Stefan Lange

Suicide


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sie eigentlich schon viel zu spät dran war. Mit Gesten versuchte mir Susanne klarzumachen, daß ich mich gedulden sollte. Nach dem Telefonat entschuldigte sie sich für die Verspätung, rannte wie von der Tarantel gestochen nach oben, um sich umzuziehen und stand wenig später mit einer Unschuldsmiene vor mir. Wir gingen ins sopa de ganso. Andrew und Brian saßen mit anderen Schülern an einem großen Tisch. Ich stellte Susanne vor.

      Mein Interesse galt allein ihr. Während wir uns unterhielten, studierte ich ihr Gesicht und ihren Körper. Ich sinnierte über ihren Charme, dachte daran, wie es wohl wäre, wenn meine Lippen die ihren berühren würden, erst langsam, dann immer leidenschaftlicher. Die Anziehungskraft, die Susanne auf mich ausübte, war magisch. Mich schauderte und deutlich regte sich ein Widerstand in mir, aber der Sog hatte etwas Verführerisches an sich. So ein Geschöpf lief garantiert nicht alleine unter Gottes Sonne herum. Bestimmt hatte sie einen Freund. Dennoch mißfiel mir der Gedanke, daß es noch einen anderen gab, mit dem sie Gemeinsames teilte.

      »Nun, gleich wirst du mir erzählen, daß du einen Freund hast«, stellte ich irgendwann zusammenhanglos fest. Sie nickte. Verdammt!

      »Aus und vorbei, kein weiteres Interesse«, dachte ich. Obwohl ich diese Antwort erahnt hatte, traf sie mich wie ein Faustschlag. Ich überspielte meine Enttäuschung.

      »Danke, das war’s. Ich gebe dir zehntausend Minuspunkte und wir kündigen ihnen hiermit das Konto.«

      Sie lachte, ergriff meinen Oberarm und fixierte mich mit ihrem Blick auf eine Art und Weise, die bittend wirkte.

      »Dann baggere mich doch mal an!«

      Mir verschlug es fast die Sprache. Ich wußte, daß sie es ernst meinte, aber in diesen Worten lag kein Zwang. Es klang eher wie eine Einladung.

      Kurz vor Mitternacht verließen wir das Lokal und gingen schweigend die wenigen Meter zur Residenz. Was sollte ich jetzt tun? Frauen mit Freund waren eigentlich ein Tabu für mich. Schon einmal hatte ich die leidvolle Erfahrung gemacht, daß eine Frau nach einer kurzen Romanze zurück in ihre Gewohnheit gekehrt war. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Sich-Wehren rief den Gedanken in mir wach, daß das Ganze hier etwas mit einem Wagnis zu tun hatte. Ich ging wie üblich auf die Dachterrasse, um noch eine Zigarette zu rauchen. Susanne begleitete mich. Ich stammelte irgend etwas vor mich hin.

      Du Trottel! Alle Zeichen standen auf Angriff, doch ich kam mir vor wie ein Autofahrer an einer grünen Ampel, der den ersten Gang nicht reinkriegte. Ich entschuldigte mich und holte in der Küche ein Bier. Lange hielt ich die kühle Dose an meine Stirn, in der Hoffnung, daß sich meine Unruhe legen würde. Was sollte ich jetzt tun? Ach, wenn doch nur Mate hier wäre, dann könnte ich ihn fragen. Imaginär saß er in der Küche und trieb mich an: »Los ran, du Idiot! Sie will dich und du willst sie. Stefan, es ist auch dein Urlaub. Nimm sie dir, was hast du denn zu verlieren!?«

      Ich setzte mich wieder neben Susanne, und wir tranken schweigend das Bier. Der Kloß war nicht mehr nur im Hals, sondern im ganzen Körper zu spüren. Ich war wie gelähmt.

      »Du erwartest von mir, daß ich dich küsse, nicht wahr?«

      Susanne nickte und lächelte dabei. Ich beugte mich langsam vor und kam so nah vor ihr Gesicht, daß ich abwechselnd ihre Augen fixierte. Mann, sie hat doch einen Freund! Ich wartete nur darauf, daß sie plötzlich aufschreckte, sich dieser Tatsache bewußt würde und fluchtartig das Weite suchte. Susanne holte mich aus meinen zweifelnden Gedanken.

      »Was studierst du?«

      Ich sah ihr hübsches Gesicht mit dem halbgeöffneten Mund, in den ich gleich hineinzufallen drohte. Mein Puls lag schätzungsweise bei einhundertvierzig.

      Vorsichtig berührten sich unsere Lippen. Ganz weich und sanft. Leise Schauer rieselten in mir herab, so als sei ich in ein elektromagnetisches Feld geraten.

