Walter K. Ludwig

Gaukler


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      „Ja, wir. Und gleichzeitig durchwühlen Tausende von Menschen Abfallkörbe, weil ihre Rente zu klein ist. Alle Nase lang verhungern Kinder, gerade hier in Hamburg, einer der reichsten Städte des Landes.“

      Wagner ist verblüfft. Solche Töne hätte er von seinem Star-Autor, den er bisher für einen oberflächlichen Hallodri, der nichts ernst nahm, gehalten hat, nicht erwartet. Wenngleich ihm der Anlass für einen derartigen Ausfall reichlich banal erscheint. Er ist alarmiert. Er tritt die Flucht nach vorne an.

      „Stefan, ganz im Vertrauen, das mit dem Kapitalismus hat sich sowieso bald erledigt. Das System ist am Ende. Seit das Wort ‚Bankräuber‘ eine völlig neue Bedeutung hat…“

      „Nee, lass‘ ma, ich setz‘ mich ab. Kasachstan soll übrigens auch sehr schön sein. Bloß fünf Menschen auf einem Quadratkilometer. Wusstest du das?“

      „Nee, wusst‘ ich nich‘…“

      „Total dünn besiedelt. Nahezu menschenleer, kann man sagen. Während wir uns hier gegenseitig auf den Füßen stehen.“

      „Komm‘, so schlimm ist es auch wieder nicht…“

      „Unerträglich!“

      „Jetzt übertreibst du aber!“

      „Obwohl Norwegen natürlich landschaftlich mehr hermacht. Berge, Fjorde…“

      „Ja, herrlich.“

      „Wunderbare Menschen.“

      „Wunderbar.“

      „Völlig entspannt.“

      „Total.“

      „Altes Wikinger-Volk. Waren früher ja ziemliche Rabauken. Ließen sich nix gefallen. Und machen auch heute noch, was sie wollen. Sind zum Beispiel nicht in der EU, die Wikinger, äh, die Norweger…“

      „Ja, ich weiß…“

      Wagner beginnt sich allmählich zu fragen, ob er sich um Limbach ernsthaft Sorgen machen muss. Wie jemand aus einem vergleichsweise nichtigen Anlass derart aus der Fassung geraten kann, kann er nicht recht nachvollziehen.

      Offenbar hatte sich bei Limbach schon über längere Zeit hinweg einiges angestaut. Ist er etwa kurz davor, durchzudrehen?

      Merkwürdige Leute, diese Autoren!

      „Okay, ich versteh‘ dich ja. War vielleicht wirklich n‘ büschn viel für dich, in letzter Zeit. Du solltest mal eine Weile richtig ausspannen. Ich unterstütze dich jedenfalls bei allem, was du vorhast. Im Grunde ist es ja egal, wo du lebst. Schreiben kannst du schließlich überall, meinetwegen auch in Norwegen, in Island oder in Timbuktu…“

      „Kasachstan!“

      „Wo auch immer. Ich bin übrigens kurz davor, mir ein Haus auf Sylt zuzulegen. 1-A-Lage. Riesengrundstück. Herrlich ruhig dort. Soll mal mein Altersruhesitz werden. Steht dir natürlich zu Verfügung, wann immer und so lange du möchtest. Dort könntest du in aller Ruhe an deinem nächsten Roman arbeiten, wenn du dich erholt hast.“

      „Ach, hatte ich das noch gar nicht erwähnt?“

      „Was denn, Stefan?“

      „Ich werde keine Zeile mehr schreiben.“

      „Was!?“

      „Nicht für dieses Deppen-Volk.“

      * * *

      Abends dann bei Nui in der Wohnung. Etwas Trost. Viel Freude.

      4. Gewalt

       4. Gewalt

       Ernesto Biedermann, Leitender Oberstaatsanwalt Dr. Theodor Meier-Streng, Peter-Heinrich Wagner, Ute, Jule und Tanja Wagner, Stefan Limbach, Vivien Hansen

      Der Oberstaatsanwalt hat fünf Jahre lang die Abteilung für jugendliche Intensivtäter geleitet. Seine knallharten Plädoyers brachten ihm bald den Ruf eines Hardliners ein. Die Plädoyers hatten selten den gewünschten Erfolg. Eigentlich fast nie. Seiner Forderung nach zwölf Jahren Freiheitsstrafe mit anschließender Abschiebung für schwere, wiederholte Körperverletzung mit Todesfolge folgte schon mal stattdessen eine Bewährungsstrafe, verbunden mit einem halbjährigen Erlebnisurlaub auf Neuseeland. Die Urteile Hamburger Gerichte waren in dieser Hinsicht berüchtigt und bundesweit einmalig. Hamburger Kuschelrichterinnen.

