E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Mutter und drei Töchtern vorhanden, es fehlte noch der Vater mit zwei Söhnen. Im Modeheft gab es nur Damen, also malte Tante Gretchen drei von ihnen um. Die eine bekam einen Vollbart, das war der Vater, die beiden andern wurden mit Stutzbärtchen versehen und konnten als Söhne gelten, nachdem durch gemalte Hosen und Strohhüte ihre Männlichkeit vervollständigt worden war. Sie spielten nun eine Art Familienstück, wobei Rudolf die Männerrollen zufielen. Die Tante sprach vor, wie man mit tiefer Stimme den Vater darzustellen habe. Die Töchter spielte sie mit hoher Stimme, die eine konnte ein Gedicht aufsagen, die andere ein lustiges Schnaderhüpferl singen. Vor Lachen musste Rudolf immer wieder das Spiel unterbrechen. Gern hätte er auch Jondersche Familieninterna vorgespielt, hätte nicht eine Tischglocke geläutet. Die Erwachsenen standen noch herum und plauderten, als sähen sie nicht, was an Appetitlichem von der Oma und Tante Hannchen hereingebracht wurde. Rudolf ahnte, dass ein solches Feiertagsmahl kein Zufall sein konnte, und er wusste noch nicht, dass Zeremonien sich weder um den Magen, die Seele noch andere Innerlichkeiten des Menschen kümmern und nur den Zweck haben, durchgeführt zu werden.

      Endlich sagte die Oma: "So, meine Lieben ...!" Freundlich wies sie jedem den für ihn vorgesehenen Stuhl an.

      Am oberen Ende der Tafel saß Emil Treulich mit seinem Söhnlein und daneben Tante Hannchen. Der Herr des Hauses residierte an der Stirnseite. Als alle sich hingesetzt hatten, klopfte er an sein Weinglas und wünschte laut "Guten Appetit!". Es wurde still, man war mit dem Auftun beschäftigt, Rudolf wurde gleich von zwei Seiten bedient. Der Papa tat ihm Kartoffeln auf den Teller, Tante Hannchen Rotkohl und Fleisch. Eben wollte Rudolf sich den ersten Happen einverleiben, als die Wohnungsklingel schrillte.

      "Das ist Karl - wird seinen Schlüssel vergessen haben!" Die Oma eilte, um zu öffnen.

      Der älteste Sohn trat ins Zimmer und wünschte allseits guten Appetit. Wohlgelaunt gab er Rudolf die Hand. "Da ist ja unser Steppke! Schmeckt es denn, mein Junge?"

      "Weiß nicht", verkündete der Gefragte, "ich konnte doch noch nichts essen, weil du so spät gekommen bist." Allseits verlegenes Räuspern, am unbefangensten reagierte der Getadelte. "Tut mir leid, mein Kleiner, Sonntagsarbeit hat es in sich. Als ich schon gehen wollte, kam noch der Chef und hat mich mit seinem Gesums aufgehalten. Aber ein Meister hat zuzuhören und kann nicht sagen, das lässt sich auch morgen besprechen."

      Das war an alle gerichtet, doch die Tischgesellschaft tat, als sei sie vollauf mit dem Essen beschäftigt. Rudolf würgte rasch seinen ersten Bissen hinunter und fragte: "Warum muss ein Meister zuhören, wenn ein Chef Gesums redet?"

      Alles lachte, der Papa am lautesten. Onkel Karl legte Gabel und Messer hin und geriet ein wenig ins Dozieren. "Das, mein Jungchen, wirst du begreifen, wenn du zwanzig Jahre älter bist. Meisterstellen werden nämlich nicht angeboten wie Lakritzenstangen, weißt du?"

      "Fragt sich nur, ob man unbedingt Meister sein muss."

      Emil Treulich tat, als habe er nur laut gedacht, und säbelte genüsslich an seiner Roulade.

      Karl Kötscher wischte sich langsam mit der Serviette über den Mund. "Du, lieber Emil, verdienst in deiner Spitzensparte ja genug, hast es nicht nötig, dich als Meister herumzuärgern."

      "Ganz recht, Karl, an meiner Arbeit will ich Freude haben. Ich als fanatischer Gewerkschafter, wie du immer sagst, vergesse nicht den Spruch: Meister sind die Hofhunde des Kapitals."

      Karl Kötscher warf seine Serviette auf den Tisch. "Phrasen, Emil. Mir genügt es, sozialdemokratisch zu wählen, und wenn man es geschickt anstellt, kann ein Meister manchmal mehr für die Kollegen herausholen als ein Radikalinski von der Gewerkschaft."

      "Ich wollte nur daran erinnern, dass du als Feinmechaniker keinesfalls Hunger leiden musstest, Karl. Schon gar nicht jetzt, wo allenthalben frisch-fröhlich auf Kriegsproduktion hingearbeitet wird."

      "Kriegsproduktion - Das ist doch der Propagandatrick von dem Hitzkopf Liebknecht. Ihr werdet mit euren Unkereien noch so lange machen, bis ihr den Krieg herbeigeredet habt." Karl Kötscher war beim letzten Satz laut geworden, sicherlich auch, um die eigenen Befürchtungen zu überschreien, die Emil Treulich ausgesprochen hatte.

