Stefan Lange

Suicide


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zu werden.

      Es war abends gegen sieben Uhr, als ich den Atocha-Bahnhof betrat. Bis zur Abfahrt des Zuges blieben mir noch zwei Stunden. Ich hätte auch einen Direktflug von Frankfurt nach Sevilla buchen können, aber ich flog nur bis Madrid, einzig um in den Genuß einer Zugfahrt mit dem neuen Hochgeschwindigkeitszug AVE, dem Pendant zum französischen TGV, zu kommen.

      Ich ging hinaus auf den Bahnsteig und schaute mir diese schönen Expreßzüge schon einmal an. Ich streichelte vorsichtig die blauweiße Außenhaut. Ich liebte Züge. Seit meiner frühesten Kindheit übten Züge eine besondere Faszination auf mich aus. Ein Besuch bei meinen Großeltern, die in Süddeutschland gelebt hatten, war für mich die reinste Freude gewesen. Hinter dem Garten verlief eine Eisenbahnstrecke. Die erste Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, war, zum Bahnhof zu laufen, um den Fahrplan der Züge zu notieren. Immer, wenn ein Zug vorbeigerauscht ist, lief ich zum Bahndamm hoch und hatte ihm sehnsüchtig nachgeschaut. Ich wollte keinen Zug verpassen. Ich war richtig vernarrt in die Eisenbahn, weil sie ein Fortbewegungsmittel war. Züge symbolisierten für mich das Wegfahren. In meinen Phantasiereisen, die ich mit ihnen unternommen hatte, versuchte ich, dem Gebrüll und dem Jähzorn meines Vaters zu entkommen. Seit jeher war ich ein Reisender gewesen, auf der Suche nach einem Ort, an dem es Liebe und Geborgenheit gab.

      Kurz vor Mitternacht erreichte der AVE Sevilla. Dieser Zug fuhr eigentlich nicht ein, sondern er schwebte mit kaum spürbarer Verzögerung ein, ganz dem Anlaß angemessen. Fast andächtig betrat ich den Bahnsteig und als ich die großen Lettern Estación de Santa Justa erblickte, überkam mich ein seliges Gefühl. Endlich angekommen!

      Wenig später setzte mich das Taxi vor einem alten sevillanischen Bürgerhaus, der schuleigenen Residenz, in der Calle Sor Angela de la Cruz ab. Nachdem ich die Formalitäten erledigt hatte, half mir der Nachtportier, mein schweres Gepäck die steilen Stufen heraufzuwuchten. Meine Unterkunft befand sich als einziges Zimmer neben der Küche auf der Dachterrasse, die anderen lagen in den beiden Etagen darunter. Das Zimmer war einfach ausgestattet und verfügte über eine eigene Dusche und Toilette, einen Luxus, den ich mir für den längeren Aufenthalt gönnte. Erschöpft von der Reise und der Gepäckschlepperei, legte ich mich schlafen.

      Ostermontag, 4. April 1994

      Etwas verschlafen schälte ich mich am frühen Morgen aus dem Bett. Der Gedanke, daß mein Unterricht an einem Feiertag begann, wo sie zu Hause wahrscheinlich noch in ihren Federn lagen, erfüllte mich nicht gerade mit Frohsinn. In Spanien war Ostermontag ein regulärer Werktag. Ich trat auf die riesige Dachterrasse hinaus und schaute mich um. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont. Es ­versprach ein sonniger Tag zu werden. Bereits um diese ­Uhrzeit war es wärmer als bei meiner Abreise aus Deutschland.

      Von der Terrasse aus genoß ich einen freien Blick auf die Stadt. Über einem Gewimmel aus Fernsehantennen thronte der fast einhundert Meter hohe Turm der Giralda, einst maurisches Minarett und nun Glockenturm der Kathedrale. Nach Westen konnte ich den Panoramaturm des ehemaligen Expogeländes erkennen.

      Da ich noch keine Lebensmittel eingekauft hatte, beschloß ich, früher von der Residenz wegzugehen und in einer Bar zu frühstücken. Der Unterricht sollte erst um halb zehn beginnen. Den Weg fand ich spielend, da ich ihn schon zuvor im Geiste mit Hilfe des von der Schule zugesandten Informationsmaterials zurückgelegt hatte. Die Residenz befand sich im Stadtteil Centro und die Schule in einer Seitenstraße der Alameda, der einstigen Flaniermeile Sevillas. Das bedeutete einen etwa zehnminütigen Fußmarsch.

      Daß Sevilla die schönste Stadt Spaniens sein sollte, konnte man von dieser Ecke nicht unbedingt behaupten. Die Häuser der Umgebung wirkten alt und teilweise baufällig. An einigen bröckelte der Putz von den Wänden. Den Charme vergangener Zeiten konnte man nur erahnen. Ich kreuzte die Alameda und fand direkt an der Einbiegung, an der sich unsere Schule befand, eine kleine Bar. Beim Betreten drang mir der Duft von Milchkaffee und Schinken in die Nase. Die Luft war geschwängert vom Rauch starker Ducados-Zigaretten. Die Kaffeemaschine entfachte einen Höllenlärm beim Aufschäumen der Milch. In einer Ecke lief der Fernseher. Draußen tranken Sevillanos auf dem Weg zur Arbeit ihren cortado im Stehen. Der Lärm in der Bar, die Gerüche und das ganze Szenario drumherum vermittelten mir erst den Eindruck, wirklich in Spanien angekommen zu sein. Ich genoß meinen Milchkaffee bevor ich mich auf den Weg zum Unterricht machte.

