E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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von den Siefferts die Rede war, soll jene Episode nicht vergessen sein, bei der das durchlöcherte Markisendach dieser Familie eine Rolle spielt, weiterhin Erich Birnhardt, kurz Ete gerufen, sowie die Entwicklung der Luftfahrt, in besserem Hochdeutsch damals Aviatik genannt. Das mag ungereimt klingen, doch wann ist das Leben schon gereimt.

      Bereits im Geburtsjahr Rudolfs war es einem Menschen gelungen, auf Leinwandflügeln und mit knatterndem Motor den Ärmelkanal zu überfliegen. Der Ingenieur Louis Blériot wurde entsprechend gefeiert, kaum weniger als die Brüder Wright, die sich als Erste per Motorkraft in die Luft erhoben hatten. Sie, wie Blériot und eine Anzahl anderer Flugpioniere, wurden berühmt, aber weder sie noch die übrige Menschheit begriffen, dass mit diesem "tollkühnen Sport" nicht nur die Eroberung der Luft, sondern auch die des Weltraums begonnen hatte. Dieses Manko an Voraussicht wurde ausgeglichen durch eine kaum vorstellbare Begeisterungsfähigkeit. Den Tag des ersten "Deutschen Rundflugs" im Sommer 1911 wünschten an die fünfhunderttausend Menschen mitzuerleben. Zu Fuß, per Fahrrad und auch Tandem, mit Kremsern, Kutschen, Droschken und Taxen zogen sie zum Flugplatz. Sonderzüge spien alle fünf Minuten weitere Menschenmassen auf dem Bahnhof Niederschöneweide-Johannisthal aus, Fahrkartenknipser wurden fortgeschwemmt, die Bahnhofsumzäunung niedergewalzt, die Gendarmen verschwanden im Malstrom, der sich in den idyllischen Vorort Johannisthal ergoss, gegen den Bretterzaun des Flugplatzes brandete und dann die umliegende Landschaft überschwemmte, weil der weite Platz bereits von dreihunderttausend früher Aufgestandener besetzt war. Wer das miterlebt hatte, konnte sagen, er habe den Flügelschlag des neuen Jahrhunderts gespürt. Jedenfalls formulierte es Emil Treulich ähnlich, wenn er zum Sohn davon sprach. Denn selbstverständlich hatte der Papa den damals Zweijährigen zum Rundflug nicht mitgenommen, es verbot sich auch, weil die Bahnsdorfer Aviatikbegeisterten zu Fuß nach Johannisthal gepilgert waren.

      Im Oktober 1913 kam der Mann ohne Nerven nach Johannisthal, Adolphe Pegoud. Dieser französische Luftikus wurde mit Recht Kunstflieger genannt. Wieder zogen Scharen von Bahnsdorfern nach Johannisthal, und Rudolf durfte wieder nicht mit.

      Zurückgekehrt, berichteten die Männer von dem Teufelskerl, der mit seinem Aeroplan einen regelrechten Salto mortale flog, sogar zweimal hintereinander. Emil Treulich stieg auf einen Schemel, und zwei Brettchen aus Zigarrenkistenholz - sonst zum Kastagnettenklappern benutzt - zu einem Kreuz übereinanderliegend, demonstrierte er schwungvoll, wie dieser Pegoud in der Luft zu Hause war. Am tollsten waren ja die Sturzflüge. Wie ein Stein stürzte Pegoud aus der Höhe herab, aber kurz vor der Erde stoppte er und brauste wieder hinauf zu den Wolken. Am aufregendsten war es, als er auf die Tribüne am kaiserlichen Aeroclub zuraste. Ein einziger Schreckensschrei stieg zum Himmel, die Monokelfritzen und ihre Damen mit den Wagenradhüten warfen sich schon zu Boden, da zog Pegoud seine Kiste im letzten Moment hoch, brauste dicht übers Tribünendach hinweg, kam kurz darauf zurück, flog an der Tribüne entlang und winkte in französischer Galanterie, als wolle er den Angstschlotternden zurufen: Haben Sie mehr Vertrauen in meine Flugkunst!

      Emil Treulich stieg vom Schemel herab, und damit war die Hauptvorstellung beendet. Doch Rudolf wurde nicht müde, weiterzufragen. Ob der mutige Franzose schneller als eine Lokomotive sei? Mindestens dreimal so schnell, lautete die Antwort, und der Vierjährige hielt sich vor Erstaunen den Mund zu. Auch die Mama hatte Fragen, sie erkundigte sich, wie es wohl komme, dass nun, nach Eroberung der Luft, auch dort wieder nur die Männer das Steuer in der Hand halten. Emil Treulich erinnerte an die vielen Unfälle bei der Fliegerei. Es drohte eine Diskussion über Flugkunst und Frauenrecht, deshalb fragte Rudolf rasch, was der arme Pegoud wohl mache, wenn er mal ganz eilig aufs Töpfchen müsse? Die Eltern lachten herzhaft, die Mama erklärte, solch ein trainierter Mensch wie Monsieur Pegoud habe genug Willenskraft, warten zu können, bis er wieder auf der Erde sei.

      Rudolf hätte den Papa weiterhin mit Fragen eingedeckt, doch der Kaffee wurde aufgetragen, und die drei Baugenossen Parkowski, Ardies und Birnhardt erschienen zum sonntäglichen Skat. Gemeinsam hatten sie Pegoud erlebt, sie erzählten begeistert, und Rudolf saß mit offenem Mund. Die eingefleischten Skatbrüder vergaßen vorerst ihr Spiel, und das wollte etwas heißen. Sie bewunderten in Pegoud und seiner Flugkunst das Jahrhundertereignis und ahnten nicht, dass Militaristenhirne bereits planten, die großartige Errungenschaft als Kriegsgerät zu missbrauchen.

