Stefan Lange

Suicide


Скачать книгу

hatte Lust auf körperliche Nähe.

      »Hast Du Lust, mit mir zu schlafen?«

      Die Frage schlug wie eine Granate in die traute Zweisamkeit ein. Sicher machte ihr verführerischer Körper Lust auf mehr, aber mit diesem Tempo hatte ich nicht gerechnet. Ich war ein wenig überrascht, daß Susanne diese Frage stellte. Normalerweise war ich es gewohnt, das Spiel zu dominieren. Leise Zweifel beschlichen mich. Dachte sie überhaupt an ihren Freund? Das ganze Szenario hatte etwas Unmoralisches an sich. Vielleicht sollte ich erst später mit Susanne schlafen, wenn ich sie näher kannte.

      Ich willigte ein. Obwohl wir beide sehr erregt waren, klappte es nicht. Seltsamerweise belastete es mich nicht sonderlich, und Susanne gab mir auf eine behutsame Art und Weise zu verstehen, daß ich mich nicht als Versager zu fühlen brauchte. Ich dankte es ihr.

      Susanne erkundigte sich, wann ich das letzte Mal guten Sex genossen hatte. Ich mußte lange in meinen Erinnerungen kramen. Es war Jahre her, was sie mir nicht so recht glauben mochte. Nun, ein erfülltes Liebesleben, in dem zwei Menschen wie gleichberechtigte Partner dastehen, hatte ich noch nicht kennengelernt. Es war immer ein Spiel für mich, in dem es um Beherrschbarkeit ging, aber sich so richtig gehen lassen, das war mir noch nie passiert.

      Ich erkundigte mich, wann Susanne den Wunsch verspürt hatte, mir nahe sein zu wollen. Es war, ähnlich wie bei mir, die erste Begegnung, die dieses Verlangen ausgelöst hatte. Empfanden wir gleich?

      Nachdenklich schlief ich in meinem Zimmer ein, nachdem sich Susanne verabschiedet hatte.

      Freitag, 6. Mai 1994

      Den ganzen Tag hindurch begleiteten mich Zweifel. Wer war sie, was wollte sie von mir, wenn sie bereits in einer Beziehung lebte, und was erwartete ich von ihr?

      Ich sah Susanne erst am späten Nachmittag. Ich begegnete ihr auf der Sor Angela de la Cruz, als ich in Richtung Hauptstraße zum Kiosk lief. Susanne lächelte schon von weitem. Ein wenig verlegen wegen der letzten Nacht, war ich schon. Susanne bemerkte meine Unsicherheit, hob ihre Sonnenbrille, küßte mich auf die Nase und sagte: »Es ist doch nicht so schlimm, dann versuchen wir es heute nacht eben noch einmal.«

      Es klang, als sei es das Normalste der Welt, ohne jede Komplikation. Was für ein Mensch. Susanne schien heiter und lebensfroh zu sein, ein Kind der Sonne.

      Abends lösten wir uns früh von der Gruppe. Susanne bewohnte in der Residenz ein Doppelzimmer für sich alleine, und so zog ich kurzerhand bei ihr ein. Wir legten einfach die Matratzen nebeneinander auf den Boden und schufen dadurch eine große Spielwiese. Wir stimmten uns ein, küßten, streichelten und umarmten uns.

      Plötzlich ließ Susanne von mir ab.

      »Stefan, was ist denn mit dir los?«

      Ich begriff nicht, was sie meinte. Ich mußte ziemlich verwundert drein geschaut haben.

      »Ich spüre einen Widerstand gegen mich«, sagte sie mit ernster Stimme.

      »Ich verstehe nicht, was du meinst, ehrlich.«

      »Doch, ich spüre es ganz deutlich, sag mir, was du hast!«

      Hatte sie meine Unsicherheit bemerkt? Wie konnte das sein? Ich war ein Meister des Schauspiels und in der Lage, mich gut in Gegenwart anderer zu verstellen. Nie würde ein Außenstehender bemerken, was in mir vorging, wenn ich es nicht wollte. Ich hatte lediglich ein wenig an Susanne gezweifelt, wie konnte sie derart feine Schwingungen spüren?

      Ich fühlte mich ertappt und hatte den Eindruck, sie wisse mehr als ich, so als habe sie mit einer Art Röntgenblick in mein Inneres geschaut. Die Beklemmung, die ich anfangs spürte, steigerte sich zur Angst, der ich allein und hilflos gegenüberstand. Mittlerweile hatte sich Susanne aufgerichtet und schaute mich an. Nie zuvor hatte mich jemand mit so einem Blick förmlich durchbohrt.

