E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Papa hatte Rudolf nie zwei Gesichter bemerkt, an der Mama ebenfalls nicht. Zwar war sie streng gewesen, wenn er was ausgefressen hatte, aber in ihren Augen war immer zu lesen, es tue ihr leid, strafen zu müssen. Wenn sie lieb war, erinnerte es an den Himmel. Keiner strich ihm so über das Haar, über den Nacken, rubbelte so sanft die Nasenspitze an der seinen wie die Mama. Und wenn sie ihn auf den Schoß nahm und an sich zog, dann hatte ihm die Wärme und Weichheit der Mutterbrust immer ein Gefühl der Geborgenheit geschenkt, dass ihm vor Glück das Weinen ankam.

      Rudolf dachte jetzt oft an die Mutter. Bestimmte Erlebnisse standen deutlich in seiner Erinnerung. Da war die Begebenheit mit dem Flurfenster. Willi, der zehnjährige Bruder von Ilse Tiegler im Parterre, besaß eine märchenhafte Eisenbahn, mit Kisten voller Schienen, für Tieglers ganzen Garten reichend, der sich zwischen Siebweg und Hauswand an die dreißig Meter lang hinzog. Eines warmen Sonnentags bat Rudolf den großen Freund, die Eisenbahn aufzubauen.

      Willi zeigte wenig Lust dazu. "Diese Woche nich mehr, sonst schimpt mein Vadder."

      "Der kann gar nich schimpfen, is doch taubstumm."

      "Du hast 'ne Ahnung. Wenn mein Vadder schimpt, is et schlimmer, als wenn dein Vadder und noch zwee dazu schimpen."

      "Bist ganz schön feige."

      "Selber feije."

      "Ich? Überhaupt nich!" Sie standen auf dem Treppenpodest über Tieglers Wohnung. Willi zog Rudolf hinter sich her zum nächsten Podest. Er sperrte das schmale Seitenfenster auf. "Wenn de so tapfer bist, denn mach runter."

      Rudolf schaute ungläubig. "Ich soll aus 'm Fenster springen?"

      "Quatsch - runterpinkeln."

      Rudolf knöpfte das Hosentürle auf, hielt sich am Schließknebel des schmalen Fensterrahmens fest und presste, was die Knabenblase nur hergeben wollte.

      Willi war inzwischen hinuntergeeilt und genoss vom Hof aus das Schauspiel.

      Anna Sahr, zwei Jahre älter als Willi, kam mit einem leeren Sack unter dem Arm und einer Sichel, um Kaninchenfutter zu holen.

      "Vorsicht", sagte Willi, "da oben looft wat aus."

      Anna schaute verständnislos. "Bist ja bescheuert", sagte sie zu Willi und ging erhobenen Hauptes weiter.

      Willi raste nach oben und schimpfte im Flüsterton.

      "Hättste noch 'n bissken jedrückt, hätte Sahrs Anna wat abjekriegt."

      Rudolf entrüstete sich. "Leuten auf den Kopf pinkeln war nich ausjemacht."

      "Wat denn sonst, du Dussel. Bloß einfach so, da hat doch keener wat von."

      "Wir hol'n jetzt die Eisenbahn in den Garten, ja?"

      "Leck mir de Boll'n." Willi gab dem Kleinen einen Stoß vor die Brust und verschwand nach unten. Nicht alle Tage bot sich ihm die Möglichkeit, der Mutter zu berichten, wie schweinisch sich Treulichs Rudi benommen habe.

      Ohne sich die Schürze abzubinden, stapfte Frau Tiegler nach oben. Mit einem gehör- und sprachlosen Mann sowie zwei Kindern gesegnet, war die kleine, schmächtige Frau Neunundneunzigmal zum Keifen aufgelegt und einmal zum Freundlichsein. Grämlichkeit war zu ihrem normalen Gesichtsausdruck geworden. Auf dem obersten Podest stieß sie auf Rudolf. Der saß auf einer Stufe und grübelte über das Unerklärliche an manchen Freunden.

      "Ach, da bist du ja, du kleines Ferkel."

      Der Beschimpfte konnte nicht recht begreifen, warum Frau Tiegler so giftgeladen sprach. Resolut packte sie den Übeltäter beim Handgelenk, zog ihn bis vor die Wohnungstür der Treulichs und setzte die Klingel in Bewegung.

      Als die Tür aufging, stand die Mama mit vor Erstaunen hochgezogenen Augenbrauen, und ehe sie eine Frage hervorbringen konnte, setzte sich Frau Tieglers Mundwerk in Bewegung. "Da haben Sie Ihren Schmutzfink!" Im Keifton haspelte sie den Hergang des Verbrechens ab.

      Die Mama ignorierte den rhetorischen Aufwand, ihr Ärger konzentrierte sich auf das Ärgernis. "Stimmt das, Rudi, hast du das getan?"

