E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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so aus und die Mädchen anders. Aber das war ganz natürlich, hatte der Papa gesagt. Denn wenn die Mädchen nicht anders aussähen, wie sollte man sie von den Knaben unterscheiden.

      Rudolf sah den Papa von der Arbeit kommen und rannte ihm entgegen. Emil Treulich nahm ihn hoch und schwenkte ihn herum. Dann stellte er ihn hin und betrachtete seinen Knaben genauer. "Hast du dich mit Mauersteinstaub eingerieben?"

      Der Sohn berichtete von der Niederlage. Dabei befühlte er die Nase, sie war dick und schmerzte. Nun kamen ihm doch ein paar Tränen. Der Vater nahm ihn rasch hoch, setzte ihn sich auf die Schulter und tröstete: "Warst im Recht. Dabei kriegt man schon mal eins auf die Neese, wird dir noch öfter im Leben passieren."

      VIERTES KAPITEL

      Kinder haben keinen Begriff von der Zeit,

      sie leben in den Tag hinein,

      als währe das Leben ewig.

      Obwohl der Schwächere, hatte Rudolf gegen offenbares Unrecht aufgemuckt, und die Niederlage machte ihn nicht zum Duckmäuser. Dass zum Feigesein manchmal viel Mut gehört, sollte Rudolf bald nach dem Zusammenstoß mit Kapitän Max erfahren. Es geschah dies einen Tag nach dem Erntefest. Erntefest, gefeiert von Arbeitern, die in der Industrie beschäftigt sind? Aber Paradies war umgeben von Feldern, und viele Genossenschafter bebauten Pachtland. Einige meinten auch, man muss den Bauern mal zeigen, was ein richtiges Erntefest ist. Andere fragten, was wohl symbolträchtiger für Friede, Freude, Frohsinn sei als ein Erntefest. Das des Jahres 1913 war heller Sonnenschein vor heranrückendem Gewitter. Emil Treulich verhehlte seine Befürchtung nicht, die Zeit des nächsten Erntefestes könnte schon Kriegszeit sein.

      Das Fest begann am frühen Nachmittag des Sonntags mit einem Umzug durch die Paradiessiedlung und das Dorf, dann die Buntzelstraße hinunter bis zur Ecke Dahmestraße, wo rechter Hand der Schulneubau aus dem Boden zu wachsen begann. Einige hundert Meter weiter schwenkte der fröhliche Zug rechts ein zum Spielplatz, einer Wiese mit kärglichem Graswuchs im Besitz der Genossenschaft. Dort hatte man ein Podium aufgebaut, und ringsherum standen selbst gezimmerte Tische mit stabilen Holzbänken. Ein Karussell fehlte ebenso wenig wie eine Reihe Buden. In der einen gab es kochendes Wasser zum Kaffeebrühen, und die Paradieser ließen es sich wohl sein beim Kaffeeduft mit Dampfermusik."

      Die Blaskapelle hatte den Festzug angeführt, dahinter kam eine Gruppe Genossenschafter, als Gärtner und Bauern gekleidet, die an Rechen und Heugabeln befestigte Schilder trugen: "Die Arbeitsleut' von Stadt und Land, sie reichen sich die Bruderhand." Auf einem anderen Schild stand: "Friede ernährt - Unfriede verzehrt!" Die Angst vor dem Krieg drückte sich am deutlichsten aus in dem Zweizeiler: "Friede soll uns das bewahren, was wir in die Scheuer fahren!" Klein Rudolf fragte nach dem Geschriebenen, und die Leute lasen es ihm vor. Dann schwieg er nachdenklich, als ob er verstanden habe, doch im nächsten Augenblick gab es Neues zu bestaunen. Da kam ein Erntewagen voller Kinder, die Mädchen trugen Blumenkränze im Haar, die Jungen kleine Garben unter dem Arm. Auf diesen girlandengeschmückten Leiterwagen mit den schweren Apfelschimmeln des Bauern Kumernus davor, war auch Rudolf hinaufgehoben worden, doch bald hatte er sich davongemacht, um den ganzen Umzug zu bestaunen.

      Vorn, noch vor der Blasmusik, ritten auf zwei braven Braunen Herr und Frau Amtmann. Er im Gehrock, über der silbrigen Weste die goldene Amtmannskette, daneben im Damensitz Frau Amtmann, in Mieder und Dirndlkleid, einen Ährenkranz auf der blonden Haarkrone. Rudolf konnte sich nicht sattsehen an den prächtigen Reitersleuten, denn es waren der Papa und die Mama. Mit Gebärden und Zurufen suchte er auf sich aufmerksam zu machen, doch sie schienen ihn nicht zu bemerken. Wohl deshalb nicht, dachte er, weil sie mächtig aufpassen mussten, nicht vom Pferd zu fallen.

