E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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unmusikalisch.

      Die sieben andern Pärchen wirkten teils anmutig, teils drollig, doch auf Tollpatsch Hermanns Gehopse machten sich immer mehr Erwachsene aufmerksam. Das ging sehr gegen die Ehre Rudolfs, und abrupt stieß er die Hände Hermanns von sich. "Warum haste nich gleich jesagt, du bist zu doof zum Tanzen?"

      "Weitermachen, weitermachen!" riefen die Zuschauer, doch Rudolf verließ erhobenen Hauptes das Podium. Kleinlaut kam Hermann hinter ihm her. "Weiß ja, ich schaff's nich. Aber unse Mama hat jesagt, ick muss. Wenn ick's bei Vater Kodazik nich lerne, lern ick's nie."

      Rudolf höhnte: "Hat sie auch gesagt, du sollst mich blamieren?"

      Um die Freundschaft zu erhalten, entschloss sich Hermann zur Bestechung. "Woll'n wir Karussell fahren?"

      "Haste Geld?"

      Hermann nickte wichtigtuerisch. "Von Papan. Für mein Mut zum Tanzen. Ein Sechser für Eis, ein Sechser für Lakritze."

      Rudolf war gerührt. "Mir wird bloß schwindlig vom Karussellfahren, Hermann. Wir sehn lieber mal nach, wie viel Sorten Eis es jibt."

      Für die Kinder konnte es kaum einen fröhlicheren Abschluss geben als den Fackelzug. Hinter der Mandolinen- und Gitarrenkapelle Vater Kodaziks zogen sie, lichtselig ihre Stocklaternen tragend, nach Paradies und sangen: "Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne ... "

      Karl Sieffert und dessen Schwester waren zum Sammelplatz gekommen, anstatt der Stocklaternen trug jeder einen riesigen Lampion an einer Stange vor sich her.

      Vater Kodazik rügte: "Ihr müsst wieder eine Extrawurst haben."

      Die Zwölfjährige sagte zu ihrem jüngeren Bruder: "Komm, Karli, wir können unsern Fackelzug auch allein machen." Der Spielplatz wurde begrenzt durch einen Graben von Spatentiefe, über den Karl Sieffert gestolpert sein musste, denn plötzlich hüpfte sein Griesgram-Mond über die holprige Ackerkrume und stand dann in hellen Flammen.

      "Juhu!" schrien die Kinder, Kodazik und seine Helfer hatten Mühe, sie beisammen zu halten, alle wollten hinrennen und löschen.

      Am nächsten Nachmittag herrschte beinahe so viel Betrieb auf dem Spielplatz wie zum Erntefest. Die Halbwüchsigen halfen den Budenbesitzern beim Abbauen, die kleineren durchsuchten von den Schaustellern hinterlassene Reste. Hermann Schilz fand eine Schachtel Zündhölzer, und im Nu stellte sich heraus, dass er mehr Freunde besaß, als er je gedacht hatte. Alle kamen mit Vorschlägen, zu welch gänzlich ungefährlichen Feuerchen man die Flammenspender einsetzen könne.

      Über die Schulter Hermanns hinweg griff Karl Siefferts Hand. "Die nehme ich in Verwahrung, Zicken-Schilz, ihr macht damit bloß Dummheiten." Schriller Protest der Vorschulraben antwortete, doch Orje Bläsner, zwei Jahre älter als Karl Sieffert, trat dem zur Seite. "Seid mal janz stille, sonst verraten wir, det ihr Paradies anstecken wolltet."

      Die Mehrheit der Kleinen drohte, über die Minderheit der Großen herzufallen. Karl Sieffert entwischte aufs Podium und schwenkte triumphierend die Schachtel. Er durfte sich die Herausforderung erlauben, auch Orje Bläsner war aufs Podium gesprungen und drohte: "Wer hier rauf kommt, wird runter jeschmissen!"

      Die Abgewiesenen berieten, wie man dem eingebildeten Sieffert einen Denkzettel verabreichen könnte. Fred Pulicke, etwas älter als Rudolf, hatte ein Aststück gefunden, das an einen Bumerang erinnerte. Er drückte es dem Spielgefährten in die Hand. "Sag zum feinen Karl, er soll den Diebstahl rausrücken und denn Leine ziehn. Det Podium is für dein' Vadder jebaut worden, aber nich für Streichholzklauer."

      Hoffnung blühte auf, der Einfall begeisterte die Heldenschar.

      Am wenigsten begeistert war Rudolf. "Und wenn er nich will?"

      "Denn schmeißte ihn mit det Stücke Ast!"

      Rudolf schwitzte vor Hinundhergerissen sein. Karlchen war doppelt so alt und groß, zudem hatte er sich noch um einen Meter höher gestellt. Aber mit dem Aststück konnte man womöglich einen umbringen. Der Zaudernde streckte Fred das Wurfholz hin. "Schmeiß du."

