E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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Deshalb sei ihr etwas eingefallen, was sie unbedingt am Nachmittag noch habe besorgen müssen.

      Das bedeute - Emil verbarg seine Freude nicht -, dass er eine Stunde das Glück ihrer Gegenwart genießen dürfe. Eine halbe Stunde, widersprach sie, und nur, wenn er zugebe, dass die Phrase "Glück Ihrer Gegenwart" ironisch gemeint sei. Er hob zwei Finger und versicherte, selten sei er so froh über ein unverhofftes Wiedersehen gewesen. Wie selbstverständlich nahm er ihren Arm, und selbstverständlich wusste er ein kleines Café, in dem sie ein Zweiertischchen fanden. Er bestellte zwei Sherry, aber Martha wünschte eine Tasse Kaffee. Als die Serviererin gegangen war, sah sie ihn strafend an. "Den Kaffee bezahle ich."

      Er ließ die Mundwinkel hängen. "Nun möchte man mal den Kavalier spielen ... "

      Den spiele er wohl öfter. Sie tat vorwurfsvoll. Aber bei ihr sei er an jemand geraten, dem das überhaupt nicht imponiere.

      Ist die schön widerborstig, dachte Emil, und fragte gedehnt: "Spiele oft den Kavalier ...?"

      Gestern habe er einen Sweater getragen, erinnerte Martha, heute einen Maßanzug. Nur ihretwegen, erklärte er, ob das nicht überzeugender sei als ein Kompliment. Martha gestand, dass sie gern wüsste, wer er wirklich sei. "Gestern ein Arbeiter, heute ein - nun ja, eher wie ein Bourgeois."

      Emil nahm einen Schluck Sherry auf den Schreck. Diese Martha Saupt war so unbequem wie imponierend. Mit seinen neunundzwanzig Jahren befand er sich nicht mehr im Stande der Unschuld, doch solch ein Mädchen war ihm bisher nicht begegnet: Er holte tief Luft und sagte, seine Kleidung habe wohl mit gutem Verdienst zu tun. Nicht ohne Grund nenne man die Buchdrucker - wenn auch meist ironisch - Elite der Arbeiterschaft, weil gewerkschaftlich unübertrefflich organisiert. Kleinste Sparte, aber nicht die unwichtigste, seien die Schriftgießer. Deshalb heiße es auch "Verband der deutschen Buchdrucker und Schriftgießer". Und von dieser kleinsten Sparte gehöre er zu den wenigen mit der kompliziertesten Tätigkeit. Aus kochendem Blei habe er Typen des winzigsten Schriftgrads zu gießen. Von diesen Buchstaben messe der breiteste höchstens einen halben Quadratmillimeter. Trotzdem müsse das Schriftbild haarscharf und pieksauber sein.

      Martha fand es aufregend. Emil tat gelassen. Aufregend werde es erst, wenn die Maschine zu spucken beginne. Zu Hause habe er wohl ein halbes Dutzend Arbeitssweater zu liegen, alle mit Bleipanzern auf der Brust. Nicht nur einmal habe es ihm die Augenlider zugeklebt, und ein Arzt musste es entfernen.

      "Dagegen muss man doch was tun!" Martha zeigte sich ehrlich entrüstet.

      Ihre Anteilnahme war ihm Honigseim. Natürlich, bekräftigte er, man müsse aufpassen. Wichtig an jeder Gießmaschine sei die Bleitemperatur, erst recht beim Guss der kleinsten Schrift. Da gehe es um zehntel Grad. Wer sich dieses Feingefühl nicht erwerbe, der sei eben kein Spitzenmann.

      Sie nannte das nervenaufreibend, aber er schüttelte den Kopf. Aus sprödem Metall Tausende filigranzarte Dingelchen zu produzieren, ohne die kein Setzer setzen, kein Drucker drucken und kein Leser lesen könne, empfinde er als Kunst. Dürfte er seinen Beruf nicht mehr ausüben, ginge es ihm wie einem Maler, dem man Pinsel und Palette wegnimmt.

      "Also doch Schwarze Kunst." Wenn sie spottete, blitzten in ihren Augen kleine Lichter auf. Er ging nicht auf ihren Ton ein. Das sei alles mal ernst gemeint gewesen, sagte er bedauernd, die Schwarze Kunst mit ihrem Buchdruckerwappen, das Gautschen und das Grußwort "Gott grüß die Kunst". Und wer sich eine der Gutenbergbibeln anschaue und behaupte, das sei kein Kunstwerk, der habe keine Ahnung. Aber leider, je mehr Technik aufkomme, desto rascher gingen alte Bräuche, Berufskniffe und -schliche verloren.

      Von dieser Betrübnis Emil Treulichs hörte der Sohn Rudolf schon im Kindesalter, und sie blieb ihm im Gedächtnis, weil der Vater später, nach der Rückkehr aus dem Krieg, öfter darauf zurückkam. Dabei richteten sich die Klagen weniger gegen die Technik als gegen die Unfähigkeit, Technik zu nutzen, ohne die guten Traditionen auf den Kehricht zu werfen.

