Stefan Lange

Suicide


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sie dazwischen gegangen wäre, hätte sie kaum eine Chance gehabt.

      Bis heute verfolgte mich der Traum, in dem ich meinem Vater plötzlich ebenbürtig war und ihm mit meinen eigenen Händen die Fresse einschlug, bis er blutüberströmt zusammenbrach. Dann beugte ich mich über ihn und sagte, er solle mich nie wieder anrühren, denn beim nächsten Mal würde ich ihn töten.

      Jahrelang kämpfte ich verzweifelt bei meiner Mutter um die Anerkennung, daß ich als Kind unsägliche Zurückweisungen und Qualen erlitten hatte, eine Anerkennung, die mir bis heute verweigert wurde. Die Gefühle meiner Kindheit waren Angst, Haß und Kälte. Noch Jahre später war ich nicht in der Lage, positive Gefühle in mir zu finden, weil mich nie ein Mensch auf einer tieferen Ebene berührt hatte. Meine Sehnsucht nach Geborgenheit hatte ich durch Selbstmitleid oder mit Drogen- und Alkoholexzessen gestillt.

      Meine Lage besserte sich erst, als ich mich aus dem alten Umfeld löste und mein Studium begann. Ich lernte andere Menschen mit neuen Idealen kennen, und das übte einen positiven Einfluß auf mich aus. Obwohl ich auf dem richtigen Weg zu sein schien, tat sich frauentechnisch wenig: Zwei längere Beziehungen und danach immer nur kurze Affären ohne Tiefgang. Die letzten beiden Liebschaften, sofern man diesen Begriff überhaupt dafür verwenden konnte, waren tragisch auf ihre Art und Weise. Während ich meine Diplomarbeit schrieb, verliebte ich mich in eine Jurastudentin, Sybille, die ich im Coco Loco kennengelernt hatte. Ich freute mich, daß es mal wieder jemand in meinem Leben gab, der Interesse an mir bekundete. Als Sybille die Liaison überraschend abbrach, wurde ich extrem wütend und ausfallend ihr gegenüber. Noch heute erinnere ich mich mit Schrecken daran. Kurz darauf lernte ich Constanza kennen, als ich mich in einer Phase tiefsten Selbstmitleids befand. Sie nahm sich meiner an und kümmerte sich um mein Seelenleben. Constanza war mir sehr nahe gekommen, aber als ich ihr nahe kommen wollte, war ihr Aufenthalt in Münster zu Ende. Sie kehrte zurück nach Spanien und verschwand im Schweigen.

      Ich glaubte, daß sich alle Menschen, die mir nicht nur auf einer freundschaftlichen Ebene begegneten, sondern denen ich einen tieferen Einblick in mein Seelenleben gab, von mir abwendeten. Vielleicht war das einzige, was ich im Leben zustande brachte, Abneigung hervorzurufen. Aber es ging mir nie darum, Mitgefühl zu ernten, dafür bemitleidete ich mich schon selbst viel zu sehr, es ging mir eigentlich nur darum, anerkannt zu werden, denn in mir gab es eine ungestillte Sehnsucht nach einem Verstandenwerden und Aufgehobensein. Genau deshalb hatte ich mir eine Fassade der Undurchdringbarkeit zugelegt, damit niemand mein wahres Ich enthüllte.

      Ich flüchtete vor tieferen Gefühlen, da sie mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden waren. Das einzige, was mir wirklich helfen würde, wäre, jemandem zu begegnen, der mir einen Weg zeigte, mich selbst zu finden.

      Susanne hatte mir während der ganzen Zeit aufmerksam zugehört. Ich hätte noch weiterreden können, zog es aber vor, Susanne die größte Wunde meines Lebens vorzuenthalten, denn ich befürchtete, sie würde sich angeekelt von mir abwenden. Für einen Moment schwieg ich. Dann schaute ich Susanne direkt in die Augen und fragte sie:

      »Na, weißt du nun Bescheid? Sollte ich nicht besser gehen?«

      Ich wandte den Kopf von ihr ab und senkte das Haupt wie ein Schuldiger, der auf seine Verurteilung wartete.

      »Vertrau mir Stefan, ich werde dich nicht enttäuschen!«

      »Wie bitte?« fragte ich ungläubig.

      Sie wiederholte es mit weicher Stimme.

      Endlich hatte Susanne das erlösende Wort gesprochen, auf das ich vielleicht ein Leben lang gewartet hatte. Sie fiel mir um den Hals und umarmte mich innig. Nie bin ich so von Herzen umarmt worden.