      »Sag es mir bitte, Stefan, was ist mit dir los?«

      Was sollte ich Susanne sagen? Sie wartete auf eine plausible Antwort, ein Verharmlosen oder Beschwichtigen war unmöglich geworden. Susanne hatte mich in die Enge getrieben. Die seit Tagen empfundenen widersprüchlichen Gefühle drängten nach oben. Es war etwas, was in grauer Vorzeit lag, ein Schmerz über nie Gehabtes, etwas, was unwiederbringlich verlorengegangen war. Ich wollte die Erinnerung an das Leid nicht wecken, hatte ich es doch so mühevoll in mir vergraben. Auf der anderen Seite regte sich der Wunsch, mich Susanne hinzugeben, mich fallenzulassen. Erinnerungen wurden wachgerufen, Geborgenheit, Nähe und Wärme zu spüren, wie die lebenslange Spur eines Kindheitstraumes, die zum Trauma wurde. Diese Gefühlszustände waren in ihrer Tiefe nie von mir gelebt worden. Sie hämmerten jetzt von innen gegen die Mauer, hinter der ich sie eingeschlossen hatte. Dieser Zwiespalt drohte mich zu zerreißen.

      Am liebsten wäre ich aufgestanden, hätte fluchtartig das Weite gesucht und mich heulend in meinem Zimmer eingesperrt, mit einem Schild an der Tür: »Vorsicht, verletzte Seele!«

      Susanne war mir jetzt sehr nahe gekommen, und ich hätte sie bitten sollen, von mir abzulassen. Ich hatte Angst vor Nähe, auch im Denken. Noch könnte ich aufstehen und gehen. Gab es einen Grund, hier und jetzt meine Karten offen auf den Tisch zu legen und Susanne tiefere Einblicke in mein Innerstes zu geben, ihr meine Achillesferse zu präsentieren?

      »Wovor hast du Angst?«

      Diese Frage knallte wie ein Peitschenschlag in meine aufgewühlten Gefühle. Sie traf mich so hart, daß es mir fast die Luft zum Atmen raubte, aber Susannes Gegenwart strahlte ein Vertrauen aus, dem ich nicht widerstehen konnte.

      Susanne legte den Arm um meine Schulter und schaute mich dabei an. Durch diese einfache und weiche Berührung schien Energie in meinen Körper zu fließen. Langsam wurde ich gefaßter und ruhiger. Ich wußte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab.

      Dennoch spürte ich eine Hemmung in mir, eine Grenze, an die ich früher oft gestoßen war. Mir wurde schlagartig bewußt, daß ich jetzt, wenn ich weiterginge, einen anderen Raum betreten würde, emotionales Neuland, das ich nie zuvor durchschritten hatte. Ich war von dieser tiefen Einsicht total verwirrt. Obwohl Susanne und ich uns erst seit vier Tagen kannten, wurde in mir das Verlangen geboren, ihr blind zu vertrauen.

      Ich hatte meinen Lebenslauf in mir gespeichert, den ich, je nach Situation, gefiltert oder geschönt abspulen konnte. Was sollte ich Susanne von mir preisgeben? Wie könnte ich ihr in wenigen prägnanten Worten mein ganzes Leben zusammenfassen, so, daß diese Unsicherheit und Angst für sie nachvollziehbar würde? Ich hatte nicht die Absicht, sie mit meinem Seelenleben zu überfrachten.

      »Ich weiß es nicht, es ist …«, begann ich mühsam.

      Ich brauchte eine gewisse Zeit, um einen klaren Gedanken durch den Gefühlsbrei hindurchzubringen. Hätte ich mich nicht gezwungen zu reden, hätte ich wahrscheinlich geweint.

      Ich begann mit den Ausführungen und Theorien, die ich bereits Franziska vorgetragen hatte. Wer würde mich akzeptieren, wenn ich schon Mühe hatte, mich selbst zu akzeptieren? Ich berichtete ein wenig ausführlicher von mir und der Vergangenheit und verband damit die leise Hoffnung, daß sich Susanne von mir abwenden würde.

      Ich gestand ihr, daß sie mich magisch anzog und daß ich vor dieser Kraft Angst hatte, Angst, die Kontrolle zu verlieren. Zudem war sie gebunden, sie hatte einen Freund und ich wußte nicht, was aus uns werden sollte. Der Punkt, an dem unsere Beziehung eine harmlose Sommerliebe für mich darstellte, war längst überschritten.

      Im Grunde genommen wollte ich nicht schon wieder etwas verlieren, was gerade erst begonnen hatte, denn zu oft hatte ich in meinem Leben verloren. Dieses Gefühl, der Zweite zu sein, oder treffender, zweitrangig, verfolgte mich seit meiner Kindheit.

      Mein Bruder war der Erstgeborene in der Familie. Ihm galt die ganze Aufmerksamkeit und der Stolz meines Vaters, was in mir tiefe Neidgefühle gegenüber meinem Bruder auslöste. Mein Vater brachte ihm vieles bei, während meine Neugierde im Keim erstickt wurde. Ich wurde immer nur abgewiesen. »Würstchen« war der Lieblingsausdruck meines Vaters. Er war extrem jähzornig und aggressiv. Wie oft hatte er mich und meinen Bruder grundlos geschlagen. Dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn mir klar wurde, daß es keinen Sinn