E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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bald darauf der kleine Rudolf geboren wurde, gab es keinen Weg zwischen Schöneberg und der Jahnstraße. So betrachtet, hatte die Ehe der Treulichs einen unglücklichen Start, aber man höre und staune, sie war glücklich. Bildete nicht schon allein das Dasein des Jungen eine Quelle ständigen Gedankenaustauschs? Martha und Emil meinten, es sei leichtfertig, Nachkommen zu zeugen, ohne sich Gedanken über Kindererziehung zu machen. Sie wussten, die Formung des jungen Menschen beginnt nach dem ersten Schrei, wesentliche Prinzipien jeder Erziehung sind Konsequenz und Beharrlichkeit. Die Zeiten des Nährens, Schlafens und Trockenlegens wurden prompt eingehalten, es gab keine Extrawürste. Schreien stärkt die Lungen, sagte Frau Martha, und wenn er merkt, dass er damit nicht durchkommt, hört er schon auf.

      Schlauberger von heute dürften die beiden Treulichs als Rabeneltern einstufen. Beim kleinen Rudolf werden wir sehen, wie frühes Training spätere Wegstrecken leichter macht. Die Eltern meinten, wenn er schon zu den Unterprivilegierten gehört, soll er auf keinen Fall aufwachsen wie ein Unterentwickelter. Da andere Arbeitereltern ähnlich dachten, wuchs sich das aus zu praktischen Vorstellungen, die dann zu den Triebkräften gehörten, die auch die Arbeiterbaugenossenschaften entstehen ließen. Heraus aus den Kellerlöchern, wir bauen sonnige Wohnungen! So lautete der Schlachtruf, und Architekten wie Bruno Taut unterstützten diese Sehnsüchte durch Pläne für menschenwürdige Behausungen.

      Emil Treulich war Mitbegründer der Arbeiterbaugenossenschaft "Paradies". Über den Namen gab es Kopfschütteln. Die Gründer erklärten, der Name Paradies sei als Herausforderung gedacht, im Sinne eines gewissen Heinrich Heine, der den Himmel gern den Spatzen überlassen wollte, unserer Erde aber die Zuckererbsen wünschte. Sie sagten sich, ehe der Kuchen des Sozialismus nicht fertig gebacken ist, kann er nicht verteilt werden. Deshalb backen wir uns mit unserer Genossenschaft einen kleinen Vorauskuchen. Und dabei gingen sie durchaus geschickt zu Werke. Für eine amtlich besiegelte eingetragene Genossenschaft musste zumindest ein bescheidenes Stammkapital nachgewiesen werden. Das war aus den Gründerportemonnaies nicht herauszuschütteln. Also verkauften sie Anteile, warben Verbündete, suchten nach Darlehen und hatten Erfolg, nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich um die erste Arbeiterorganisation dieser Art im norddeutschen Raum handelte. Kaum einer der angesprochenen links eingestellten Intellektuellen, Wissenschaftler, Verleger, Redakteure und Autoren zeigte den Sonnensuchern die kalte Schulter. Die Paradies-Väter waren nicht wenig stolz, dass sich auch Käthe Kollwitz und Karl Liebknecht mit ansehnlichen Darlehen beteiligten.

      Da nun Vorschriften und Gesetze erfüllt waren, suchten die Gründerväter eine Lücke in der Mauer konservativ-bäuerlicher Ablehnung rings um das Sündenbabel Berlin. Die fanden sie in Bahnsdorf, einer Ortsgründung aus der Zeit des sogenannten großen Friedrich. Da gab es einige Bauern, die lockte das schnelle Geld. In den Jahren der Gründerzeit war erstmals eine Fläche Bahnsdorfer Landes an die "Chemische Fabrik Riedel" verkauft worden. Kassandra-Naturen des Dorfes hatten zwar die Nasen gerümpft und geunkt, bald würden sie sich dieselben zuhalten müssen. Dagegen erklärten die verkaufenden Bauern, das abgestoßene Gelände sei eine Wüstenei, auf deren märkischem Streusand ohnehin nichts anderes gedeihe als Unkraut.

      Glücklicherweise behielten die Warner unrecht. Anfangs stank es zwar, und der Pflanzenwuchs der Umgegend begann zu kränkeln, doch mehr noch kränkelte das Unternehmen. Die Riedel AG ging pleite, der Gelddurst einiger Bauern aber gedieh. Gerade da winkten die Genossenschafter aus Berlin mit akzeptablen Kaufangeboten, und man wurde handelseins.

      In seinen Anfängen stand "Paradies" wahrlich unter einem günstigen Stern. Chemiegestank gab es nicht mehr, dafür aber eine schmucke Chaussee mit hohen Bäumen und kostbarem Granitpflaster, die vom Bahnhof Grünau bis hin zum Dorf führte. Der malerische Ort hatte immerhin zwei Bäckereien, zwei Schlächtereien und zwei Milchhändler zu bieten, ferner eine Schmiede, eine Stellmacherei, eine Windmühle und eine Schuhmacherei, deren Meister zugleich den Postdienst in Bahnsdorf versah. So existierten für die Licht-und-Luft-Pioniere keine wesentlichen Handels- und Dienstleistungsprobleme, und sie setzten ihre ersten drei Genossenschaftshäuser an den Eingang des Dorfes, längsseits der Chaussee, Buntzelstraße benannt nach dem reichen Herrn Buntzel, der Ländereien in dieser Gegend besaß und auf den Buntzelberg ein Schlösschen hingesetzt hatte, das an Neuschwanstein erinnerte, pompöser Lieblingssitz des verrückten Bayernkönigs Ludwig II. Imposant überragte es alles ringsum, und von seinen Zinnen konnte man ins Berliner Urstromtal spucken. Einige Steinwürfe entfernt floss die Dahme, und in besagtem Urstromtal glänzten - wenn die Sonne schien - die Gleise der Bahnlinie nach Görlitz.