      Meterdicke Mauern, die aus Scham, Angst und Schmerz bestanden, barsten und ließen tief vergrabene Emotionen ins Freie. Wir zogen uns an wie starke Magnetfelder und gaben uns einander hin. Ich spürte, daß ich Susanne in diesem Moment in mir aufgenommen hatte, daß wir eins wurden und sich meine Seele mit ihrer verbunden hatte. Dieses Geborgenheitsgefühl strömte wie eine Woge in die letzten Winkel meiner Seele. Ich hoffte, daß dieser Moment nie zu Ende gehen würde. Von dieser neu geschaffenen Dimension ließ ich mich ansaugen und verschlingen. Ich spürte weder Dominanz noch Unterwerfung, Kontrolle oder Grenzen. Alles war jetzt eins, ein Körper, der sich leidenschaftlich liebte. Wie ein kompliziertes Schloß hatte mich Susanne geknackt und mich ins Reich der Sinne entlassen. Ich hatte einen emotionalen Quantensprung vollzogen und in dieser Nacht einen höheren Lebenssinn begriffen.

      Nach dem gemeinsamen Höhepunkt, dessen Dimension für mich alles bis dahin erlebte gesprengt hatte, dauerte es eine Weile, bis ich die Sprache wiederfand.

      »Was war das denn?« fragte ich verwundert.

      »Ich weiß es nicht«, sagte Susanne mit bebender Stimme. Ich zog sie an mich heran und spürte ihren warmen Körper, der noch zitterte. Wir lagen schweigend nebeneinander und ich streichelte sanft ihren Hinterkopf. Als Susannes tiefe Atemzüge zeigten, daß sie eingeschlafen war, lag ich hellwach auf dem Bett, starrte an die Decke und dachte nach.

      Diese Nacht hatte etwas Kosmisches an sich. Es war mir, als hätte ich den Sinn meines Leidens und der vielen einsamen, gedankenvollen Stunden begriffen. Fast dreißig Jahre meines Lebens waren vergangen, ein mühsames Vorwärtsstreben, um hier und jetzt in dieser Offenbarung Gefühle zu finden, die seit Jahren abgespalten waren. Lange Zeit hatte es mich gequält, nur eine Hälfte in mir zu spüren, wissend, daß die andere da war, nur tief in mir vergraben, wie ein toter Zweig.

      Wenn ich als Kind diese Ohnmacht und Hilflosigkeit erlebt hatte, fragte ich mich stets, ob es nicht einen Gott gäbe, der einem beistehen könnte. Wenn ich je an die Existenz eines höheren Wesens geglaubt hatte, so war es in dieser Nacht. Nach all den Wirren meines Daseins hatte er mir ein Zeichen gesetzt und mir diese Begegnung geschenkt.

      Eigentlich wollte Susanne eine Sprachschule in Málaga besuchen, aber diese war geschlossen, so daß ihre Agentur sie nach Sevilla geschickt hatte. War das alles Zufall? Diese Kette glücklicher Umstände, die uns zusammenführte, hätte ich durch Raum und Zeit bis zum Urknall zurückspinnen können.

      Ich versuchte, die Erlebnisse dieser Nacht noch einmal verstandesmäßig zu begreifen. War das alles real oder befand ich mich lediglich in einem Film, der gleich ins Stocken geraten und durch dessen Zelluloid sich eine Flamme ihren Weg bahnen und alles in gleißendes Weiß tauchen würde?

      Ich vergewisserte mich, daß sich neben mir ein Mensch befand und nicht nur ein Phantasiegespinst. Susanne lag tatsächlich an meiner Seite, und dieses Gefühl der Befreiung hatte ich wirklich erlebt.

      Nur einmal in meinem Leben hatte ich ein derart intensives Gefühl. Es war, als mein Vater nach einer Blinddarmoperation im Sterben lag. Ich war knapp sechs Jahre alt. Ein Freund der Familie kam zu uns nach Hause, um uns die Nachricht vom Tod meines Vaters zu überbringen. Ich lief in die erste Etage, hinaus auf den Balkon unseres Reihenhauses und vollzog Freudentänze. Ich fühlte mich unendlich frei – frei zu atmen, frei zu leben. Ich realisierte sofort, daß mein Vater nie wiederkommen und mich anrühren würde. Manchmal schämte ich mich dieser Gedanken, da ich mich über den Tod eines Menschen gefreut hatte.

      Und jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre später, erfuhr ich wieder eine so intensive Erlösung. Ich wurde von quälenden Schmerzen geheilt, durch einen Menschen, der mir etwas wiedergebracht hatte, was mir zustand.

      Aber dennoch blieben Zweifel, trotz Susannes Schwur. Es waren Worte, und zu oft hatte ich an Worte geglaubt und war enttäuscht worden. Man kann nie Gewißheit haben, aber ich hoffte, daß die Beziehung nicht zu schnell vorbei sein würde.

      Samstag, 7. Mai 1994

      Der Wecker holte mich aus einem tiefen Schlaf. Susanne hatte einem Klassenkameraden versprochen, ihn an den Strand zu begleiten. Sie hatten vor, nach Portugal zu fahren, das etwas über zwei Stunden mit dem Auto entfernt lag. Lustlos und schläfrig stand Susanne auf.

      Ich nutzte die frühe Stunde, um meine Wäsche zu waschen. Nachdem ich die Kleidung auf der Dachterrasse zum Trocknen aufgehängt hatte, ließ ich mich in einer Ecke nieder und erledigte meine Hausaufgaben. Georg lugte plötzlich um die Ecke.

      »Hallo«,