E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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mehrmals ins Trudeln kam, was sehr nach Absturz aussah. Im letzten Augenblick hatte sich das Flugzeug gefangen und war kurz vor dem Wald auf einem Stoppelacker gelandet. Als die ersten Schnellläufer bei der Landestelle ankamen, saß der Flieger noch immer im Cockpit und starrte vor sich hin. Auf die besorgten Fragen antwortete er nicht, der Schock schien ihm Verstand und Glieder zu lähmen. Dann gab er sich einen Ruck und kletterte aus dem Pilotensitz. Ein teurer Fuchskragen zierte seine Lederjacke, er zerrte die Pilotenkappe vom Kopf, setzte eine weiche Offiziersmütze auf und klemmte sich ein Monokel vor das rechte Auge. Unwillkürlich trat der Kreis der Gaffer einen Schritt zurück. Der Herr Offizier fragte: "Wo ist das nächste Telefon?" Kinder und Jugendliche schwiegen, doch ein älterer Mann trat ehrerbietig näher und erklärte den günstigsten Weg. Ohne sich zu bedanken, stelzte der Herr davon. Ete Birnhardt fragte in seinem Rücken: "Dürfen wir 'ne Pulle unters troppende Benzin halten?" Der mit dem Fuchskragen drehte sich brüsk um und schnauzte: "Nein!" Volksgemurmel antwortete, und es ließ sich beim besten Willen nicht als freundlich bezeichnen.

      Der Notlander war noch gar nicht im Ort verschwunden, da begann sich schon Etes Flasche zu füllen. Ein Knäuel Jungen mit leeren Flaschen drängte sich um ihn, jeder beteuerte, Erster am Flugzeug gewesen zu sein. Rudolf war heftig zurückgeschubst worden und stand sehr am Rande des Geschehens. Ete knipste seine gefüllte Brauseflasche zu und wies auf Rudolf: "Nu kommt erst der Kleene dran, den habt ihr fast dotjetreten!"

      "Höh, höh, wer bestimmt denn det?"

      "Ick natürlich."

      "Hat's dir der Monokelfatzke erlaubt?"

      "Erlaubnis hab ick mir selbst erteilt. Und nu erteil ick sie mir noch für'n kleenen Rudi, ihr kriegt ja alle noch, Jungs."

      Ete klopfte bestätigend an den Rumpf. "Der hat 'ne Menge Pengzin, der wollte mindestens bis Buxtehude."

      Niemand wusste genau, wo Buxtehude liegt, es war bei den Bahnsdorfern ein Begriff für sehr weit. Pengzin sagten sie, wenn es spöttisch klingen sollte, jemand hatte irgendwann behauptet, das Wort Benzin sei französischen Ursprungs.

      Gemeinsam trabten Ete und Rudolf nach Hause, am Durchgang zur Nummer elf verabschiedete sich der Kleine vom Großen und versicherte dankbar, er werde dem Papa von Etes Hilfe erzählen.

      Ete schwenkte abwehrend den Zeigefinger. "Erstens is dein Papa nich hier; zweetens isser im Krieg; und drittens is et besser, du sagst ihm nischt. Wie ick deinen Papa kenne, gloobt der noch, wir haben det Benzin jeklaut."

      FÜNFTES KAPITEL

      Selbst eine elende Kindheit hat noch Glanz,

      der bis ins hohe Alter leuchtet.

      Bevor die Flugzeugnotlandungen und -abstürze des ersten Kriegsjahres zu bleibenden Erlebnissen der Bahnsdorfer Kinder wurden, hatte Rudolf eine harte Prüfung zu bestehen. Der Tod der Mama kam schrecklich überraschend. Noch im Oktober hatte sie dem Söhnlein vier Lichter um den Geburtstagskuchen angezündet, im November lag sie bleich in dem schwarzen Sarg. An des Vaters Hand ging der Kleine zur schmucklosen Leichenhalle des Bahnsdorfer Friedhofs. Er stand eine Weile schweigend neben dem Papa, bis sein Unverständnis ihn bitten ließ: "Schlaf nicht mehr, Mama, wach doch auf." Als er Anstalten machte, die Tote zu küssen, hob ihn der Papa rasch hoch und verließ mit ihm die Stätte der Trostlosigkeit. Emil Treulich drückte seinen Jungen an die Brust, und der spürte, dass der Vater weinte, ohne Tränen weinte.

      Keines Vierjährigen Fantasie reicht aus, sich vorzustellen, wie es sein wird, wenn der geliebte Mensch morgen nicht mehr da ist, übermorgen nicht und überhaupt nicht mehr. Der Augenblick des Abschieds vom Sarg verursachte dem Kleinen mehr beklemmende Verwunderung als Schmerz. Da die Erwachsenen ausweichend antworteten, fragte er immer seltener, und vorerst wuchs langsam Gras des Vergessens über all das Unverständliche. Wer auch hätte es vermocht, dem Knirps das Elend des mörderischen Abtreibungsparagrafen zu erklären.

