Stefan Lange

Suicide


Скачать книгу

prallte der Ball von der Hauswand des angrenzenden Gebäudes ab und hüpfte über die Balustrade zwei Stockwerke tiefer in den Innenhof. Während sich Georg aufmachte, den Ball zurückzuholen, nutzte ich die Gelegenheit, mich neben Susanne auf die Bank zu setzen.

      »Kann man bei dir überhaupt auf einen positiven Kontostand kommen?« fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich schaute Susanne verdutzt an und wunderte mich, daß sie sich noch an die blödsinnige Kontostandsnummer vom Mittag erinnern konnte.

      »Ja, das ist möglich. Aber dafür mußt du dich schon ein wenig anstrengen.«

      Susanne drehte den Kopf zur Seite und blinzelte mich an. Sie hatte Grübchen, wenn ein Lächeln ihren Mund umspielte. Ich war wie verzaubert. Meinen ersten Eindruck vom Vormittag mußte ich revidieren. Selten hatte ich ein so strahlendes und wunderbares Geschöpf gesehen. Sie hatte grüne Augen. Wir tauschten Informationen über die Herkunft und anderes Wissenswertes aus. Susanne trank Weißwein und aß dazu Oliven. Als sie mir eine Olive anbot, belohnte ich Susanne mit einem Pluspunkt. Sie dankte es mir mit einem zufriedenen Lächeln. Wir redeten über allerhand Belanglosigkeiten, aber ich hörte ihr gar nicht richtig zu. Susanne hatte mich längst in ihren Bann gezogen. Unsere Gesten und Blicke tauschten Botschaften aus, die nur für uns bestimmt waren. Es war nicht nur harmloses Geplauder, denn das, was tiefer in meine Bewußtseinsebene eindrang, waren Fragen, die ich Susanne stellte: Ist es schön, mit dir zusammen zu sein, bist du jemand, der mich aus meiner Isolation retten kann? Stillschweigend erhielt ich Antworten darauf. Viele solcher Fragen schoß ich in ihre Richtung ab, während wir heftig miteinander flirteten. Über uns legte sich ein Hauch von Vertrautheit.

      Janet kam auf die Dachterrasse. Ausgerechnet jetzt! Ich hatte ihr versprochen, sie mit Nastassia zum Bahnhof zu begleiten. Eigentlich hätte Janet bereits seit zwei Tagen in Holland sein müssen, doch ein Dieb hatte ihr die gesamte Barschaft gestohlen, weswegen sich Janets Abreise verzögert hatte. Ich verfluchte den Dieb. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Versprechen einzulösen. Widerwillig ließ ich Susanne alleine.

      Die Abfahrt des Zuges verzögerte sich. Ich war seltsam aufgewühlt und nervös. Diese Unruhe ließ mich nicht los. Ich war mir sicher, daß noch etwas anderes dahinter steckte, was aber nicht deutlich genug an die Oberfläche gelangte. War es Angst? Einige Male war ich dem Problem begegnet, daß ich meine Stabilität verlor, wenn mich jemand faszinierte. Ich wußte nur, daß es mich zu Susanne zurückzog, eine Macht, die niederzukämpfen sinnlos gewesen wäre. Während Nastassia vorschlug, einen gemütlichen Bummel vom Bahnhof zur Residenz zu machen, bestand ich auf einem Taxi. Ich durfte keine Zeit verlieren.

      Als ich wieder auf der Dachterrasse erschien, saß niemand mehr auf den Bänken. Ich traf Susanne in der Küche beim Abwaschen.

      »Heute schon was vor? Ich könnte dir Sevilla bei Nacht zeigen.« Sie musterte mich.

      »Nein danke. Ich bin müde und außerdem muß ich noch Aufgaben erledigen.«

      Ich ließ mir die Enttäuschung nicht anmerken und verabschiedete mich. Ich versuchte in meinem stickigen Zimmer einige Hausaufgaben zu erledigen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Das lag aber nicht an der angestauten Wärme. Ich hatte nur Susanne vor Augen, ihre Blicke, ihr Lächeln. Nach einer Stunde gab ich entnervt auf. Ich wollte zur Küche gehen, um etwas zu trinken. Durch die Glaspyramide, die als Lichthof für das Treppenhaus diente, drang ein heller Schein aus einem geöffneten Zimmer hinaus auf die Balustrade. Susanne bewohnte das Zimmer Nummer sechsundzwanzig. Es war ihr Zimmer. Ich vernahm Georgs Stimme, der mit Dolores, seiner Freundin, am Geländer in der zweiten Etage stand. Er bewohnte das Zimmer nebenan. Eine gute Gelegenheit, mich in ein Gespräch einzumischen, und einen Vorwand zu haben, zufällig vor Susannes Zimmer herumzulungern. Ich gesellte mich zu den beiden und lugte durch die halbgeöffnete Tür in Susannes Unterkunft. Sie stand leer. Kurz darauf kam Susanne von der Etagentoilette zurück. Leichtfertigerweise stelle ich sie Dolores als meine zukünftige Freundin vor. Ich redete auf spanisch, und Susanne, die noch keine Sprachkenntnisse hatte, wußte nicht genau, worum es ging, sie ahnte aber, daß ich über sie sprach. Kurz darauf zogen sich Georg und Dolores zurück. Nervös und unbeholfen stand ich vor Susanne. Was sollte ich ihr sagen? Ich wollte nicht, daß sie ging. Ich haßte dieses Herumgerede um den heißen Brei. Da war es wieder, dieses mulmige Gefühl, wenn jemand mein Interesse auf sich zog. Ich lud Susanne einfach zu meiner spätabendlichen Philosophiestunde ein. So nannte ich die Zeit, die ich nachts unter klarem Sternenhimmel bei einer Zigarette auf der Dachterrasse verbrachte, während ich allein über alles Mögliche sinnierte.

