E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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breitet sich nicht aus - hast du Minimax im Haus." Nach der Erklärung, was ein Handfeuerlöschgerät bewirke, fragte der aufmerksame Zuhörer: "Aber wenn keiner zu Hause ist zum Spritzen?"

      Gar nicht so dumm, meinte der Vater, auf diesen Pferdefuß sei nicht einmal er gekommen. Des Sohnes Blicke waren schon auf den nächsten Zweizeiler gerichtet. "Bei jedem Brand die Feuerwehr - bei Sodbrenn' aber Bullrich her!"

      Der Senior erklärte, es gebe halt Leute, die zu fett äßen, und das bekomme ihnen nicht. Schluckt man nun einen Löffel Natron, hört das Sodbrennen auf. Der Herr Bullrich lasse das Natron in Päckchen tun und in Drogerien und Apotheken verkaufen. Auf den Päckchen steht Bullrich-Salz, es ist teurer als Natron, und von dem Mehrpreis ist der Herr Bullrich Millionär geworden.

      Rudolf zog die Stirn kraus. Warum denn die Leute das kauften, wenn es teurer sei?

      "Weil sie denken, was teurer ist, muss besser sein", bekam er Auskunft. Vor Nachdenklichkeit vergaß Rudolf die Blicke schweifen zu lassen, beunruhigt fragte er: "Papa, warum sind die Menschen so dumm?"

      Betroffen nach einer Antwort suchend, drehte Emil Treulich seinen dicken Spazierstock aus fremdländischem Holz, der zu Rudolfs immer neuer Verwunderung fast so leicht wie aus Papier war. "Die Menschen sind dumm, weil sie dumm gemacht werden", sagte der Papa und wusste, das war eher eine Behauptung als die Erklärung eines Systems.

      "Und wer macht die Menschen dumm?"

      "Alle diejenigen, die davon reich werden."

      "Wie der Herr Bullrich?"

      "Du hast es erfasst."

      "Aber warum hören die Menschen nicht auf ihre Papas?"

      Emil Treulich wies darauf hin, dass nicht alle einen Vater hätten und nicht alle Väter klug genug zum Erklären seien, manche auch keine Lust hätten, weil die Söhne nicht fragten.

      Aber Millionär wolle er schon gern sein, Rudolf wechselte das Thema, dann müsste er keine grünen Bohnen essen und würde sich eine neue Mama kaufen. Sollte das eine böse Stiefmutter sein, würde er sie in den Backofen schieben, wie es Hänsel und Gretel gemacht hatten, und Lotti und Hertha gleich noch hinterher.

      Ernsthaft erschrocken, forschte der Vater: "Warum denn Lotti und Hertha?"

      "Weil sie böse sind. Mehr verrate ich nicht, bin keine Petze." Rudolf presste die Lippen zusammen, und der Papa hütete sich, weiter in ihn zu dringen. Er legte den Arm um den Sohn. "Deshalb fahren wir doch zu den Kötschers, da ist keiner ein böser Mensch. Es sind Freunde von mir. Wirst sehen, wir finden auch eine Mama."

      Vom Hochbahnhof Möckernbrücke fuhren sie noch ein Stück mit der Straßenbahn. Vor einem riesigen Haus mit Eingängen in der Großbeeren- und in der Kreuzbergstraße blieb Emil Treulich stehen und hielt Musterung. Er rückte am Matrosenhütchen des Sohnes und zog ihm die Falten aus den Strümpfen. Rudolf hatte dabei Zeit, sich umzuschauen. Auf der andern Straßenseite stand ein Gebirge mit einem Wasserfall. Der Papa sagte, das sei der Kreuzberg, und so bald wie möglich würden sie dessen Gipfel ersteigen. Auf dem Teich, in welchem der Wasserfall endete, schwammen Enten. Rudolf wäre am liebsten hingerannt, um sie zu streicheln. Doch dem Papa war Pünktlichkeit wichtiger als die Enten. "Wer unpünktlich ist, ist auch unzuverlässig", bemerkte er, als er prüfend auf die Uhr schaute. Mit der dem Sohn vertrauten Gebärde drückte er den Sprungdeckel zu und schob das gute Stück wieder in die Westentasche. Hätte es der Papa nicht so eilig gehabt, Rudolf hätte ihn gern nach der piekfeinen Uhr gefragt. Er kannte zwar deren Geschichte schon, aber sie erinnerte so schön an ein Märchen. Nach fünfzig Jahren als Leibkutscher beim Gutsherrn von Wenzensdorff sei der Großvater des Papas ans Sterbebett des Grafen geholt und von dem mit der Uhr beschenkt worden. Sie vererbte sich auf den Sohn, der wiederum Kutscher bei den Wenzensdorffs war. Des Papas Vater, Fritz Treulich, hatte das Erbstück später in Berlin schätzen lassen, und der Uhrmacher fand, das Schönste an dem Chronometer sei der eingravierte Spruch: "Treue gegen Treue". Ansonsten bestehe das Schmuckstück aus vergoldetem Tombak. Aus Rache gegen den falschherzigen Grafen brachte Großvater Fritz die Scheingoldene zum Pfandleiher und gedachte sie nie wieder zurückzuholen. Weil ihm die Geschichte mehr wert war als das goldene Andenken aus Tombak, hatte der Papa dann die Uhr eingelöst.