      Fred stemmte die Fäuste in die Hüften. "Hat nu dein Vater jestern hier'n Jedicht aufjesagt oder meiner?"

      "Jawoll. Und du musst seine Ehre retten!" tönte einhellig das Echo.

      Rudolf wusste nicht recht, was seines Vaters Ehre mit der Streichholzschachtel zu tun hatte, aber er wusste ja auch noch nicht, dass Kinder manchmal beinahe so demagogisch sein können wie Erwachsene.

      "Ach - lass den, der is doch feije. - Mit solch een Feichling spielt doch keener mehr!"

      Rudolf wurde zu schwach zum Feigesein und sprang auf das wilde Pferd des bösen Mutes. "Gib die Streichhölzer, Sieffert, sonst sollste mal sehn, was passiert!"

      Karlchen warnte: "Untersteh dich, du Knirps."

      Welche Schande für einen Knirps, Knirps genannt zu werden. Das knorrige Holz traf Karl Sieffert ins Gesicht. Mit einem Schmerzenslaut ging er in die Knie und hielt die Hand aufs Auge. Wortlos starrten alle auf den stöhnenden Jungen, Rudolf war bleich vor Schreck. Orje Bläsner betrachtete aufmerksam das verwundete Auge. "Wenn er blind wird", brüllte er dem unglücklichen Werfer zu, "bist du schuld!"

      Reuevoll starrte Rudolf vor sich hin. Als er wieder aufschaute, stand er allein. In der Ferne verschwanden Orje und Karlchen, der sich führen ließ, als sei er bereits blind. Rudolf merkte erst, dass er heulte, als ihm das salzige Wasser in die Mundwinkel lief. Es ließ sich nicht bremsen, obwohl er es sehr wünschte, denn der Papa sagte immer, ein richtiger Junge weint nicht. Zögernd trat er den Heimweg an.

      Verstört erzählte er alles der Mama. Sie hörte zu mit ihrem Blick, der auf den Grund der Seele schaut. Am Ende schluchzte der arme Sünder und barg seinen Kopf an der Brust der Mutter.

      Die Mama mit den strengen Grundsätzen streichelte ihrem Jungen das Haar und zog ihn fester an sich. Es war so schön, dass er erst recht heulen musste. "Wenn Karlchen blind wird, möchte ich nicht mehr leben." Es hatte ihn ehrlich gepackt. Die Mama nahm ihn auf den Schoß und wiegte ihn, als sei er noch ein Baby. "Nun, nun, Karlchen wird nicht blind werden. Aber wir werden hingehen."

      Zwar schlotterte er bei dieser Forderung, aber es drängte Rudolf auch zu erfahren, ob Karlchen wirklich erblindet sei.

      Karlchens Mutter war eine hagere Frau, die hochgebürsteten Haare mit dem Dutt obendrauf verlängerten das ernste Gesicht mit den schmalen, blutleeren Lippen. Sie ließ die Treulichs auf dem Treppenflur stehen, bis Rudolfs Mama alles dargelegt und sich besorgt nach dem Befinden des Verletzten erkundigt hatte. Da bat sie die beiden in den Korridor und sagte: "Karl kühlt mit essigsaurer Tonerde. Der Arzt hat gesagt, das Auge ist unversehrt, verletzt ist das Lid."

      "Dürfen wir ihm gute Besserung wünschen und uns bei ihm entschuldigen?" bat Martha Treulich. Wortlos öffnete Frau Sieffert die Stubentür. Karls Gesicht zeigte freudige Verwunderung, der Widersacher kam an seine Lagerstatt.

      "Nun, Rudi?" mahnte die Mama.

      "Lieber Karl ..." Es fiel Rudolf schwer, aber er zwang sich zu dieser Anrede, die er wiederholte, um hastig fortzufahren: "Es tut mir leid. Ich wollte dir bloß Angst machen. Aber der dumme Knüppel ist so dumm geflogen."

      Karlchen bewies Seelengröße. Während er mit der Linken die kühlende Gaze auf das zugeschwollene Auge hielt, winkte er mit der Rechten ab. "Ich glaube doch nicht, dass du mein Auge treffen wolltest."

      "Meine Eisenbahn hat zwei Lokomotiven", erklärte Rudolf, von Dankbarkeit hingerissen, "die eine schenke ... "

      "Wäre ja noch schöner", fiel ihm Frau Sieffert ins Wort, "reden Sie ihm das aus, Frau Treulich."

      Die Mama lenkte rasch ein, "aber wenn Karlchen wieder gesund ist, kann er gern zu uns kommen, und sie spielen eben beide mit der Eisenbahn."

      "Mal sehen", antwortete Karlchen, "aber eigentlich spiele ich ja nicht mehr viel mit der Eisenbahn."

      "Na gut", sagte die Mama, "Hauptsache, du wirst uns recht schnell wieder gesund." Sie gab Frau Sieffert die Hand. "Bitte, tragen Sie uns nichts nach."

      "Nett, dass Sie gekommen sind." Das