      Ganz anders dagegen benahm sich der berittene Gendarm. Im sonstigen Leben hieß er Fritz Kodazik, ältester Sohn der vielköpfigen Familie und mit seinen starken Beinen wie geschaffen für dieses strapaziöse Amt. Durch Uniformjacke, Pickelhaube und martialischen Bart aus Stiefelwichse fast unkenntlich, steckte die untere Hälfte seines Körpers in einem Pferdeleib aus Gummi, der ausgestopfte Pferdekopf sah ungeheuer echt aus. Der Schutzmann trabte ständig umher, manchmal scheute sein Pferd und ging vorn hoch, manchmal fiel es in Galopp, und die Kinder schrien jedes Mal in herrlichem Grusel, wenn er auf sie zugeprescht kam.

      Für Rudolf waren die Eltern auf hohem Ross zwar imposant, doch Fritze Kodazik und sein schnelles Gummipferd fand er aufregender. Dessen ungeachtet gedachte er den Papa zu bitten, ihn auf dem Spielplatz aufs Pferd zu heben. Reiten musste etwas Tolles sein, wie herrlich konnte man danach vor den Spielkameraden prahlen.

      Als er die Eltern dann endlich im Festgewühl fand, waren die beiden Rösser von ihrem Besitzer bereits in den Stall gebracht worden. Rudolf war untröstlich, und der Vater stiftete Kleingeld zum Karussellfahren. Die Jungenhand voller Groschen und Sechser, kletterte Rudolf aufs stolzeste Pferd des Ringelspiels und rief den sehnsüchtig schauenden Kindern zu: "Steigt alle ein - ich bezahle!"

      Mitleidig schaute der Besitzer auf die Knabenhand voller Geld. "Das reicht eijentlich nich, aber jib schon her." Rudolf entleerte die Faust, er hatte geglaubt, dafür würden sie allesamt stundenlang fahren können. Als er am Ende der Rundfahrt vom Holzpferd kletterte, sagte der Karussellmensch gönnerisch: "Kannst noch mal umsonst."

      "Umsonst?" Der Enttäuschte tippte sich an die Stirn. "Angeschmiert haben Sie mich, können sich Ihr Karussell an den Hut stecken!"

      "Du Kröte zeichst mir 'nen Vogel?" Der Ringelspielmonarch zog sich die schwarze Glocke bis an die Ohren, als stülpe er einen Helm auf, da ergriff Rudolf das Hasenpanier.

      Der Geschröpfte vergaß seine Trauer, als ein Tusch ertönte und Emil Treulich das Podium betrat, eine rote Mappe unter dem Arm. Nachdem Ruhe eingetreten war, sagte er, dass er ein Gedicht von Ernst Preczang sprechen werde, welches ihm wie für diese Gelegenheit geschaffen dünke. Bald lauschten die Menschen immer beteiligter. Zum Schluss hob er die Stimme, sprach mit weit ausholender Geste die letzten Zeilen:

      "Was uns zwei Jahrtausend' sangen,

      was uns jeder Pfaffe pries,

      reißen wir herab vom Himmel,

      hier sei unser Paradies!"

      Zwischen den Beinen der Erwachsenen war Rudolf bis zum Podium vorgedrungen. Es war atemberaubend. Einer sprach, Hunderte hörten still zu. Keiner hatte solch einen Papa. Während des langsam abebbenden Beifalls klappte Emil Treulich die Mappe zu, die er - das Gedicht kannte er auswendig - mehr des Effekts halber benutzte.

      Die Kapelle intonierte die Arbeiter-Marseillaise, stehend sangen alle das Lied.

      Die Jüngsten sollten sich nun um Vater Kodazik scharen, der dann mit den munteren Kindlein im Vorschulalter das Podium bestieg. Kodazik glich in Aussehen und Gebaren dem Turnvater Jahn, und diesen Eindruck pflegte er bewusst. Die siebenköpfige Familie Kodazik bewohnte ein Reihenhäuschen in der Nähe des Dreiecks - die Verbreiterung einer Sackgasse - und ab nachmittags konnte ein Uneingeweihter glauben, dort gebe es eine Spielschule. Wie seinen eigenen Kindern gab er allen, die es wünschten, kostenlosen Unterricht im Mandolinen- und Gitarrenspiel, hatte eine Kinder- und Jugendwandergruppe ins Leben gerufen, lehrte sie deutsche Volks-, Wander- und Turnerlieder, und des Sonntagmorgens ging er mit seiner Schar auf Landpartie.

      Die Kapelle auf dem Podium rückte ihre Notenständer zusammen, und nun, begleitet von Kodaziks Zupfinstrumentengruppe, tanzten und sangen die Drei-, Vier- und Fünfjährigen einen Volkstanz.

      "Und wenn du denkst, ick lieb dich nich

      un treib mit di bloß Scherz,

      denn zünd di een Laternchen an

      und leuchte mi ins Herz.

      Kiekebusch, ick segge di,

      dat du mich liebst, det freuet mi ... "

      Auch Rudolf gehörte zum Tanzgrüpplein des Alten mit dem grauen Backenbart, und er hatte das Tänzchen mit Ilse Tiegler eingeübt. Doch war die Gespielin heulend nach Hause gebracht worden, weil sie sich eine Tasse Kakao über das weiße Kleid geschüttet hatte. Da keine Ersatzdeern vorhanden, musste Rudolf mit Hermann