      Auf Emil Treulichs Klingeln öffnete eine ältere Frau mit braunen Sanftaugen. Freudig drückte sie den Papa, als sei er ihr Sohn. Dann wandte sie sich dem Söhnchen zu. "Das ist also der Rudi." Sie half ihm aus dem Kinderpaletot und fuhr ihm übers Haar. "Ein großer Junge für sein Alter." Sie beugte sich mütterlich zu ihm nieder. "Sag Oma zu mir, Rudi."

      Der grauhaarige Mann hinter ihr betrachtete aufmerksam den Jungen und forderte forsch: "Und zu mir sagst du Opa."

      Brav erwiderte Rudolf: "Ja, Großpapa." Dabei dachte er, es riecht wunderbar nach Rouladen und Rotkohl.

      Sie wurden in die gute Stube geführt, und dort erhoben sich vier Personen. Es waren Tante Gretchen, Tante Hedwig, Tante Hannchen und Onkel Otto. Der Onkel war athletisch gebaut, hatte blondes krauses Haar und blaue Augen, die wie sein frisches, rötliches Gesicht immer zu lachen schienen.

      Dagegen hatte Tante Gretchens Gesicht fahle, großporige Haut, es wirkte ein wenig streng, wohl durch die klugen grauen Augen. Obwohl die Kleinste der Schwestern, weil etwas verwachsen, strahlte sie das meiste Selbstbewusstsein aus.

      Tante Hannchen war unzweifelhaft die schönste. Dunkelhaarig, mit großen braunen Augen, hatte ihre leichte Üppigkeit etwas sehr Lebendiges. Sie gab ihm besonders freundlich die Hand und sagte mit wohllautender Stimme: "Nun, Rudi, wir werden uns gut verstehen, nicht wahr?"

      Rudolf war ohnehin immer darauf aus, sich mit den Menschen zu verstehen, und ihn wunderte, warum Tante Hannchen dies extra betonte. Er kam nicht weiter dazu, darüber nachzudenken, denn Tante Hedwig trat näher und goss Lob über ihn. "Welch artiger Junge, wie feine Diener er macht." Sie beugte sich zu ihm nieder und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Wenn du mal Kummer hast, komm zu deiner Tante Hedwig."

      Darauf blickte die Familie sie verweisend an. Zu seinem Glück sah es Rudolf nicht, denn Tante Hedwig gefiel ihm. Sie war aschblond wie die Mama, aber zierlicher als sie und hatte ein schmaleres Gesicht. Rudolf mochte solche Gesichter, wahrscheinlich, weil er selbst mit einem runden Bauernschädel und dementsprechenden Antlitz gesegnet war. Vor allem aber gefielen ihm die Augen Tante Hedwigs, sie waren grünbläulich. Nichts an ihr aber fand er so beeindruckend wie die Art, in der sie ihn begrüßt hatte.

      Die Mama und der Papa hatten nie geduldet, dass Rudolf berlinerte, trotzdem fiel ihm auf, welch sauberes Deutsch bei Kötschers gesprochen wurde. Die Rouladen rochen immer aufregender, sein Magen knurrte immer lästiger, aber die Erwachsenen unterhielten sich, als ob man auch ohne Mittagessen leben könnte. Am liebsten hätte er Tante Hedwig um eine Stulle vorab gebeten, doch die scherzte mit dem Papa. Wiederum sah er die stechenden Blicke der anderen nicht, und damit er nicht noch draufkomme, nahm sich Tante Gretchen seiner an und führte ihn durch die Wohnung. Die Länge des Korridors erinnerte an die Fünfzigmeterbahn auf dem Spielplatz. Man konnte vorn hinausgehen und gelangte auf die Kreuzbergstraße. Ging man durch die hintere Wohnungstür, landete man auf der Großbeerenstraße. An die sechs, sieben Kleiderschränke standen den Korridor entlang, dazwischen gab es geheimnisvolle Nischen mit Vorhängen, auf den Schränken türmten sich Reisekörbe, kleinere Tiegel, größere Zuber, und auf einem fristete ein Schaukelpferd sein lichtloses Dasein. Angesichts der großen Wohnung kam Rudolf das eigene Zuhause plötzlich klein vor. Man trat dort in einen viereckigen Korridor, von dem fünf Türen abgingen; und sozusagen mit einem Schritt war man jeweils in der guten Stube, im Schlafzimmer, in der Küche, in der Badestube oder auf dem Treppenflur. Aber wenigstens ist unsere Wohnung heller, tröstete er sich, denn die meisten Zimmer der Kötschers lagen nach hinten hinaus, und schaute man die drei Stockwerke hinab in den Hof, dann konnte einem gruseln.

      Tante Gretchen sah die begehrlichen Blicke des Jungen zum Schaukelpferd, sie nahm ihn rasch mit in ihr Zimmer und schlug vor, etwas zu spielen. Kein Erwachsener hatte ihm das jemals angeboten, vor Begeisterung vergaß er sein Magenknurren. Die Tante nahm die Schere und schnitt in einen Schuhkarton Fenster und einen Eingang, dessen Tür man ebenso auf- und zumachen konnte wie die Fensterläden. Das Haus hätten wir, meinte sie, nun brauchen wir