Bernhard Dönhoff

Auf den Flügeln meiner Träume


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war damals, vor vielen, vielen Jahren, kaum älter als du, mein Kind. Mein Vater hatte gerade dieses Haus gebaut und ich lief, neugierig wie alle kleinen Mädchen, den lieben langen Tag durch die Wiesen und Wälder, um mein neues Zuhause in Augenschein zu nehmen und zu besitzen.

      An einem Spätsommernachmittag lag ich unter der alten, knorrigen Eiche, die mit den seltsam geformten Ästen, und sah den Wolken zu, die am strahlend blauen Himmel, ihre ewig gleiche Bahn zogen.

      Plötzlich war mir, als hörte ich ein Knacken im Unterholz. Erschrocken richtete ich mich auf, sah mich um, und erkannte einen jungen Burschen, der sich vorsichtig, immer wieder umschauend, durch das Gebüsch genau auf mich zu schlich. Flugs kletterte ich auf den Baum und versteckte mich tief in seinen Ästen.

      Das Herz schlug mir bis zum Hals.

      Mittlerweile war der Junge unter dem Baum angelangt. Er blickte sich noch einmal um, so als wolle er auch wirklich sicher sein, dass ihm keiner gefolgt war.

      Dann kratze er an einer Stelle zwischen den Wurzeln das Moos ab. Nun erst sah ich, dass ein Stein darunter verborgen war. Er hob ihn, unter der Last stöhnend, hoch und rollte ihn mühsam zur Seite. Dann beugte er sich in das Loch darunter.

      Jetzt hörte ich eine Quelle leise vor sich hin murmeln. Nie zuvor hatte ich diese Quelle entdeckt, obwohl ich doch schon, oft stundenlang, unter der Eiche gelegen und meinen Träumen nachgehangen hatte. Angst und Vorsicht waren wie weggeblasen. Die Neugierde siegte und ich sprang dem Jungen aus meinem sicheren Versteck geradewegs vor die Füße. Er wurde bleich vor Schrecken und fragte mich entgeistert:

      „ Wo, wo kommst du denn her?“

      „ Aus dem Baum, dort oben“, antwortete ich wie selbstverständlich: „ Aber, was hast du denn hier zu suchen? Und wer bist du überhaupt?“

      „ Erstens geht dich das gar nichts an und zweitens heiße ich Mordekai.“

      „ Oh, doch, Mordekai“, erwiderte ich nun schon etwas selbstbewusster, „das geht mich eine ganze Menge an. Ich bin nämlich Miranda, die Tochter des neuen Besitzers dieses Landstücks.“

      Mordekai war plötzlich völlig verstört, er zitterte am ganzen Körper und das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Ich sah ihn tröstend an und nickte ihm ermutigend zu. Nachdem er sich gefasst hatte, stotterte er:

      „ Bitte, Miranda ! Bitte erzähle niemandem, etwas von unserem Treffen und auch nicht von dieser Stelle!

      Ich sah ihn befremdet an: „ Gibt es denn etwas, das keiner erfahren soll? Hast du etwas zu verbergen? Hast du etwas Unrechtes getan? Wirst du womöglich von der Polizei gesucht!“

      Meine Stimmlage steigerte sich immer mehr und ich überschlug mich fast in meinen Worten.

      Mordekai lachte mir ins Gesicht: „ Ich habe nichts getan, was dich zu beunruhigen braucht. Ich habe noch nie etwas Unrechtes getan und bin auch noch nie von der Polizei gesucht worden Von daher hast du wirklich nichts zu befürchten...“

      „Nun“, erwiderte ich etwas beleidigt, denn sein lautes Lachen hatte mich verunsichert: „nun, wenn das so ist, dann hast du ja auch sicherlich nichts dagegen, wenn ich meinem Vater von dir und deinem Fund erzähle!“

      Ich drehte mich um, und wollte schon davoneilen, da hielt er mich am Saum meines Kleides fest.

      „ Ehe du wegrennst und großes Unglück über uns alle, über dich und deine Familie bringst, hörst du dir erst meine Geschichte an. Wenn ich sie dir erzählt habe, kannst du allein entscheiden, ob sie für alle Zeiten unser Geheimnis bleiben soll, oder nicht!“

      Mordekai hatte mich dabei so eindringlich angesehen, dass mein Groll ebenso schnell verschwand, wie er gekommen war. Das strahlende Blau seiner Augen war aschfahl geworden und hatte mir Angst gemacht. Also setzte ich mich wieder unter den Baum, direkt neben die Quelle ins Gras.

      Mordekai ging einige Male auf und ab, wohl darauf bedacht, dass ich der Quelle nicht zu nahe komme. Warum, das wirst du noch erfahren.

      Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, suchte er nach den richtigen Worten, mit denen er seine Erzählung beginnen lassen könne. Dann endlich sah er mir in die Augen und er begann, erst zögernd und stockend:

      „ Vor einer langen Ewigkeit, kam ich mit meinen Brüdern hier an diesem Baum vorbei. Wir waren auf der Jagd gewesen und ritten nun müde, erschöpft und mutlos nach Hause, denn der Erfolg bei der Pirsch war uns versagt geblieben. Mein ältester Bruder, Magnus, ritt an der Spitze unseres kleinen Trupps. Er war es auch der die Quelle zuerst entdeckte. Er sprang vom Pferd, lief zum Wasser, kostete davon und rief uns zu: „ Kommt her und trinkt! Das Wasser ist nach einem solch anstrengenden und traurigen Tag eine rechte Erfrischung.“

      Mesop, Mantys und ich stiegen ebenfalls von den Pferden. Ermattet und erschlagen gingen auch wir zu der Quelle, legten uns ins Gras und tranken in langen Zügen von dem frischen und kühlen Nass. Als wir genug getrunken, uns erfrischt und ausgeruht hatten, setzten wir unseren Heimweg fort.

      Der Vater stand schon unter der Tür vor der Hütte und war sehr erbost, dass wir schon wieder mit leeren Händen ankamen. Am nächsten Tag ritt er mit zur Jagd aus, und seit langer Zeit hatten wir wieder einmal Glück und konnten mit reicher Beute heimwärts ziehen. Auf dem Rückweg rasteten wir wieder an der Quelle und tranken davon. So ging es Tag um Tag und Jahr um Jahr.

      Die Mutter war die erste, der es auffiel. Die Zeit ging an ihr nicht vorüber. Sie wurde immer älter, während wir anderen kaum zu altern schienen. Zunächst nahmen wir keine Notiz davon. Aber mit der Zeit bemerkten wir doch die Veränderungen. Unsere Nachbarn und Freunde wurden älter und älter. Wir jedoch nicht. Vorderhand beneideten sie uns darum und führten es auf unsere einfache und ärmliche Lebensweise zurück. Doch bald änderten sie ihr Verhalten uns gegenüber. Sie bedachten uns mit feindlichen Blicken und schränkten den Umgang mit uns mehr und mehr ein. Zum Schluss vertrieben sie uns aus unserem Haus, zündeten es an und hetzten ihre Hunde auf uns. Wir konnten nur mit knapper Not entkommen und mussten uns lange Zeit versteckt halten, glaubten doch alle, wir hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und unsere Seele unserer Unsterblichkeit geopfert. Kein vernünftiges Wort war mehr möglich. Sie stellten uns nach und jagten uns, wie gefährliche Tiere.“

      Hier unterbrach ich Mordekai: „ Sag mir doch, was mit eurer Mutter geschah!“

      Mordekai sah mich mit einem langen traurigen Blick an:

      „ Sie hielt natürlich nichts von den Hassreden der Freunde und Nachbarn und stand bis zum Ende fest zu uns. Aber letztlich starb sie ganz einfach in den Armen des Vaters.“

      „ Oh“, flüsterte ich betroffen und fügte nach einer Weile hinzu: „ Aber habt ihr der Mutter denn nichts von dem Wasser der Quelle gegeben?“

      „ Hör zu!“, sagte er und sah mich dabei durchdringend an:,

      „ unterbrich mich nicht und du wirst schon verstehen.

      Kurz bevor uns die Anlieger von unserem Grund und Boden verjagten, es war gerade die Zeit der beginnenden Herbststürme, hatte mein Bruder Mesop ein schreckliches Traumgesicht. Gerade als der Sturm am Schlimmsten um die Hütte tobte, erwachte er schweißnass, sprang aus dem Bett und rief mit angsterfüllter Stimme nach der Mutter. Die hatte noch am Feuer gesessen und bei dem spärlichen Schein Strümpfe gestopft. Sie eilte zu ihm, nahm ihn in den Arm, tröstete und beruhigte ihn. Dann fragte sie: „ Nun, mein Sohn, was hat dich so zu Tode geängstigt?“

      Mesop antwortete, noch ganz unter dem Eindruck des Alptraum stehend, völlig verängstigt:

      „ Mutter, ich hatte einen schrecklichen Traum. -

      Du kennst doch die Quelle, aus der wir jedes Mal trinken, wenn wir von der Jagd kommen.

      Im Traum nun, saß ich eines Tages in der alten Eiche, die mit ihren knorrigen und bizarren Ästen über der Quelle steht, so als wolle sie sie vor unerwünschten Eindringlingen schützen. Ich saß also in ihren Zweigen und wartete auf die Rückkehr des Vaters und der Brüder, als ich direkt neben der Wasserstelle zwei Trolle sitzen sah, die sich gegenseitig von ihren Streichen erzählten, die sie den Menschen spielten.