      Fragte man in diesen Tagen einen Jungen, was er werden wolle, dann lautete die Antwort: Flieger wie Pegoud. Bloßer Wunschträume überdrüssig, begannen die älteren Jungen, ihrem Idol praktisch zu huldigen; sie bastelten Flugzeuge. Mehrere dieser leichten Vögel aus Wurstspeilen und Leinwand baute Ete Birnhardt. Etes Vater war Taxichauffeur. Zu der Zeit waren Pferdedroschken immer noch beliebter als ihre Konkurrenz, die Benzinkutschen, die statt Rossäpfel nur Gestank hinter sich ließen, und wollten sie konkurrieren, mussten sie hübsch blank geputzt sein.

      Ob seines Vaters ehrlichem Broterwerb hatte Ete viel Spott auszustehen. Kam er irgendwann auch nur eine Minute zu spät, gleich hieß es: "Musstest wohl Papas Stänkerkiste putzen, wat?" Wollten sie ihn hänseln, riefen ihn Freund und Feind "Putzer".

      Übung macht den Meister, und als Neuestes in der Modellbauerei hatte Ete ein wahres Prachtwerk mit einem Gummimotor gebastelt. Immer wieder drängten ihn die Freunde zu Vorführungen. Er hatte schon Blasen an Daumen und Zeigefinger, denn der Propeller der Rumpler-Taube musste so lange gedreht werden, bis die vielen parallel laufenden Gummibänder zu einem hoch gespannten Strick zusammengedreht waren. Stellte man nun die Leichtgewichtige auf den Boden und ließ den Propeller los, dann jagte die Gummispannkraft Etes Taube einige Zentimeter über dem Erdboden dahin.

      Ruhm kann lästig werden, bald verkündete Ete, er könne nicht nur Flugzeuge fabrizieren, sondern auch Flugzeugabstürze. Es sprach sich schnell herum. Zur festgesetzten Zeit öffnete sich das Stubenfenster im obersten Stockwerk des erstgebauten Hauses in der Paradiesstraße. Ete hielt die unschuldige Flugtaube zur Ansicht weit aus dem Fenster und verkündete den Beginn des Todesfluges. Lautes Ah und Oh ertönte, die Straße war verstopft von einer quirlenden Kindermenge, erstaunlich, wie viel Gören, trotz propagierten Zweikindersystems, in Paradies vorhanden waren.

      Ete stopfte den Pilotensitz voll Watte, tränkte die Watte mit Benzin, entzündete ein Streichholz und warf das Leinenspielwerk mit voller Wucht in die Luft. Hundertstimmiger Schrei ließ jegliches Lebende in der Baugenossenschaft erzittern, wild flüchtete, lief, rannte, raste alles davon, jeder fürchtete, vom brennenden Aeroplan getroffen zu werden. Doch die Angst war umsonst. Zwar flog das Modell erst ein Stück in die Welt hinaus, doch dann kehrte es in elegantem Bogen zum Haus zurück, glitt sanft ein Stück seitwärts und sauste dann im Sturzflug hinab auf Siefferts Markise, die dort als Sommerdach den Vorgarten zierte. Rufe des Entsetzens stiegen zum Himmel. "Ojemine, wenn nu det Haus abbrennt ...!"

      Orje Bläsner war wieder einmal zur Stelle und beförderte das qualmende Unglück mit einer Harke zur Erde, wo die stolze Himmelstaube unrühmlich zertreten ward.

      Ete kam eilenden Fußes die Treppe hinunter, um Löschdienst zu leisten, aber zu spät, in der Markise gab nun ein Loch mit schwarzem Rand den Blick in den Himmel frei. Frau Birnhardt rief den Sohn zwecks Abstrafung nach oben. Die Freundschaft plädierte lauthals für Freispruch. Dessen ungeachtet bekam Ete vom Vater abends "seine Wamse". Am nächsten Skatabend bei Treulichs erboste sich der rotbäckige Choleriker: "Der Bengel soll mit'm Stabilbaukasten spiel'n, Blech kann wenichstens nich fliejen. Die verdammten Stoppelhopser machen unsre Jungs janz knille."

      Für die ersten Luftsprünge bejubelt, wurden die deutschen Aviatiker bald als Stoppelhopser verlacht, denn geraume Zeit kamen sie ins Hintertreffen gegen solch ausländische Flieger-Asse wie Monsieur Pegoud.

      Ein Jahr später, als der Krieg begonnen hatte, unterstand das Flugwesen dem Oberkommando des Heeres, und jetzt wurden in Johannisthal Kriegsflieger ausgebildet. In der Sommerzeit gab es in der Umgebung Bahnsdorfs so manche Notlandung. Im Nu sprach sich das jedes Mal herum, und die Jugend rannte zum Ort des Unglücks. Schnell hatten die Kinder mitbekommen, dass eine der Ursachen gebrochene Benzinleitungen waren. "Die müssten eijentlich aus Platin sein", verkündete Fachmann Ete, "det is siebenmal zäher als Kupfer." Er hatte auch den Freunden geraten, nie ohne eine leere Pulle loszurennen, denn beim ersten Mal hätte er blutige Tränen weinen mögen angesichts der Benzintränen, die nutzlos in den märkischen Sand tropften.

      Einmal brachte auch Rudolf eine