      Die Schule befand sich ebenfalls in einem schön renovierten Bürgerhaus, ähnlich der Residenz. Zunächst mußte ich die Formalitäten erledigen, bevor mir ein Klassenraum zugewiesen wurde. Die erste Unterrichtsstunde galt dem gegenseitigen Kennenlernen. Zu meiner Überraschung bestand der Kurs lediglich aus vier Schülern: James, einem jungen Texaner, und Maurice, einem Franzosen, beide hatten die Schule bereits seit einigen Wochen besucht, dann gab es noch Philippe, einen aus Genf stammenden Schweizer, und mich. Juan, frischgebackener Absolvent der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Sevilla, war verantwortlich, uns in der Landessprache Mikro- und Makroökonomie schmackhaft zu machen. Er erläuterte uns den Aufbau und die Ziele des Unterrichts. Als wir uns dann an die Bearbeitung eines Textes aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung El País machten, beschlichen mich erste Zweifel, ob ich die Prüfung bestehen könnte. Für diesen Kurs waren Oberstufenkenntnisse der spanischen Sprache Voraussetzung. Bestenfalls reichte mein Wissen aber für die Mittelstufe aus. Ich galt als sehr sprachbegabt, was das Imitieren der Aussprache betraf, mußte mir aber das Vokabular und die Grammatik mühsam aneignen. Mit dem exzessiven Gebrauch des Konjunktivs hatte ich so meine Mühen, und es gab noch andere grammatikalische Raffinessen, die meine ganze Aufmerksamkeit erfordern würden. Mein Eindruck nach dem ersten Schultag war, daß meine Klassenkameraden über ein wesentlich höheres Niveau verfügten, da sie sich gewandter ausdrücken konnten.

      Als ich vom Einkauf zurück in die Residenz kam, herrschte auf der Dachterrasse und in der Küche reges Treiben. Gruppen von Schülern hockten zusammen oder kochten gemeinsam ihr Mittagessen.

      Bereits an diesem Nachmittag machte ich die Bekanntschaft mit den Menschen, die mich für die nächste Zeit begleiten sollten. Zuerst lernte ich Nastassia und ihre Zimmergenossin Janet kennen. Beide waren Holländerinnen, obwohl Nastassia mit ihren schwarzen Locken und dem dunklen Teint auch als reinrassige Spanierin durchgegangen wäre. Sie war die Tochter einer Andalusierin und eines Niederländers. Auch sie waren erst tags zuvor in der Residenz eingetroffen. Sie luden mich ein, mit ihnen zu essen und wir verplauderten den Nachmittag. Später lernte ich Georg kennen, einen deutschen Medizinstudenten, der mir gleich durch sein lautes Lachen aufgefallen war. Georg war ein drahtiger, gutaussehender Kerl, der etwas Lausbubenhaftes an sich hatte. Ich erkannte an dem rollend gesprochenen ›R‹, daß er Bayer war. Am späteren Nachmittag, während ich ausgiebig die Sonne auf der Terrasse genoß, lernte ich noch Brian aus London und Andrew aus Philadelphia sowie Siri, eine strohblonde Dänin, kennen. Sie besuchten die Sprachschule seit einigen Wochen, und fast alle blieben bis Ende Mai oder Juni in Sevilla, was insofern angenehm war, als daß man doch ein paar vertraute Gesichter in der Atmosphäre des häufigen Wechsels kannte. Wir fragten uns nach dem Grund des Aufenthaltes in Spanien, und so bot sich allerhand Gesprächsstoff.

      April – Mai 1994

      Franziska lernte ich in der ersten Woche kennen. Ich traf sie in der Bar an der Alameda, wo ich am ersten Schultag mein Frühstück eingenommen hatte. Dorthin gingen viele Schüler in der Pause oder nach dem Unterricht, um sich bei einem Kaffee zu sonnen oder zu plaudern. Franziska saß zufällig an meinem Tisch und beschwerte sich über das Niveau ihres Kurses. Für den dreiwöchigen Aufenthalt war ihr das stupide Wiederholen der Grammatik nicht ausreichend genug. Als Franziska erfuhr, daß ich einen Wirtschaftsspanischkurs besuchte, regte sich ihr Interesse und so erweiterte sich tags darauf unsere Gruppe um eine Schülerin. Franziska, eine in der Schweiz geborene Deutsche, studierte Wirtschaftspolitik in Wien. Sie war eine attraktive Erscheinung und obwohl wir heftig flirteten, hatte ich kein körperliches Interesse an ihr. Über unsere Bekanntschaft legte sich schnell eine seltsame Intimität. Wir verstanden uns, ohne viele Worte zu verlieren, egal über welches Thema wir miteinander sprachen. Wir lernten gemeinsam oder stürzten uns mit den anderen in das sevillanische Nachtleben, das selten vor zehn Uhr abends erwachte.

      Ausgangspunkt der meisten Streifzüge war die Bar sopa de ganso, in der man