E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe


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betonte, dass ein guter Mensch die Wahrheit sagt, so oft machte er dem Knäblein Mut, mutig zu sein. Stets benutzte er dabei Anekdoten, Erlebnisse und Episoden aus dem eigenen Leben oder aus der Literatur. Die Bibel gehörte selbstverständlich dazu, und eine der ersten Parabeln, die der Kleine kennenlernte, war die von David und Goliath. Rudolf setzte den Vater in Verlegenheit mit der Frage, warum man ihm nicht den Namen David gegeben habe, von einem ähnlich mutigen Rudolf habe er noch nichts gehört. Hm, machte der Vater, wenn sie damals gewusst hätten, dass ihm David besser gefallen würde, hätten sie ihm sicherlich diesen Namen gegeben. Aber falls noch ein Brüderchen käme, das könnte man gern David nennen. Diese Aussicht verscheuchte den Kummer über den Namen, und noch eine Zeit lang erkundigte sich Rudolf bei der Mama des Öfteren, ob nicht bald ein kleiner David ankomme.

      Der Spross war ein fleißiger Frager, und nie fand er den Papa faul im Antworten. Im Gegenteil, einer der Grundsätze Emil Treulichs lautete: "Frage, Junge, frage! - Nur ein dummer Mensch fragt nicht."

      Die Mama war strenger als der Papa, machte selten Scherze und konnte auch nicht auf Fingern pfeifen.

      Die beharrlichen Bemühungen Emil Treulichs, aus dem Sohn einen Menschen zu formen, waren manchmal erschreckend erfolgreich, denn alle ihm eingepflanzten ethischen Grundsätze nahm der Sohn als Gesetz. Ein guter Mensch lügt nicht; ein guter Mensch tritt für die Gerechtigkeit ein; ein guter Mensch ist mutig. Daran gab es nichts zu deuteln, Papa hatte es gesagt.

      Gar manches Mal dachte der Vater, wie bringe ich solch einem Guckindiewelt bei, dass es außer Schwarz und Weiß auch Grau, und bei richtiger Weltbetrachtung, noch tausend andere Farbtöne gibt. Selbst bemüht um dialektisches Denken, glaubte Emil Treulich nicht von sich, ein Denkgenie in Dialektik zu sein, doch für den Kleinen gab es nur Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge. Die Hexe hat Böses getan, also muss sie im Backofen verbrannt werden. Die Leiden der Guten entlockten dem Kerlchen salzige Tränen, dagegen wünschte er die Bösen streng bestraft. Die Mama erlebte es, als sie dem Sohn die ersten Märchen vorlas. Prinzess Dornröschen gefiel ihm über die Maßen, und als er davon hörte, wie sie sich mit der Spindel gestochen hatte, bedauerte er, damals nicht gelebt zu haben. Er hätte keine hundert Jahre gewartet, das liebe Mägdelein zu erlösen. Unverzeihlich aber fand er, dass nichts über eine Bestrafung der dreizehnten bösen Frau gesagt wurde. Der hätten doch mindestens die Augen von weißen Täubchen herausgepickt werden müssen, ganz wie den bösen Schwestern des armen Aschenputtels.

      Die Mama erschrak, dann sagte sie sich, dass die Moral der Märchen die Moral der Kinder ist. Niemand kann sagen, eine Kinderseele habe am Märchen Schaden genommen, sicher dagegen ist, Märchen schenken der Kinderzeit ursprüngliche Poesie.

      Selbst Glossenhaftes in Märchenform konnte den Sprössling begeistern. Ein Lieblingslied Rudolfs war das von der bestraften Hexe, eine Ballade, die zum Repertoire von "Typographia" gehörte. Der Papa saß auf einem Stuhl, hob den Knirps in seine frei schwebende Fußbeuge und begann tiefernst die Parodie zu singen:

      "In der Nähe von Meißen, am Rabenstein,

      da huppt eene Hexe auf einem Bein.

      Sie hatte verhext eines Grafen Kind,

      schlecht, wie die Hexen merschtendeels sind."

      Darauf hob sich die Stimme, wurde hell und schadenfroh bei dem Refrain: "Hupp, Alte, hupp-hupp, Alte, hupp-hupp, hupp-hupp, hei-hupp!" Fest musste sich der Kleine an Vaters Knie klammern, der das Bein im Takt schwenkte, und nachdem der Reiter beinahe Tränen um das verhexte Grafenkind vergossen hatte, jauchzte er nun in selbstvergessenem Vergnügen.