      »Mal schau’n«, war ihre knappe Antwort.

      Das genügte mir, zumindest hatte ich mir eine realistische Chance bewahrt. Mühsam erledigte ich die wichtigsten Hausaufgaben für den nächsten Tag. Später setzte ich mich dann auf die Terrasse und wartete. Ich hörte Susannes Stimme. Sie saß mit den beiden Frauen vom Nachmittag im Innenhof und plauderte angeregt mit ihnen. Als gegen Mitternacht die Unterhaltung verstummte, lauschte ich gespannt. Schließlich erschien Susanne auf der Dachterrasse. Mein Herz tat einen Luftsprung vor Freude, aber ich versuchte, ruhig und abgeklärt zu wirken. Wir redeten über das Sprachenlernen und andere Kulturen und Gebräuche. Ich referierte über meine Erfahrungen aus Japan und wußte einige witzige Anekdoten zu erzählen. Dachte ich, mit Japan einen besonderen Aufhänger zu haben, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Susanne berichtete von längeren Reisen durch Thailand, Indonesien, Indien und Nepal, Länder, in denen sie teilweise über Monate gelebt hatte. Dies erlaubte ihr eine spezielle Vereinbarung, die Susanne mit ihrem Arbeitgeber getroffen hatte. Ich bewunderte so viel Mut und Abenteuerlust aber gleichzeitig machte es mich auch stutzig. Ich hatte einmal vom Reisefieber gelesen, das in einen Reisezwang ausartete. Den konnte ich bei mir selbst feststellen. Oft hatte ich den Eindruck, aus dem Alltäglichen und Gewohnten ausbrechen zu müssen. Vielleicht war Sevilla, obwohl ein Wunschaufenthalt, auch ein Weg, dem Bewerbungsdruck und der Realität ein Stück weit zu entkommen. Ich fragte Susanne, wovor sie eigentlich weglaufe. Verwundert zog Susanne die Augenbrauen hoch und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Diese Frage schien sie ernsthaft zu beschäftigen und erst nach einer Weile kam ein kleinlautes »ich weiß nicht« hervor. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Ich wechselte das Thema, aber irgend etwas Bedrohliches schien das Wort weglaufen bei Susanne ausgelöst zu haben.

      Kurz vor eins verabschiedete sie sich, nicht ohne eine Verabredung für den folgenden Abend mit mir getroffen zu haben. Ich schlug zehn vor zehn vor, weil es mir gerade so in den Sinn gekommen war. Ich blieb noch eine Weile unter dem Sternenhimmel sitzen und dachte über Susanne nach. Was war das für ein Mensch, der solche Empfindungen in mir auslöste, und welches Geheimnis barg er in sich? Ein interessanter Fall, der meine Neugierde auf sie steigerte.

      Dienstag, 3. Mai 1994

      Heute morgen sah ich Susanne nur kurz während der Pause. Ich erinnerte sie an unsere Verabredung. Susanne lächelte hintergründig. Brian fragte mich nach dem Unterrichtsschluß, ob wir nicht am Abend ausgehen sollten. Als ich ihm sagte, daß ich bereits verabredet war, entfuhr ihm ein langgezogenes »hey tío«.

      Ich war gutgelaunt und erledigte meine Aufgaben am Nachmittag. Es gab viel nachzuholen, aber ich war erstaunt, welches Pensum ich bis zum Abend absolviert hatte.

      Gegen neun Uhr machte ich mich für den Ausgang zurecht. Ich duschte ausgiebig und rasierte mich gründlich. Eitel war ich schon, wenn es darum ging, einen guten Eindruck beim anderen Geschlecht zu hinterlassen. Pünktlich um zehn vor zehn stand ich geschniegelt und gestriegelt vor Susannes Zimmertür. Mein Herz schlug schneller als sonst. Ich klopfte vorsichtig, aber nichts rührte sich. Kein Lichtschimmer drang unter der Zimmertür hervor. Ob Susanne wohl schlief? Ich klopfte erneut.

      »Susanne?«

      Hatte sie unsere Verabredung vergessen und war bereits ausgegangen? Deutlich spürte ich eine Enttäuschung in mir hochkriechen. Resigniert stieg ich die Treppen herab. Möglich, daß Susanne ja doch kein näheres Interesse an mir hatte. Ich verfluchte meine Einbildungskraft. Ich wollte gerade die große schmiedeeiserne Türe aufziehen, als ich hinter mir ihre Stimme hörte.

      »Hey, Stefan, warte mal schnell!«

      Susanne führte ein Telefongespräch am Apparat in der Eingangshalle. Wie ein