E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Sich vergewissernd, schaute der Junge dorthin und erschrak. Das Schloss lag neben der Klappe. Grujevater war also unten, konnte jeden Augenblick auftauchen. Nischt wie weg, schrillte es im Kopf Rudolfs, aber zu spät. Die Eisenklappe wurde aufgestoßen, Oskar Dettrich tauchte auf, dicht hinter ihm Edith.

      Oskar war arg verlegen. "Möönsch, wat - wat suchste denn hier?" stotterte der Vierzehnjährige.

      "Habt ihr unten Zwerge gesehen?" Rudolfs Erschrockensein war schon überspült von brennender Neugier.

      Oskar schaute leicht blöd, doch Edith, ausgestattet mit den sensitiveren Sinnen des Weibes, benutzte die goldene Brücke, die der Kleine ihr unbewusst gebaut hatte. "Natürlich haben wir die Zwerge gesehen, deshalb sind wir ja runter."

      Rudolf nutzte die Gunst des Augenblicks. "Darf ich sie auch mal sehn?"

      Edith gab dem Oskar einen heimlichen Knuff. "Wenn du keinem verrätst, dass wir unten gewesen sind."

      "Ich schwör's." Rudolf hob die Schwurhand und zeigte ein Gesicht voll heiligen Ernstes. Höchst gespannt kletterte er hinter den beiden in die Tiefe.

      Die Zwergenwelt zeigte sich wenig romantisch. Feuchter Zementboden, Betonwände, Röhren und Rohre und die ölige Dieselmotorpumpe, die den geheimnisvollen Lärm machte. Durch Glassteine fiel von oben grünliches Licht. Oskar schaute aufmerksam in die dunkle Nische hinter der Pumpe und schüttelte bedauernd den Kopf. "Keener mehr hier." - "Und vorhin waren da noch welche?" - "Zwei Stück haben drüben auf det dicke Rohr jesessen." Gnädig winkte Oskar den Zwergenfex näher. Der erblickte nur schmierigen Fußboden und fragte: "Wie groß waren sie denn?" Oskar deutete die Größe einer aufrecht stehenden Maus an.

      "Ich dachte, es sind die Großen, wie der mit der Schubkarre in Siefferts Vorgarten."

      "Ick sage dir, die flitzen durch jede Ritze." Oskar wies zur Eisenleiter. "Wir müssen machen - Grujevater versteht keen' Spaß."

      Gehorsam stieg -Rudolf nach oben und fragte, ob Oskar ihm Bescheid sagen würde, sollte er wieder mal die Zwerge besuchen.

      "Mal sehn." Oskar wusste, weshalb er einer klaren Absage auswich.

      Rudolf suchte nun den geheimnisvollen Ort so oft wie möglich auf. Immer vergeblich, aber eines einsamen Tages vernahm er ein Geräusch, dem er fein leise nachging. Es kam aus Birnhardts Sommerlaube in dem lauschigen Winkel an der hohen Feldsteinmauer, welche den dahinterliegenden Bauernhof begrenzte. Rudolf fand keine Wichtel, sondern Edith und Oskar, die sich küssten. Rückwärts aufgestützt, hielt Edith sich an der Tischkante, da Oskar ihr Kopf und Oberkörper nach hinten bog. Rudolf sah, dass der Mittelfuß des Tisches, eingegraben im Lehmboden der Sommerlaube, fest stand wie ein Fels. Es beruhigte ihn, der Tisch konnte nicht umkippen. Mittlerweile aber fürchtete er, das zarte Kreuz Ediths könnte durchbrechen, falls Oskar sie noch weiter nach hinten bog. Ohne sich zu räuspern, fragte Rudolf: "Sucht ihr die Zwerge?"

      Die beiden fuhren auseinander. Während Edith sich intensiv das Kleid glatt strich, als sei es mit Mehl bestäubt, fauchte Oskar: "Du dämlicher Affe spionierst uns nach." Er machte Miene, tätlich zu werden.

      Edith bewies wieder diplomatisches Fingerspitzengefühl. "Lass ihn, Oskar. Er dachte wohl wunder was, als er gesehn hat, wie du mir was ins Ohr gesagt hast."

      "Ins Ohr gesagt, haha." Rudolf triumphierte. "Werdet schon sehn, was ihr davon habt. Hertha hat gesagt, vom Knutschen gibt's Kinder."

      Ediths Gesicht rötete sich. Sie versuchte auf den Busch zu klopfen. "Und nu wirst du Hertha alles petzen, nicht wahr?"

      Rudolf fühlte sich wie vor die Tür gestellt. Keinen kümmerte es, wie ihm zumute war. Aber sowie sie etwas ausgefressen hatten, hieß es, nichts erzählen, nichts verraten. In aufsteigender Wut schrie er: "Bin ich 'ne Petze? Ich weiß mehr, als du denkst. Wenn ich sagen würde, dass Lotti dem Schornsteinfeger immer die Zunge raussteckt und Hertha mitgemacht hat beim Weitpinkeln, würde ihnen dein Papa ganz schön den Hintern versohln."

      In einer mütterlichen Aufwallung zog Edith den Schluchzenden an sich und streichelte ihm das Haar. "Nu heul nich. Bist doch ein tapferer Junge."

