von seinen britischen Verwandten als Mister Willy bezeichnet. Ob seine Großmutter mit Miß Victoria angesprochen wurde, ist hingegen nicht überliefert. Das Verhältnis der Völker zu ihren Königinnen und Kaiserinnen scheint indessen zufriedenstellend gewesen zu sein. Die deutschen Märchen benutzten ja auch die zutrauliche Anrede: Frau Königin oder Herr König, während sie den pommerschen Kossäten leicht schwärmerisch als: Bäuerlein bezeichnen. Dieser lebte ungefähr so oder nur etwas darüber wie sein Schwein im Koben, wovon sich heutzutage Jedermann in einem der zahlreichen Dorfmuseen überzeugen kann, und sich schaudernd fragen darf, was die am Abend ohne Fernseher gemacht haben mögen. Nun, ganz einfach, Kinder.
Als der vorletzte Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph II. zu Grabe getragen wurde, 1916, also mitten im Kriege, was ihm das demokratische Elend der Ersten Republik wie die Bedeutungslosigkeit des Exils erspart hat, befanden sich haufenweise schwarz verschleierte Damen im Trauerzug auf dem Wiener Ring; eine schier unübersehbare Menge wandelnder Figurinen, wie die Muselmaninnen von Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt. Anscheinend handelt es sich um ein bestimmtes Zeremoniell der Hoftrauer, eine sozusagen abgeschwächte Form der Witwenverbrennung. Der Film, der jüngst entdeckt worden war und sogleich zur Konservierung von solchen, sonst flüchtigen Bildern genutzt wurde, hat uns diese merkwürdige Art höfischen Trauerns überliefert. Wichtig genug, da die Tiefenforscher menschlicher Seelen allgemein beklagen, dass wir zu wenig trauern, uns zumindest ungenügend bewusst sind, welche Schuld wir etwa als Christen, mit den neronischen Verfolgungen auf uns geladen haben, ohne an eine Entschuldigung zu denken. Mohammedaner, Buddhisten und Anhänger verschiedener Naturkulte sind besser dran. Als der Kolporteur sich vorgenommen hat, den Lebenslauf der Kaiserin Augusta von Deutschland nachzuerzählen, und diese Filmsequenz sah, fiel ihm eine höchst persönliche Antwort auf die Frage ein, was es denn noch für einen Sinn hat, die Geschichte einer Fürstin aufzuschreiben, die lieber Kaiserin als Königin sein wollte, und die eigentlich nur Klatsch und Häme hinterließ. Einst, in nun schon ziemlich grauer Vorzeit, lud der Vater dieses Bücherschreibers zu einem so genanten Familientag. Dergleichen war recht beliebt. Aus allen Himmelsrichtungen eilten die lieben Verwandten herbei, Onkeln und Tanten, Vetter und Base soundso, mehr oder minder grobe Lümmel aus den entferntesten deutschen Provinzen, lymphatische junge Mädchen, städtischen Mittelschichten erwachsen, mit jugendlich schwellendem oder ganz flachem Busen, und vor Aufregung schwitzenden Händen. Die kritischen Einlassungen seines vorlauten Sohnes wies der Vater mit der Erklärung ab, man müsse alle seine Verwandten nicht nur lieben, sondern jede Familie konzeptionell und anschauungsweise nehmen. Die kleine Base soundso, zum Exempel, werde ihrer tatkräftigen und habsüchtigen Mama einst verzweifelt ähnlich sehen. Wir haben alle nur unser Stück Tradition, in der wir solange wurzeln, bis Abstammungen belanglos geworden sind. Alle historischen Familien erinnern am Ende an Museumspräsentationen.
In der Tat aber hat am androgynen Wesen der Frauen nie auch nur der geringste Zweifel bestanden, wohl aber müssen die Männer, innerlich verzweifelt, weibliche Neigungen in sich bekämpfen, sobald sie welche aufspürten, bis sie einer Dame weinend an den energischen Busen sinken, und alles schwächliche, das Androgyne, in sich befreien dürfen. Womit sich die männlichen wie die weiblichen Bestimmungen vollendeten. Dies fiel dem Kolporteur als Ausrede ein, als er einen ersten Blick auf das Leben einer energischen, wiewohl in all ihrem Streben gescheiterten Frau geworfen hatte, und sich den Kaiser Wilhelm I. daneben dachte.
Nun, die Formen des sozialen Daseins wie der Liebe haben sich ein wenig geändert. Die Vertreter des Hochadels wurden zum neuen Glauben an die Macht der Sinnlichkeit und des Geldes bekehrt. Auffallend viele von ihnen sind Unternehmer und Berater von Unternehmern, Volkswirte bis an die Grenze der Korruption und Korrumpierbarkeit, harte Manager und Geldverdiener geworden. Die weiblichen Abkömmlinge verdingen sich sonderbarerweise zu Hauf den freiheitlichen Medien oder der Journalistik. Diese Einrichtungen, welche die öffentliche Meinung auch dort erzeugen, wo es keine gibt, sind sozusagen in die Erbfolge des literarisch-klatschsüchtigen Salon des Biedermeier eingerückt.