      Kurze Zeit später wurden abermals drei Genossenschaftshäuser in die Bahnsdorfer Landschaft gestellt, rechtwinklig zu den drei ersten, und damit begann die Geschichte der Hauptstraße von Paradies, der Paradiesstraße. Durch neue Bauten verlängerte sie sich bald bis zum Siebweg, lange Zeit Scheidelinie zwischen Stadt und Land, denn an der Südseite des Siebweges wogten sommers die Kornfelder des Großbauern Lohmert, der in Grünau mehrere Mietshäuser besaß.

      Das rechteckige Areal zwischen Buntzel-, Paradiesstraße und Siebweg, nach Westen begrenzt vom Friedhof, bebauten die Genossenschafter mit Reihenhäuschen. Das nach Plan gänzlich unplanmäßig wirkende umfangreiche Wohngeviert - das alte Paradies - mit seinen Vorgärtchen und kleinen Mietgärten, mit den Halbhöfen, Winkeln und Treppchen, Nischen und kurzen Sackgassen, war das Kernstück der Genossenschaft, die im Lauf der Jahre durch Neubauten erweitert wurde.

      In dem dreistockigen Etagenhaus, das die Ecke Paradiesstraße-Siebweg bildete, gab es die Aufgänge Nummer zehn, elf, zwölf, dreizehn. Martha und Emil Treulich durften wählen und zogen in die Wohnung im oberen Stock des Aufgangs Nummer elf. Sie lag nach Süden zum Siebweg und bot eine einmalige Aussicht. Grüne und gelbe Felder, in der Ferne begrenzt vom dunklen Saum des Waldes, der sich als Teil der Grünauer Forsten bis zur Waltersdorfer Flur erstreckte. Im Frühsommer 1912 bezogen Treulichs die Zweizimmerwohnung mit der geräumigen Küche. Dazu gehörten Bad, Korridor und Speisekammer, damals staunenswerte Errungenschaften für Arbeiter.

      Noch vor der Geburt seines Knaben hatte Emil im Ortsteil Falkenhorst, in der Elsterstraße, eine Parzelle gekauft, um sich mit der Familie an Sommertagen in der freien Natur "aalen" zu können, wie die Berliner das Ausspannen nach einer sauren Arbeitswoche nannten. Hier konnte das Söhnchen im heißen Zuckersand buddeln, im Sonnenlicht und in der Regentonne baden. Der Kollege Karge machte einmal ein Foto von ihm, wie er dort meist herumtollte. Er steht auf einem über die Tonne gelegten Brett, mit nichts anderem bekleidet als einem Tirolerhütchen nebst riesiger Fasanenfeder, und mit beiden Händen hält er seinen Buddeleimer vors Bäuchlein.

      Die andere Seite der Elsterstraße war unbebaut, dort begann ein durch Kies- und Sandentnahmen zerfurchtes Gelände, das sich zwischen den beiden Magistralen Falkenhorsts, der Waltersdorfer und der Schulzendorfer Straße, erstreckte. Diese Mondkrateridylle war für Treulichs Jüngsten tabu. Es hieß, vor Jahren sei dort in einem Kiesloch ein Kind verschüttet worden.

      Sehnsüchtig schaute der Kleine oft durch den Gartenzaun, wenn die andern Kinder drüben in den Klüften und Gräben herumwuselten. An einem Sonntagnachmittag spielte sich dort, einen Steinwurf vom Grundstück der Treulichs entfernt, etwas äußerst Aufregendes ab. Ein Kreis von Kindern umstand eine etwas tiefere Kute, auf deren Grund sich irgendeine Abscheulichkeit befinden musste. Die Kinder warfen mit Steinen danach und stoben dann schreiend davon. Nach geraumer Zeit begann das Spiel von Neuem. Der kleine Rudolf zerschnitt sich fast die Nase am Maschendraht. Die Neugier plagte wie Schmerz. Der Geplagte stapfte zur Gartentür, an deren Klinke er gerade mit Ach und Krach heranreichte.

      Überwältigt stand der Knirps vor der großen, weiten Welt. Drüben jagten die Kinder eben wieder schreiend davon, einige schlugen und kratzten sich, als hätten sie Läuse. Jetzt würde ihn niemand von der Kute vertreiben. Eilends watschelte er zum Rand des Lochs. Nichts war zu sehen als Mäuseklee und Queckengras. Wo er doch mindestens mit einer Ratte gerechnet hatte oder mit einem kleinen Krokodil. Die ersten Halbwüchsigen kamen vorsichtig näher. "Was is denn da?" heischte der Kleine Auskunft. "Na, die Biester, die wilden Biester!" - "Seh keine!" verkündete der hosenlose Hosenmatz. - "Musst schmeißen, immer feste schmeißen!" Rudolf warf Sandkrümel und Kieselsteinchen ins Loch. Ein Junge fand einen faustgroßen Feldstein. "Hier, kiek mal, die Klamotte is det richtje!" Mit aller Kraft schleuderte er den Stein gegen die grünüberwucherte Grubenwand, aus der plötzlich eine braungelbe Wolke hochwimmelte.