      Der Oberstaatsanwalt gab nicht so schnell auf. Er forderte härteres Vorgehen, strengere Gesetze, nahm kein Blatt vor den Mund. Die Medien wurden auch überregional auf ihn aufmerksam, bald galt er als „Hamburgs härtester Staatsanwalt“. Die rote Justizsenatorin war darüber not amused. Der Oberstaatsanwalt bekam einen Maulkorb verpasst und durfte sich gegenüber den Medien nicht mehr äußern. Als er zu einer Talkshow eingeladen wurde, wurde ihm der Auftritt dort strikt untersagt.

      Dann wurde die rote Senatorin von einem grünen Senator abgelöst. Und der Oberstaatsanwalt war die längste Zeit Abteilungsleiter gewesen. Er wurde in die Generalstaatsanwaltschaft weggelobt, wo er Revisionen bearbeiten durfte.

      Wenn der mal nicht irgendwann eine Partei gründet, denkt Biedermann manchmal. Er hat das Schicksal des Kollegen als warnendes Beispiel vor Augen, als er dem Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Theodor Meier-Streng, dem Chef der Hamburger Staatsanwaltschaft, in dessen Büro gegenübersitzt. Offizielles Thema: Der verpatzte Einsatz vom Wochenende. Aber Biedermann ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass das nur ein Vorwand ist.

      Ein Vorwand des Leitenden, um sich zu vergewissern, dass er, Biedermann, auf Kurs ist. Auf Linie. Und so ist das offizielle Thema auch schnell abgehakt. „Dumme Sache“, hat der Leitende noch gesagt und die Stirn dabei sorgenvoll in Falten gelegt. Biedermann hat zustimmend und mit einem Gesichtsausdruck, der außerordentliches Bedauern signalisieren sollte, genickt.

      „Na ja, Schwamm drüber, anderswo passieren noch ganz andere Pannen, nichts wahr mein lieber Biedermann, nicht wahr? Ich sach' bloß: 'das Phantom'. Nich? Hähähä!“

      Der Leitende spielt auf einen Fall an, bei dem die Polizei eines anderen Bundeslandes jahrelang mit riesigem Aufwand wegen mehrfachen Mordverdachts nach einer Frau gefahndet hat, die es gar nicht gibt. Und sich damit zum allgemeinen Gespött gemacht hat.

      „Na ja, kommt davon, wenn man sich in eine Sache verrennt, nicht nach links und rechts schaut und dabei jeden guten Rat aus dem Wind schlägt, oder, nich'?“ Der Leitende.

      Siehste, jetzt kommt's, denkt Biedermann. Erhöhte Alarmbereitschaft!

      „Das könnte bei uns doch nicht passieren, oder, mein lieber Biedermann?“

      „Ausgeschlossen! Andererseits: Errare humanum est...“ Biedermann, der Lateiner.

      „Wie? Ach so, ja, natürlich.“

      Der Tonfall des Leitenden wird eine Spur weniger jovial, nur eine winzige Nuance, doch Biedermann, hochkonzentriert und fest entschlossen, keinen Fehler zu machen, registriert sie.

      „Wir Juristen sollten doch im Zweifelsfall lieber auf unseren Verstand hören und nicht auf unseren Bauch, oder, nich? Ich verstehe ja, dass dieser, äh, Limbach...“

      Alarm, denkt Biedermann.

      „... Ihnen gehörig auf den Geist geht und Ihnen inzwischen wahrscheinlich auch auf dem Magen liegt. Ist ja auch wirklich ein perfides Machwerk...“

      Ist der Leitende jetzt Literaturkritiker, fragt sich Biedermann.

      „...das der da abgeliefert hat. Dass so was überhaupt gedruckt wird... Aber strafrechtlich ist es halt in keinster Weise relevant. Die Zeiten, in denen Bücher, die der Obrigkeit nicht in den Kram passten, verboten oder gar verbrannt wurden, sind ja gottlob vorbei, oder, nich...?“

      Arschloch, denkt Biedermann. Um das Buch geht es doch gar nicht.

      „Und was diesen Limbach als Person betrifft: Nun ja,