Kommen wir zum Schluss dieser Vorrede. Zwei der drei Kaiserinnen des Deutschen Reiches von 1871 haben in der victorianischen oder wilhelminischen Ära eine besondere und eigentümliche Rolle gespielt, wiewohl ihrer nie ausreichend gedacht worden ist. Gemeint sind Augusta und die jüngere Victoria, eine Tochter der englischen Victoria. Der Gemahlin des Kaiser Friedrich wird hier noch nicht gedacht, ihr Name sei immerhin schon eingeführt. Aber die Vita Augustas, deutscher Kaiserin, legt der Kolporteur allen auf das wärmste ans Herz, und das im vollen Ernst, die auf der Suche nach Kaiserinnen sind. Es lohnt. Eigentlich müsste hier noch von der letzten Zarin Alexandra Feodorowna die Rede sein, die Deutsche, wie sie von den Russen verächtlich genannt wurde. Die beiden erstgenannten Kaiserinnen hätten sich, davon haben wir uns an den reinen Quellen der Wissenschaft überzeugt, auch heute im gesellschaftlichen Leben behauptet; die eine hätte vielleicht ein weltweit Geld einsammelndes Hilfswerk aufgerichtet, um streunende Hunde aus einem fernen Kontinent in das Asylland Bundesrepublik zu überführen, und ihnen einen schönen Lebensabend gesichert, wie es jüngst geschehen ist. Die andere, härteren und britischeren Schlages, wäre unter Umständen als Auslandskorrespondentin bei einer Fernsehanstalt tätig geworden. Energisch und verführerisch, wären sie aus der Kühle oder Schwüle dynastischer Salons in den warmen demokratischen Mief des Television erfolgreich hinübergewechselt, hätten gelernt, im richtigen Augenblick den Wimpernschlag in die Kamera zu richten, und regelmäßig die falsche Wortsilbe zu betonen. Irgendwo muss jemand sitzen, der diese Frauen lehrt, auf dem Kunstkopf zu stehen und auf Händen zu laufen. Wie zu hören und zu lesen, sollen sich Fernsehsprecherinnen kaum der Heiratsanträge erwehren können, die ihnen von männlichen Zuschauern dringlich gemacht werden. Männlich zu sein, kann heute nur als ein tragisches Geschick bezeichnet werden. Die Urteilsfähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten allerdings sehr gelitten, und ehe jemand einer plappernden und lächelnden Einrichtung einen Antrag machte, sollte er das Bild ein- und den Ton seiner Glotze abstellen, um das Objekt seiner Begierden aus einer größeren Distanz zu studieren. Noch besser ist es, einen zweiten Apparat zuzuschalten, und einen der Werbesender hereinzuholen; hier findet er Antwort auf alle seine Fragen an das Schicksal und auf den eigentlichen Zweck des Mediums. Endlich wird ihm aufgehen, dass Waschmittel und Politik mit ein und demselben Gestus verkauft werden. Die Analogie ist dermaßen umwerfend, dass sich alle Liebes- und Ehefantasien erübrigen. Im Nachfolgenden ist von Augusta die Rede, der ersten Vertreterin eines neuen deutschen Kaisertums, das insgesamt ganze siebenundvierzig Jahre währte.
DER 9. MÄRZ 1888
Der Schwächezustand Sr. Majestät des Kaisers dauert fort. Se. Majestät nehmen ab und zu etwas Wein und flüssige Nahrung zu sich. Im Ganzen ist der Zustand ruhiger. So steht es im ärztlichen Bulletin über den Gesundheitszustand des Kaiser Wilhelm I. Der 90jährige Greis liegt auf dem Feldbett seines Schlafzimmers, eines engen, spartanisch einfach ausgestattetem Raum, im Palais Unter den Linden No. 9 und ringt mit dem Tode. Bei ihm sind seine Frau Augusta; sie, um elf Jahre jünger als der Kaiser, kann sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Bei dem sterbenden deutschen Kaiser ist die Lieblingstochter Luise, deren Mann, ein Großherzog von Baden, die Kinder Prinz und Prinzessin Wilhelm. Es fehlen: Der Sohn, Friedrich Wilhelm und die Schwiegertochter Victoria; beide sind durch den alten Kanzler darüber unterrichtet, dass ihr Vater und Schwiegervater im Sterben liegt, die sofortige Rückkehr sei notwendig, aber der Erbe und Nachfolger Wilhelms ist leidend, seine Tage sind möglicherweise gezählt. Jedermann weiß, dass er an Kehlkopfkrebs unheilbar erkrankt ist.
Der Sterbende auf dem Feldbett beginnt zu sprechen. Augusta, schwerhörig, beugt sich vor, um die Worte zu verstehen, aber ihr Mann, jetzt wirklich bloß ein Mensch, der gehen will, erzählt etwas aus weit zurückliegenden Tagen, unzusammenhängende Ermahnungen, in denen von einem drohenden Krieg die Rede, von deutsch-russischer Waffenbruderschaft, Dinge, die weit in das ausgehende Jahrhundert hinabreichen, bis in das Jahr 1805. Tochter Luise ist besorgt, dass sich der Greis zu stark erschöpfe, sie bittet leise, er möge ausruhen. Indessen sieht Augusta, dass es nicht mehr um Tage, sondern um Stunden und Minuten geht. Der Abend geht in die Nacht über, sie bleiben, die gekommen sind, um dem Sterbenden in dieser Stunde nahe zu sein. Dann kommt die letzte Krisis; der Atem geht gegen Morgen in jenes Rasseln über, das die Nähe des Todes ankündigt.