      Weniger ums Mithuppen als ums Mitreisen ging es bei einer Begebenheit auf dem Buddelplatz. Der lag am Siebweg und war ein Teil des unbebauten Geländes auf der östlichen Seite der Paradiesstraße, den man allgemein als "die Wiese" bezeichnete. Auf dem Buddelplatz wurden Burgen gebaut und Murmelberge, Höhlen geschippt und Schlossgräben ausgehoben. Die Bauvorhaben der größeren Jungen waren ehrgeiziger. Als Meisterstück galt das Fährschiff des Max Zimmermann, nachempfunden dem Motorkahn, mit welchem man von Grünau über die Dahme nach Wendenschloß übersetzen konnte. Säuberlich ins Erdreich geschippt, war das Boot an die fünf Meter lang, ringsum mit Sitzplätzen und einem Kommandostand in der Mitte. Selbstverständlich war Max der Kapitän, mit einem defekten Leiterwagenrad als Steuer. Bei der Jungfernfahrt kassierte er pro Person einen Groschen Fahrgeld, das hieß zehn Kieselsteine. Der Andrang war groß, und sollte der Kahn nicht zertrampelt werden, musste man die Anzahl der Reiselustigen halbieren. Max ließ sie zu vieren antreten, teilte den Trupp, stellte sich an die Spitze des vorderen Teils und kommandierte: "Abteilung, marsch!" Wie brave Turner marschierten sie hinter ihm her. An der Ecke Siebweg-Paradiesstraße ließ er halten und fragte leise, ob sie schweigen könnten. Einstimmiges Ja antwortete. "Jut", befand der Kapitän, "denn verratet niemandem, det ihr morjen als Erste dran seid. Wer aber jetzt nich hier verschwindet, der kommt niemals uff mein Schiff."

      Unter den Wartenden war inzwischen ein Streit wegen der Platzordnung ausgebrochen. Wie auf einem richtigen Boot wollten alle an der Spitze sitzen, und wieder drohte die Jungfernfahrt entweiht zu werden. Salomonisch entschied Max: "Wer zu Hause Arsch sagen darf, der setzt sich an die Spitze. Wer Hintern sagen muss, der kommt in die Mitte, und die bloß Popo sagen dürfen, nach hinten."

      Selbstverständlich durften erst einmal alle zu Hause Arsch sagen. Mithilfe von Zeugenaussagen wurde dies geklärt, es blieb nur ein Häuflein für die Bootsspitze, die Mehrzahl musste sich bequemen, Plätze in der Mitte einzunehmen. Einsam und traurig stand der letzte Passagier auf der Landungsbrücke, der Knabe Rudolf.

      "Wat stehste rum", schnauzte der Kapitän, "steig ein!"

      "Ich möchte 'nen Platz in der Mitte."

      "Wenn ick sage, du Popofatzke sitzt hinten, denn sitzte da, verstanden?"

      "Ich zahle ebenso mein Fahrgeld wie die Andern." Stolz hielt Rudolf zehn niedliche Steinchen dem Kapitän vor die Nase.

      "Die kannste dir sauer kochen!" höhnte der, schlug mit der Faust von unten gegen die flache Hand, und ein Kieselsteinregen prasselte auf Boot und Passagiere herab.

      Der kleine Rudolf schlug ebenfalls. Mit der flachen Hand einmal die linke Wange des Max Zimmermann, dann die rechte und gleich noch einmal links und rechts.

      Der Gemaßregelte war so verblüfft, dass er alles hatte geschehen lassen. Dann sah er rot. Dieser Wicht backpfeift einen Kapitän vor allen Passagieren? Er zerrte den Rebellen hinunter in den Kahn und drosch auf ihn ein. Rudolf dachte nicht an Kapitulation, er dachte an David und wehrte sich tapfer. Das war dem Halbwüchsigen so ärgerlich, dass er den Zwerg in den Schwitzkasten nahm. Der biss ihm in den Arm. "Aua!" brüllte Max, stieß den Widersacher von sich und versetzte ihm dabei einen Schwinger gegen die Nase. Die Nase begann rot zu triefen. Entsetzt schrien die Passagiere auf, und schnell wie die Ratten verließen sie das Schiff, obwohl es gar nicht am Sinken war. Rudolf wankte in Richtung Heimat, den Kopf weit nach hinten gelegt. Neben ihm ging Ilse, die Jüngste von Tieglers, die im selben Aufgang wie Treulichs wohnten. Sie sprach dem Spielgefährten Trost zu und führte ihn zur Bank auf der Paradiesstraße. Mit ihrem Taschentüchlein säuberte sie dem Helden Gesicht, Hals und Brust.

      "Warum bist du denn nicht ausgerückt, nachdem du ihm die Ohrfeigen geschallert hast?" fragte Ilse.

      "Dann hätte der noch gedacht, ich habe Angst."

      "Mut ist ja ganz schön - aber nich 'ne blutende Nase."

      "Wenn ich doch im Recht war."

      Sie stellte sich ein Stück ab und betrachtete kritisch sein Aussehen. "Du, Rudi, erzählst du es meiner Mutti, dass ich vorhin geschwindelt habe?"

      Rudolf war beinahe beleidigt. "Bin ich 'ne Petze?"

      "Wenn du willst, zeige ich dir ein Nest in Lohmerts Korn."

      "Kenne ich schon. Da habt ihr gestern Doktor gespielt!"

      "Wenn du schwörst, dass du deiner Mama auch nichts sagst, kannst du morgen der Doktor sein."

      Rudolf dachte, warum eigentlich Nein sagen? Zwar taten alle, als wenn Doktorspielen was Schlimmes ist, aber es gab ja auch das Spiel Vaterken und Mutterken, und wenn sie dabei Schlafengehen