      Die Familie hatte dem Disput schweigend zugehört, denn das Familienoberhaupt, der kaisertreue Bahnbeamte Kötscher, hatte durch Blicke kundgetan, dass er keine allgemeine Diskussion wünsche. Er war fast immer anderer Meinung als Emil Treulich, doch sagte er nie etwas gegen ihn, denn seine Älteste, die Hanni, eine Hilfsarbeiterin im Packraum der Firma Gursch, könnte die eine bessere Partie machen? Solch einen Schwiegersohn in spe trieb man durch ständiges Widersprechen nicht aus dem Haus.

      Rudolf war die Serviette aus dem Ausschnitt der Matrosenbluse gefallen. Er angelte sich das Tuch und breitete es sorgsam auf seinen Knien aus.

      "Die Serviette gehört vor die Brust", bestimmte der Opa.

      "Da rutscht sie immer weg", belehrte ihn der Kleine, "aber auf'm Schoß, da kann runterpurzeln, was will, nischt geht auf'n Teppich." Dem Lachen der Tafelrunde gebot der Hausherr mit einem angedeuteten Schlag auf die Tischplatte Einhalt. "Wenn ich sage vor die Brust, Bengel, dann gehört sie vor die Brust!"

      Rudolf riss erschrocken die Augen auf, blickte Hilfe suchend zum Vater. Der reagierte lächelnd mit einem Augenzwinkern und schaute den Opa an. "Lassen wir es heute noch mal so, wie es ist, weil die Serviette nicht halten will und weil der Teppich geschont werden soll. Einverstanden?"

      "Meinetwegen", brummte der so freundlich Entthronte.

      Wunderbar, wenn das David-Goliath-Problem auch mal von einem Stärkeren gelöst wird. So ungefähr dachte Rudolf und aß voller Behagen weiter, obwohl die Erwachsenen bereits beim Nachtisch waren. Der Heißhunger war gestillt, er aß nun, weil es noch immer schmeckte und weil er sich sagte, wer weiß, wann du wieder einmal so etwas Feines aufgetischt bekommst.

      Die Oma und Tante Hannchen begannen bereits abzuräumen, und Rudolf hatte plötzlich das Gefühl, er sei in ein enges Korsett gezwängt. Aber dort stand noch das Schälchen mit den süß-gelben Kürbisstückchen. Die hatte er das letzte Mal bei seiner Mama bekommen, sie schmeckten teuflisch gut. Hastig löffelte er das Kompott. Die Erwachsenen blieben noch im Zimmer, der Papa und Onkel Karl "dischkerierten" wieder, und Onkel Otto protestierte, "nun lasst endlich die Politik. Was sagt ihr zur letzten Zwei-zu-eins-Niederlage von Schalke 04?"

      "Liebes Ottchen", tadelte Karl den jüngeren Bruder, "du bist doch kein Halbwüchsiger mehr. Worüber wir sprechen, sollte langsam auch dich interessieren."

      "Als Bankangestellter braucht man Bewegung. Fußball ist nun mal mein Lieblingssport."

      Emil Treulich sprang seinem Diskussionspartner bei. "Bis vor wenigen Jahren hat mir das Strampeln auf dem Veloziped die notwendige Bewegung verschafft. Dass man sich aber auch in Form halten kann, wenn man Fußballresultate durchhechelt, ist mir neu."

      Otto wollte eben zu empörtem Widerspruch ansetzen, als Rudolf die Lage entspannte. "Papa - ich bin - so - so schwitzig" stammelte er. Taumelig ging er auf den Vater zu. Der bückte sich und packte ihn bei den Armen. Tatsächlich, der Spross hatte Schweißperlen auf der Stirn. "Was ist denn, Junge?" fragte er besorgt. Der Junge stotterte: "Mir is - so - so komisch." Er fiel dem Vater um den Hals und heulte verhalten.

      "Um Gottes willen, der Junge hat doch nichts Falsches gegessen!" Oma kam aus der Küche gestürzt und trocknete sich hastig die Hände an der Schürze ab. Ihre sanfte Stimme wurde energisch. "Gretchen, du deckst Ottos Bett ab! Hedwig, hole Hingfong aus dem Medizinschrank! Du Hanni, ziehst den Jungen aus!"

      Binnen Kurzem lag Rudolf in weißem Linnen. Noch nie hatten sich so viel Leute um ihn gesorgt. Tante Hedwig streichelte ihm die Wangen, Tante Hannchen rieb die kalten Hände und Füße, und Tante Gretchen kam mit dem Schuhkartonhaus. Sowie er wieder auf dem Damm sei, könne er es nach Bahnsdorf mitnehmen. Der Hingfong hatte erst in Hals und Magen gebrannt, dann aber eine wohltuende Wärme erzeugt.

      Die Männer zogen sich zurück, nur die Tanten umflatterten noch die Lagerstatt des armen Kranken, der sehnsuchtsvoll dachte, wenn sich Tante Hedwig eine Weile neben mich legte, wäre es fast so, als wäre ich wieder bei der Mama. Leider war Tante Hedwig keine Gedankenleserin, dafür kam Tante Gretchen mit einer Mandoline