      Die plötzliche Zuwendung löste erst recht des Kleinen Tränen.

      "Wenn Hertha mich wieder bufft, musst du es ihr verbieten."

      Edith hockte sich hin und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. "Is schon gut, ich passe auf."

      Bei einem Quäntchen Liebe ließ sich Rudolf um den Finger wickeln. Ihm war fast so, als habe die Mama ihn an die Hand genommen, da Edith dies jetzt tat und mit ihm der elterlichen Wohnung zustrebte.

      Sie hielt Wort. Wann immer es galt, nahm sie Rudolf vor den Schwestern in Schutz. Doch rächten sich Hertha und Lotti, wenn Edith abwesend war. Dann hatte Rudolf nur noch Fiffi, dem er seinen Kummer erzählen konnte. Der weiße Spitz mit den Knopfaugen hörte mit verständnisvollem Ausdruck zu, wie Striebold es immer getan hatte, den der Papa fortgeben musste, gleich nach dem Tod der Mama. Fiffi war sehr anhänglich, denn Rudolf war der Einzige, der ihm manchen Happen zukommen ließ. Zwar gab es bei Jonders keine festen Essenszeiten, doch wer Hunger verspürte, schnitt sich eben eine Stulle ab.

      Frau Jonder schlief jeden Tag bis in den späten Vormittag. Dann erfolgte eine zeitaufwendige Kosmetik. Hierauf kleidete sich die balsamisch Aufgemunterte an, und gemächlich stieg sie mit ihrem perlenbestickten Pompadour nach unten. Vor allem, um frische Luft zu genießen, wie sie gern betonte. Manchmal betrat sie auch einen Laden und erstand eine Schachtel Zündhölzer oder einen Gasglühstrumpf. Für derartige Artikelchen genügte allemal ein Pompadour. Letzten Geldes entblößt, kam sie nach Hause und räsonierte über das sündhaft teure Leben.

      Einmal schenkte ihr die Nachbarin ein Glas grüne Bohnen, der Deckel habe sich gelöst, das Eingeweckte müsse rasch verbraucht werden.

      Hocherfreut über das kostenlose Glück, machte sich Frau Jonder an das aufreibende Geschäft·der Zubereitung. Zuerst entdeckte sie, es fehle Salz. Bei den Nachbarn konnte sie nicht borgen gehen, die hatte sie reihum schon mehrmals angepumpt. Also schrieb sie auf ein Stück Papier: "1 Pfund Salz", wickelte drei Kupferpfennige in den Zettel und schickte Rudolf damit zum Kaufmann. Der Einholer kam bald zurück und bestellte einen schönen Gruß von Herrn Gonnemann, ein Pfund Salz koste vier Pfennig, aber weil Rudolf ein armer junge mit 'ner toten Mutter sei, habe er ihm das Pfund trotzdem gegeben.

      Die drei Mädchen kamen aus der Schule, schnupperten verwundert den Essengeruch und kosteten dann mit langen Zähnen. Eine nach der andern erklärte, sie sei nicht hungrig, und wie vom Wunderwind fortgehoben, verschwanden sie. Rudolf wollte sich ebenfalls davonstehlen. Mit dem Rest ihrer Autorität verhinderte Eugenie Jonder das Fluchtvorhaben. "Du bleibst und isst deine Bohnen!" Rudolf tunkte die Löffelspitze ins Essen, führte sie zum Mund und kaute an dem Bissen, als esse er Radiergummi. Der beleidigten Köchin zersprang die Geduld. Sie holte den Staubwedel, der zu seinem eigentlichen Zweck nie benutzt worden war, dessen Stiel sich aber als Rohrstock gebrauchen ließ. Hart schlug sie damit auf den Tisch. "Wenn du jetzt nicht isst, bekommst du Dresche!"

      Der Beschimpfte klemmte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und begann das längst kalt gewordene in sich hineinzuschaufeln. Doch plötzlich machte sein Magen einen Hupfer und brachte alles auf den Teller zurück.

      Frau und Junge starrten unbeweglich, als wollten sie es nicht glauben. Rudolf regte sich als Erster. Er nahm den Teller vom Tisch und stellte ihn auf den Fußboden. Mit einem Freudenlaut stürzte sich Fiffi darüber her, und in Windeseile war der Teller leer.

      Aller Berechnung nach musste nun das Staubwedelrohr in Bewegung geraten. Doch die glücklose Köchin verschwand im Nebenzimmer, und der reuelose Sünder hörte sie grollen: "Das teure Essen! - Ich werde es seinem Vater erzählen."

      Tu das nur, hoffte Rudolf, da wird der Papa endlich mal merken, was hier los ist. Schon mehrmals hatte er versucht, den Vater auf seine Kümmernisse aufmerksam zu machen, indem er fragte, wie lange seine Zeit als Ziehsohn bei den Jonders noch dauern würde. Dem Kleinen fehlt die Mutter, sagte sich der Vater, präziser wäre gewesen, die Mutterliebe. Von den Misshelligkeiten seines Sohnes ahnte Emil Treulich nichts, Jonders waren freundlicher denn je zu ihm, er zahlte ein generöses