      Wie nicht wenig fortschrittliche Leute waren sich Martha und Emil Treulich eins in der Auffassung, ein Kind ist genug! Gerade jene, die vom Kindersegen als patriotische Pflicht redeten, hielten sich selbst gern zurück nach der Devise: Das niedere Volk ist gut dafür, die Gebärmaschinen zu stellen. Gegen diese "Arbeitsteilung" wehrten sich nicht nur die Sozialdemokraten, die hellhörig die außenpolitischen Prahlereien des Gottesgnadenkaisers vernahmen. Selbst nach Meinung des konservativ-strammen Kanzlers Bülow zertepperte die redselige Majestät nicht selten diplomatisches Porzellan und beschwor Kriegsgefahren herauf. Nicht zuletzt auch deshalb, meinten die Treulichs, im Sinne August Bebels, diesem Kaiser keinen Soldaten. Doch Verhütungsmittel gab es offiziell nicht zu kaufen, sie waren auch noch recht unzulänglich, und so kam es, dass es selbst aufgeklärten Eheleuten manchmal "passierte", dann blieb nur der Weg zur "Weisen Frau" oder zu einem Kurpfuscher. Auf die Art war die Mutter ums Leben gekommen, erfuhr Rudolf später und dass mit ihr viele Mütter im besten Alter diesen schlechten Tod starben.

      Der Witwer Emil Treulich gab den Sohn bei guten Bekannten - den Jonders - in Verwahrung. Gute Bekannte - ein Begriff, der genauerer Prüfung oft nicht standhält. Gustav Jonder war manchmal der vierte Mann beim Skat. Die fünfköpfige Familie wohnte in dem Haus Paradies- Ecke Quaritzer Straße, und man kannte sich schon aus den Zeiten der Sommerwochenenden in der Elsterstraße, wo die Jonders ebenfalls ein Grundstück besaßen. Der Herrenschneider Jonder war angeblich Meister in einem Maßatelier Unter den Linden. Mit den pomadeglänzenden schwarzen Haaren, dem flotten Oberlippenbärtchen und der flinken Zunge wirkte er weltgewandt und jünger, als er war. Um seinen gehobenen Beruf zu unterstreichen, beendete er gern einen Satz mit "oui, Monsieur". Frau Jonder, zwei Jahre älter als ihr Mann, gefiel sich in der Rolle der unverstandenen Frau. Kam Emil Treulich in Sicht, blühte sie auf. Er hatte Spaß an der Verwandlung, spielte den Kavalier, machte galante Komplimente, und sie hauchte "merci", als bemerke sie nicht die Ironie des Mannes. Sie war es, die sich als Ziehmutter für Rudolf anbot, und der ratlose Vater war für das Anerbieten dankbar.

      Dem Sohn verging bald die Dankbarkeit. Nie vorher hatte er tagsüber so sehnsüchtig auf des Vaters Heimkommen gewartet. Herausgenommen aus seinem sauberen Nest, befand er sich plötzlich in einer schmuddligen Welt. Jonders drei Mädchen liebten keinen außer sich selbst, manchmal noch den weißen Spitz Fiffi, wenn sie Lust hatten, ihn zu knuddeln.

      Mit der Wahrheit hatten die Mädchen ständig Schwierigkeiten. Den Eltern ging es nicht anders. Forderte Frau Jonder Geld vom Gatten, entschuldigte sie sich mit Ausgaben, die erfunden waren. Herr Jonder kam abends manchmal später von der Arbeit und sprach dann von Überstunden. Selbst Rudolf spürte, dass auch das erfunden war.

      Sehr früh und aus nächster Nähe lernte Rudolf so auch die Faulheit und ihre Schwester, die Drückebergerei, kennen. Lotti hatte des neuen Hausgenossen Gutmütigkeit erkannt und versuchte den drei Jahre Jüngeren zu ihrem Leibdiener zu machen. "Such mal meinen Murmelbeutel, bring mal meine Schulmappe, putz mir mal die Schuhe!" Hertha, neun Jahre alt, wollte nicht zurückstehen und bestand ebenfalls auf ständige Dienstleistungen. Weigerte sich der ewig Geplagte, dann ahndete sie es mit einer Ohrfeige. Lotti, wohl aus Angst vor dem stämmigen Kleinen, wagte dies nicht. Edith, die Vierzehnjährige, behandelte den Hosenmatz zuerst wie Luft, und schon dafür war der ihr dankbar. Später stellte sie sich sogar gegen die jüngeren Schwestern, wohl aus schlechtem Gewissen, weil Rudolf sie überrascht hatte an einem Ort, der hinter den drei zuerst gebauten Paradies-Häusern lag. Dort befand sich inmitten der Gärten das unterirdische Gewölbe mit der Wasserpumpstation für Paradies, oben abgedeckt von einem größeren Betongeviert mit einer eisernen Einstiegsklappe. Der Platz war auf Beschluss der Genossenschafter für Kinder tabu. Darum galt es als Heldentat, sich dort hinzuschleichen. Dieses nun tat an jenem Tag Rudolf, weniger von ihm als Mutprobe gedacht als aus Sehnsucht nach einem stillen Ort. Hier war es geheimnisvoll, denn unter dem Beton vernahm man leises Rumoren. Sicherlich stimmte es, was die Kinder sagten, dass dort unten ein Bergwerk der Zwerge sei, wo sie nach Gold pickten. Rudolf ließ seiner Fantasie die Zügel schießen, und das Träumen hatte nur den einen Haken, er durfte sich dabei nicht von Grujevater Schonfelder erwischen lassen. Ältere Männer mit Bart wurden von den Kindern Grujevater genannt. Der alte Schonfelder, freundlich meist und friedfertig, transportierte auf einem Spezialkarren die Müllkästen von Paradies zur Müllablage.