      Rudolf musste erleben, wie sich aus einer Lappalie ein Drama machen lässt. Zugegeben, er hatte aus dem Fenster gepinkelt. Aber nicht anständigen Leuten beinahe auf den Kopf. Und nicht er hatte den Willi Tiegler verführen wollen, es war umgekehrt gewesen.

      Die Mama bekam eine senkrechte Falte zwischen den Augen. "Zum letzten Mal, hast du es getan?"

      Rudolf entschloss sich, lieber als Bekenner dazustehen denn als lächerlicher Wenn-und-aber-Schwätzer. "Ja", sagte er laut und deutlich.

      Frau Tiegler sagte mit genugtuungsgeschwellter Brust - obwohl eine solche nicht vorhanden - "Da sehen Sie es!"

      Die Mama gab dem Sünder drei Klapse und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

      Rudolf war verstört, noch nie hatte er von der Mama Schläge bekommen. Sie ging mit ihm in die Stube, setzte sich, stellte den trotzig Schweigenden vor sich hin und sagte, er solle sie anschauen. "Die Klapse hast du für deine Dummheit bekommen, dich von diesem - diesem unehrlichen Bengel - anstiften zu lassen. Nun erzähle mal, wie es wirklich gewesen ist."

      Dass die Mama angedeutet hatte, was sie von dem falschen Freund hielt, löste die Zunge des fast verlorenen Sohnes. Er berichtete, bis die Knabenseele sich frei fühlte. Die Welt war beinahe schöner als zuvor, da die Mama ihn an sich drückte und ihm einen Kuss gab, genau in die Mitte des Haarponys auf seiner breiten, bäuerischen Stirn.

      Dachte Rudolf an dieses Begebnis, dann fühlte er es jedes Mal im Hals eng werden. Was für eine Mama hatte er doch gehabt.

      Gern hätte er dem Papa erzählt, wie es wirklich bei den Jonders zuging, aber er hatte doch lauthals erklärt, er sei keine Petze. Einmal versuchte er es auf eine Art, von der er meinte, es sei keine Petzerei. "Zu dir ist Lotti immer nett, Papa - zu mir nie."

      Der Vater fand es begreiflich und versuchte das Verständnis des Sohnes zu wecken. Die Lotti müsse doch nun vieles mit Rudolf teilen, die Mutterliebe, überhaupt alles, was es so gibt in einer Familie. Und wenn sie da manchmal ruppig werde, solle er als der Klügere tun, als merke er es nicht. Ob er ihm das versprechen wolle. Der Papa drückte den Sohn, boxte mit ihm und ging mit ihm die vielen schönen Übungen durch, die seit dem Tod der Mama fast vergessen waren. Rudolf juchzte, schrie und lachte, sie waren endlich wieder ein Herz und eine Seele, und diese Harmonie mochte der ach so verständige kleine große Sohn keinesfalls zerstören.

      Doch immer häufiger sehnte sich Rudolf nach der Mama und nährte die stille Hoffnung, eines Tages würde sie wieder da sein. Äußerte er diese Hoffnung, dann reagierten die Älteren mit verlegenem Lachen oder unverständlichen Zurechtweisungen. Nur Edith, die meist vernünftig mit ihm sprach, aber immer zu wenig Zeit für ihn hatte, antwortete ernsthaft auf die Frage, warum wohl die Mama so lange fortbleibe. "Hör mal, Rudi. Du bist doch bald ein großer Junge, und da musst du wissen, dass deine Mama tot ist und gar nicht wiederkommen kann. Bitte das Schicksal, dass dein Papa sich eine neue Frau nimmt, dann hast du wieder eine Mama."

      SECHSTES KAPITEL

      Je mehr die Freiheit eines Kindes

      beschnitten wird, desto mehr Freiheiten

      versucht es sich herauszunehmen.

      Emil Treulich, den Sohn an der Hand, war auf dem Weg zu den Kötschers, sie fuhren mit der Vorortbahn von Grünau bis Warschauer Straße. Der frühe Sonntag zeigte ein verschlafenes Berlin. Rudolf genoss es, den Papa über alles Auffällige und Seltsame auf der Stelle befragen zu können. Sie gingen über die Warschauer Brücke zum Hochbahnhof, von unten warf eine Lokomotive Wirbel weißlichen Dampfs durch das Geländer. Bewundernd bemerkte der Sohn, das sei viel mehr Qualm, als neulich im Kasperstück der Teufel in seiner Hölle gemacht habe. Der Vater hob ihn hoch, und Rudolf konnte sich nicht sattsehen an der schnaufenden Maschine, die eine nicht enden wollende Kette von Güterwaggons hinter sich herzog.

      Die Landpomeranze - so nannte ihn der Vater neckend - fuhr zum ersten Mal mit