejagt, aber dass die sich nicht wehren konnten?

      "Warst du hinter ihnen her oder nicht?"

      Dieses nun konnte man zugeben. Aufatmend nickte Rudolf.

      "Na endlich." Der Vater war froh, es mit einer Ermahnung bewenden lassen zu können. "Du weißt, wie wir Lügen hassen. Und wenn du eine Scheibe eingeschlagen hast, komm zu mir und sage die Wahrheit, dann wird die Sache ohne Dresche geregelt."

      "Ja, Papa." Rudolf nahm diesen Blankoscheck auf Straflosigkeit für eine zerdepperte Fensterscheibe mit innerer Begeisterung in Empfang. Er musste nun genau erzählen, was geschehen war.

      Um der Mama nicht in den Rücken zu fallen, machte der Papa ernste Miene zum heiteren Spiel. Er selbst fand das Schelmenstück ergötzlich. Vier schreiende Kälber, die sich von einem halb so großen Knirps mit zwei toten Mäusen ins Bockshorn jagen lassen.

      Die Mama gab zu bedenken, dass manches, was lachhaft ausschaut, einen traurigen Kern haben kann. Unterbinde man solche Eskapaden nicht, dann erschrecke der Sohn morgen womöglich seine Gespielen mit einer toten Katze oder treibe mit dem lebenden Striebold entsetzte Kinderscharen vor sich her.

      Emil nickte zu den klugen Worten und schaute nachdenklich auf jenen lebenden Striebold, der, kleiner als die Dogge aus der Junggesellenzeit, einen leidlichen Ersatz für den Vorgänger darstellte. Dem kleinen Rudolf kam der Hund so groß vor wie ein Pferd, und er kannte kaum ein lustigeres Spiel, als zu versuchen, auf Striebold zu reiten.

      Emil Treulich hatte den Sohn meist dabei, wenn er mit Striebold trainierte. An den Kunststückchen hatten alle drei ihren Spaß, besonders an der Walzernummer. Vater sang "humtata-humtata", Striebold, hochaufgerichtet, tanzte auf den Hinterläufen im Walzertakt, was Herrchen durch Taktieren mit einem Stück Wurst erreichte, während der Sohn die beiden umkreiste und kräftig das "Humtata" mitsang.

      Attraktiver und mehr für Zuschauer gedacht war das Dressurstück: Klein Rudolf hält die Hand in die aufgesperrte Schnauze Striebolds.

      Schon früh, kaum hatte der Kleine zu krabbeln begonnen und Freude an eigener Bewegung gezeigt, begann Vater Emil mit leichten Übungen. Diese Ringkämpfe, Boxspiele und Rangeleien jeden Sonntagmorgen im Bett gehörten zu den schönsten frühen Erinnerungen des großen Rudolf. Sein Vater rühmte sich, ihn mit diesen Übungen für Extremfälle trainiert zu haben. Der Sohnematz hatte so lange am hölzernen Schutzgitter seines Kinderbetts herumprobiert, bis es mitsamt dem Wagehals abkippte. Nun lag er in einer derart unglücklichen Lage, dass er sich bei der leisesten Bewegung das Genick angeknackst hätte. Aber er bewegte sich nicht, sondern schrie nur. Darauf kam die Mama angestürzt und befreite ihn aus der selbstgestellten Falle.

      Rudolf brachte dem Vater unbegrenztes Vertrauen entgegen, Papa war der Wissende, Alleskönnende, war Gottvater, denn mit dem Papa war das einfacher, als es mit einem weißbärtigen Mann gewesen wäre, der unsichtbar im Himmel thront. Den Begriff Gott in seiner religiösen Bedeutung gab es für den kleinen Rudolf nicht. Er war nicht getauft, und die Eltern bemühten sich, ihn im Freidenkersinne zu erziehen. Sie fanden es unfair, von den Religionsgemeinschaften, mit der Taufe einen Unmündigen auf ihre Lehre festzulegen.

      Der