      Ernsthaft fragte Martha, ob Emil Treulich etwa noch wie Gutenberg drucken wolle? Nachsichtig lächelte er. Sie habe vorhin "nervenaufreibend" gesagt. Nervenaufreibend sei, wenn man sich bremsen müsse, um den Akkord nicht zu versauen. Immer habe er etwas Gegossenes in der Hinterhand, den Speck. Dass der Speck nicht ranzig werde, dagegen hätten die Spitzengießer den blauen Montag. In fünf Tagen Akkord schafften sie die Wochenmenge, die als normal gelte, also niemanden reize, die Akkordsätze zu drücken.

      Martha wollte nicht glauben, dass sich der Chef das gefallen lasse. Emil bemerkte darauf, der Chef wisse davon nichts, das würde mit dem Meister gezaubert. Selbst wenn es der Chef erführe, was wolle der machen? Feingießer seien überall gefragt, wenn in Berlin nicht, dann in Leipzig, Mainz oder Frankfurt am Main. Er als Mann ohne Kind und Kacks hätte nicht übel Lust, eine Weile mal die Gegend am lieblichen Main unsicher zu machen.

      Ob er denn so mir nichts, dir nichts den Koffer packen würde, fragte Martha wie nebenhin. Ahnungslos bestätigte er, "warum nicht?" Unter Umständen auch den Rucksack und dann per pedes als Wandersmann mit Reiseunterstützung vom Verband durchs schöne Land.

      Er würde tatsächlich ...? Martha bezwang nur mühsam ihre Enttäuschung, aber er schwärmte, verlockend wäre es auch, mit dem Fahrrad zum schönen Rhein zu strampeln.

      Martha Saupt stand auf. "Dann strampeln Sie nur. Nach Mainz oder Frankfurt. Von mir aus nach Amerika." Die Nase in die Luft gereckt, verließ sie das Café.

      Nach und nach zügelte sie ihre Schritte in der Hoffnung, er würde ihr folgen. Es war unbeherrscht gewesen, wusste sie, aber was sollte sie tun. Er macht mir den Hof und erklärt im gleichen Atemzug, dass er, hinaus in die weite Welt wolle. Auch dass er so sorglos in den Tag hinein lebt, ist nicht recht. Als ob er Not nie kennengelernt hat. Wenn ich da an die sorgenvolle Zeit Vaters als Sattler denke ...

      Unauffällig schaute sie sich um. Weit und breit kein Emil Treulich zu sehen. Ihre Empörung flackerte kleiner, doch der Verstand protestierte, unterwerfen, bevor es richtig begonnen hat?

      Wen der Schlaf flieht, den plagen Gedanken. Martha Saupt grübelte wahrlich mehr in der Nacht danach, als sie schlief. Das Flämmchen der Hoffnung wollte nicht erlöschen.

      Wiederum gebrauchte sie zu Hause eine Ausrede, und so befand sie sich zur gleichen Zeit wie am Vortag auf dem selben Weg. Nicht Emil Treulich traf sie, doch Trautmann und Karge, und die begrüßten sie wie eine alte Bekannte. Sie sprachen vom Wetter und drucksten herum, bis Karge herausplatzte: "Is jestern etwa 'n bissken wat schief jejangen, Frollein Saupt?"

      Martha tat erhaben. Wieso? Dürfe man bei dem Herrn keine andere Meinung haben? Beide beteuerten, so sei der Emil gar nicht. Im Gegenteil, mit keinem lasse sich so lustig streiten wie mit ihm. Martha gab sich ungläubig und entlockte den beiden weitere Einzelheiten. Von allen lasse sich Emil anpumpen. Jeder in der Bude wisse natürlich, dass er zum Gauvorstand des Berliner Buchdruckerverbands gehöre, und so kommen die Kollegen mit jedem Ärger zu ihm, und keinen lässt er abfahren. Darum habe er es auch geschafft, fast alle Mädchen und Frauen in Packerei und Versand gewerkschaftlich zu organisieren. "Allet, wat recht is", schloss Karge das Loblied, "Emil is'n Kerl, mit dem jeht man durch dick und dünn."

      Es hörte sich gut an, trotzdem bremste sie: "Und außerdem liebt er Wein, Weib und Gesang."

      Trautmann protestierte lachend. "Nee, nee, keen Wein, Emil liebt mehr det helle Bayerisch Bier."

      Karge hob bedeutsam den Daumen. "Und wat den Jesang anjeht, Frollein Saupt, er hat 'nen properen Bariton, singt in der "Typographia", unserm Buchdruckerjesangverein."

      "Apropos Jesang", entsann sich Trautmann, "am Sonnabend hat "Typographia" Ostervergnüjen in der Neuen Welt, woll'n se da nicht hinkomm', Frollein Saupt?"

      Martha zierte sich anstandshalber, doch nahm sie dann hastig die Eintrittskarte, die ihr Trautmann hinhielt. Sie musste an die Gesichter der Eltern denken, würde sie die um Erlaubnis fragen. Sei es drum. In aufwallendem Trotz bezahlte sie die Karte und verabschiedete sich betont freundlich von den zwei hilfreichen Kollegen des Emil Treulich.

      Sorgsam verstaute Martha die Karte im Handtäschchen, sicherer Pfand für ein Wiedersehen, doch freute sie sich auch auf das Fest in der Neuen Welt. Da war ständig was los, Berlins Lebenslust veranstaltete dort