      »Haben Schweizerinnen keine Zunge?«

      »He, he, du gehst ja ganz schön ran«, hauchte sie zärtlich, als sich unsere Lippen erneut trafen. Ich schloß die Augen, um mich dem Kuß ganz hinzugeben. Ich war unendlich froh, den Sprung ins kalte Wasser gewagt zu haben, und fühlte mich wie ein Fisch in seinem Element. Es folgte eine lange Serie von Küssen, zunächst weich, dann immer fordernder und verlangender. Ich ließ meine Hände über ihren Körper gleiten, ertastete ihre üppigen Brüste und spürte ihren pochenden Herzschlag. Die Frage nach ihrem Freund vermied ich.

      Nachdem Susanne zu Bett gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf der Terrasse sitzen und blickte in den sternklaren Himmel. Noch vor zwei Tagen hätte ich nicht daran geglaubt, daß es einen Menschen gäbe, zu dem ich mich hingezogen fühlte; vielmehr dachte ich, daß ich dazu verdammt wäre, meine Bahnen so einsam wie der Mond zu ziehen. Tausende von Theorien hätte ich vom Stapel gelassen, und nun war Susanne – mir nichts, dir nichts – in mein Leben getreten.

      Anja, meine beste Freundin, hatte sich vor meiner Abreise nach Sevilla brieflich von mir verabschiedet. Sie hatte mir Glück und Erfolg gewünscht und vor allem, daß all meine Träume in Erfüllung gehen sollten. Hatte Anja geahnt, daß es ein Traum von mir war, jemanden zu finden, der mein Interesse wachrief? War es nicht genau das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte? Selig schlief ich in dieser Nacht ein.

      Mittwoch, 4. Mai 1994

      Ich stand sehr früh auf. Obwohl ich wenig geschlafen hatte, war ich hellwach. Es kam mir vor, als strömten ungeahnte Energien durch meinen Körper. Eine unbestimmte Kraft zog mich geradezu aus dem Bett.

      Selbst die Putzfrau wunderte sich, als ich bereits um viertel vor neun am Morgen fertig angezogen in der Sitzecke der Eingangshalle wartete. Langsam erwachte die Residenz zum Leben. Türen klapperten, Toilettenspülungen und Duschen rauschten.

      Kurz nach neun kam Susanne eiligen Schrittes die Treppen heruntergelaufen. Mit einem Lächeln kam Susanne auf mich zu und fiel mir in die Arme. Ich war glücklich, hatte ich doch befürchtet, sie hätte es sich nachts noch anders überlegt.

      Sonnenschein und Vogelgezwitscher begleiteten uns auf dem Schulweg. Was für ein herrlicher Tag! Irgendwie lag Musik in der Luft. An welchem Ort sonst hätte es mich erwischen können, wenn nicht in Sevilla? Ich dachte an all die Opern, die Sevilla zu ihrem Schauplatz hatten: Mozarts Hochzeit des Figaro, Beethovens Fidelio, Rossinis Barbier von Sevilla und natürlich Bizets Carmen. So nach dem Motto, die Liebe verleiht dir Flügel, damit du fliegen kannst, und manchmal endet sie auch tödlich, sinnierte ich vor mich hin.

      Dieses Kribbeln im Bauch war berauschend, als wir Hand in Hand zur Schule gingen. Ich mußte mich immer wieder von der Schwerkraft überzeugen. Ich hüpfte und tanzte. An diesem Morgen sah die Welt farbiger aus, selbst die alten Häuser wirkten nicht mehr so trostlos. Dieses Gefühl hätte ich am liebsten jubelnd allen verkündet, die mir auf dem Weg entgegenkamen.

      Selbst Juan II, so hieß der Studienleiter, der für die grammatikalische Ausbildung zuständig war und nicht mit dem Wirtschafts-Juan zu verwechseln war, bemerkte einen wundersamen Wandel in mir, so als stünde die Botschaft auf meiner Stirn geschrieben. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, so sehr ersehnte ich die Pause herbei. Brian gratulierte mir zu meinem guten Geschmack. Er quittierte meine Wahl mit einem Lob.

      Nach dem Unterricht kauften Susanne und ich Lebensmittel ein, kochten und erledigten nach dem Essen gemeinsam unsere Hausaufgaben auf der Dachterrasse. Ich konnte kaum den Blick von Susanne abwenden. Mir war fast schwindelig vor Glück.

      Donnerstag, 5. Mai 1994

      Ich lernte Renate, Susannes Klassenkameradin, kennen. Susanne brachte sie zur Residenz mit, und wir aßen gemeinsam zu Mittag. Renate hatte das dringende Bedürfnis, Anschluß zu finden. Sie schien bereits in der Pause ein Auge auf Brian geworfen zu haben, denn sie erkundigte sich wiederholt nach ihm.

      Abends gingen wir zusammen aus. Renate klebte an uns wie eine Klette. Sie fragte ständig, was wir noch vorhatten. Wir schlenderten über die Plaza del Salvador und genossen den sommerlichen Abend.

      Später spürten Susanne und ich das Verlangen, alleine zu sein. Während die anderen noch weiterzogen, gingen wir zurück zur Residenz.

      In